Distanziert. Nah

Der fremdgestellte Blick auf Geschichtliches im Kino


Essay, 2011

13 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Einleitung

Als Kind mochte ich das Knistern des Fernsehbildschirms, wenn ich ganz nah daran vorbeiging, wie dünne Haarsträhnen daran kleben blieben und es beim Loslösen derer in den Fingerspitzen kribbelte. Dabei stand ich so direkt vor dem Bild, dass es komplett verschwand, sich in kleine Punkte, schummrige Farbkleckse verwandelte und nicht mehr im Geringsten an das Programm erinnerte, welches gerade lief, aber doch auch eine Art Faszination auf mich ausübte. Lange genug, mit weit aufgesperrten Augen, vor dem Fernsehschirm stehend, zerlegt sich einem/r das Bild, zumindest an hell unterlegten Stellen, in unzählige, senkrecht verlaufende Streifen, die in Regenbogenfarben leuchten. Der Genuss dieser Entdeckung währte aber nicht mehr allzu lange, da meine Augen sich bald weigerten, diese Art des Fernsehens zu dulden.

Nun ist es keine neue Erkenntnis, nichts Überraschendes, dass ein wenig Distanz oft nottut, um klar sehen zu können. Je näher wir uns an etwas dran befinden, egal, ob es sich um Bilder, andere Objekte, Personen, Situationen oder gar das eigene Befinden handelt, desto verzerrter scheint es oft zu sein. So leicht feststellbar, wie als Kind, das zu nah vor dem Fernseher steht, ist dies aber meistens nicht, weil es sich auch nur in den seltensten Fällen um eine physische Nähe handelt, die körperlichen Schmerz verursacht. Dass etwas Abstand hilfreich sein kann, bleibt einem/r oft verschlossen – nicht zuletzt, weil das Nah-Sein, die Involviertheit, eine gewisse Einfühlung ganz automatisch da sind. Das trifft auch auf die Wahrnehmung von Filmen zu, denen zumeist ein schematisiertes Formgut zugrundeliegt, das uns durch die permanente Wiederholung von Bekanntem einlullt, hineinzieht und nur mehr ungern herauslässt.

Der Frage, wie Vertrautes so angeblickt werden kann, als hätten wir es noch nie gesehen, wie der erzählerische Mechanismus des Mediums Film zu unterbrechen möglich ist, ging Thomas Ebbrecht in seinem Vortrag „Das Unvertraute im Vertrauten. Der fremdgestellte Blick auf die Vergangenheit im Kino.“ nach, den er ihm Rahmen der Ringvorlesung „(K)ein Ende der Kunst“ gehalten hatte. Ihm gleich werde ich mich in meinem Essay entlang kritischer Ästhetiken, von Überlegungen Brechts, über Adorno und Kracauer, langsam vortasten, bis zu einem expliziten Filmbeispiel Harun Farockis, das sich mit der Shoah und der nationalsozialistischen Vergangenheit auf ungewöhnliche Art und Weise auseinandersetzt. An diesem ist mir selbst bewusst geworden, wie nötig Distanz bzw. eine völlig andere und neue Perspektive auf eine Thematik sein kann, um ihr tatsächlich nahe zu kommen.

Der konventionelle Blick im Kino

Um das fremdgestellte am Blick verstehen zu können, muss erst erörtert werden, was denn das nicht-fremde, die konventionelle Filmwahrnehmung, sein soll. Diese hängt eng mit der Beschaffenheit der Kulturindustrie zusammen.

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer definieren in der Dialektik der Aufklärung die Funktionsweise der Kulturindustrie wie folgt: „Bei allem Fortschritt der Darstellungstechnik, der Regeln und Spezialitäten, bei allem zappelnden Betrieb, bleibt das Brot, mit dem die Kulturindustrie die Menschen speist, der Stein der Stereotypie.“[1]

Wenn wir nun ins Kino gehen oder uns einen Film ausleihen, spielt das Kriterium der Neuheit, des Einzigartigen augenscheinlich eine große Rolle, welches Adorno und Horkheimer aber als hinter dem Schleier von Effekten und Tricks verstecktes Bekanntes identifizieren. Die Blockbuster, für die teils horrende Kinoeintrittspreise bezahlt werden, werfen die Filmzuschauer generell nicht aus der Spur, sondern erfüllen bis zu einem gewissen Grad deren Erwartungen, indem sie in ständiger Wiederholung auf Bekanntes rekurrieren und somit viel Identifikationspotential bieten. Doch verdanken sie ihre Anziehungskraft nicht nur der Sehnsucht des Publikums nach störungsfreien Begegnungen mit dem Vertrauten, sondern auch etwas Neuem, den special effects, von denen im Moment 3D der Erfolgsgarant zu sein scheint. Auf diese Art und Weise wird das Bekannte nicht verfremdet, es stellt sich nur als spezieller dar als es ist, was unsere zwiespältigen Bedürfnisse, einerseits nach „Normalität“, andererseits nach „Besonderem“, beide zu befriedigen scheint.

In diesem Zusammenhang drängt sich mir parallel das Bild des Urlaubs auf, der ebenso vorgibt ein Abenteuer fern ab von Alltagstrott und Normalität zu sein. Bis auf das veränderte Umfeld (geographisch, klimatisch, kulinarisch etc.), dem kurzzeitigen Unterbrechen der Gewohnheiten und Pflichten, wie einem zusammengeschrumpften Kontostand, ändert sich aber doch wenig bis gar nichts. Es herrscht der schon automatisierte Zwang vor, – weshalb schon gar nicht mehr registriert wird, dass es sich überhaupt um einen handelt – die Konvention des Fröhlich- und Locker-Seins zu wahren, sich mit allen gut zu verstehen und die Fremde zu genießen, weil es dort so schön ist (und alles schrecklich viel gekostet hat). Probleme, Sorgen, Ängste reisen mit in die Ferne und fristen dort zusammen mit ihren Wirten, wenn auch latent, die „unbeschwerten“ wie schwer verdienten Ferientage, um nach deren Ablauf wieder mit in die Heimat zurückzukehren. Nichts ändert sich, außer, dass ermöglicht wird, sich damit zu brüsten, etwas Neues, Tolles gesehen bzw. erlebt zu haben.

Die zwei Hauptmotivationen für einen Kinobesuch und Urlaub sind, erstens, vergnüglicher, leichtverdaulicher Zeitvertreib, und zweitens, nach Ablauf dessen, Gesprächsstoff. Abseits von den unumgänglichen Pflichten, sei es Schule, Studium oder Arbeit, etwas zu tun und zu sagen zu haben, das nicht allzu sehr an diese erinnert – darum geht es, bei den einen mehr, bei den anderen weniger, aber bei allen irgendwie, so meine, natürlich völlig subjektive Behauptung.

Um wieder gänzlich zu filmischen Überlegungen zurückzukehren, kann zur Position Adornos, der die Stereotypie als Erfolgsrezept der Kulturindustrie festlegte, von der das Kino ab dem 20. Jahrhundert ein besonders wichtiger Teil geworden war, zusammenfassend gesagt werden, dass er dem Film kein erkenntnistheoretisches Potential zubilligte. Er fand sein Vermögen vielmehr durch seine Form als Ware und die Einpassung in die Ökonomie der Kulturindustrie bestimmt. Für ihn war der Film einzig deren Machtinstrument, kein Medium voll eigentümlichem Potential an sich. Er erkannte zwar wie Kracauer die Möglichkeit zur Störung des Zirkels von Wiederholung und Bekanntheit, sah sie aber soweit im filmischen Medium nicht verwirklicht.[2]

Der fremdgestellte Blick im Kino

Wie der Begriff des fremdgestellten Blicks schon nahelegt, spielt das Brechtsche Konzept der Verfremdung in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: „Sein Ziel ist es, den Theaterzuschauer in die Position einer kritischen und untersuchenden Haltung gegenüber den Darstellungsvorgängen auf der Bühne zu bringen.“[3] Alles, was auf „den Brettern, die die Welt bedeuten“, und im weiteren Sinne auch im wirklichen Leben, völlig selbstverständlich zu sein scheint, soll aufgebrochen werden, bis es ganz unverständlich wird, sodass sich in Folge dessen der befreite Blick vergewissern kann, dass jenes ursprünglich Selbstverständliche nur ein augenwischerisches Konstrukt war, mit dem Ziel von tatsächlicher Erkenntnis abzuhalten.

Siegfried Kracauer interessiert als spezifisch Filmisches nicht das Schema oder die Konvention, sondern das Ephemere, Mehrdeutige. Er widerspricht mit seinem Glauben, dass der Film nicht nur, aber auch, ein konventionalisiertes Produkt der Kulturindustrie ist, sowohl denen, wie z.B. Adorno, die den Film bloß sozio-ökonomisch fassen wollen, als auch solchen, die verzweifelt ihm den Kunstanspruch anhängen wollen.[4]

Dieses Dazwischen, inmitten der Extremdiskurse, ist kennzeichnend für das Vorraumdenken Kracauers, welches sich vor den letzten Dingen bzw. Wahrheiten verortet, kein entweder-oder, nur ein Seite-an-Seite von Gegensätzen anerkennt. Dort in jenem Zwischenraum hausen laut ihm Geschichte wie auch Film, denen der fremdgestellte Blick als ein enormes Potential dienlich sein kann. Das lässt sich auf Kracauers Filmästhetik umlegen, die wissen will: „[...] wie uns Filme dabei helfen, einen Blick hinter die Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit jener Welt zu erhaschen, die wir bewohnen.“[5]

Kracauer schreibt dem Film in Zusammenhang mit der Darstellung physischer Realität eine registrierende wie auch eine enthüllende Funktion zu. Die Kamera registriert, zeichnet die Umgebung auf, bildet sie wahrheitsgetreu ab, und doch kann Vertrautes auf der Leinwand plötzlich ganz fremd wirken, etwas enthüllen, das wir so noch nicht gesehen haben. Wenn beispielsweise eine Großaufnahme uns etwas winzig Kleines nahe bringt, oder eine Totale uns plötzlich erlaubt das, was uns sonst zu überwältigen droht, wirklich zu erfassen, dann wird für die Zuschauer etwas Unbekanntes im Bekannten sichtbar und sie fangen an über das eigentlich Vertraute nachzudenken.[6]

Somit wird durch den Störeffekt, der in Folge der ungewohnten Perspektive eintritt, auch ein Erinnerungsprozess in uns angetrieben: Woher kennen wir das? Wie, in was für einer anderen Form, kennen wir es? etc. Schlussendlich ergibt sich dadurch die Möglichkeit zu einer reflektierteren Vorstellung von dem, was wir erst in dieser vermittelten Form erkennen können, zu gelangen.

Dies spielt in der Folge, im Zusammenhang mit der filmischen Darstellung von Shoah und Nationalsozialismus, eine wichtige Rolle. Dieses geschichtsträchtige Ereignis, für dessen Schrecken kaum Worte gefunden werden können, lässt sich auch durch Bilder, selbst wenn es dokumentierende Tatort- bzw. Opferbilder sind, nur schwer in seiner ganzen Dimension erfassen, aber immerhin ergibt sich so für uns die Möglichkeit dazu:

[Kracauer verdeutlicht, dass] wir wirkliche Greuel [sic!] nicht sehen und auch nicht sehen können, weil die Angst, die sie erregen, uns lähmt und blind macht; und daß wir nur dann erfahren werden, wie sie aussehen, wenn wir Bilder von Ihnen betrachten, die ihre wahre Erscheinung reproduzieren.[7]

Das Problem liegt nicht im Zeigen von Bildern selbst, sondern darin, dass deren Wirkmacht mit der Zeit abflaut, verloren geht. Immer wieder bekam und bekommt man/frau die Leichenberge oder die gerade noch lebenden Skelette in den „befreiten“ Konzentrationslagern zu sehen. Nicht, dass der Schock seine Wirkung einbüßt, nein, er ist vielmehr schon so intensiv eingeübt worden, dass er sofort eintritt, ohne überhaupt eigene Reflexionen herauszufordern. Daher ist es essentiell diese bekannten Bilder wieder fremd zu machen.

Hat Adorno den fremdgestellten Blick dem Kino allgemein schon nicht zugetraut, so wäre er bezüglich der filmischen Auseinandersetzung mit der Shoah sicher doppelt skeptisch gewesen. Doch hielt er auch Lyrik nach Auschwitz für unmöglich, nichtsdestotrotz hat ihm Nelly Sachs, ich wage dies zu behaupten, das Gegenteil bewiesen, und zwar durch ein Verfahren, das Kracauer, so mehrdeutig und unbestimmt es auch anmutet, auch für das Kino vorgeschlagen hat: „Das Kino zielt also darauf ab, den innerlich aufgewühlten Zeugen in einen bewußten Zuschauer umzuwandeln. Nichts könnte legitimer sein als sein Mangel an Hemmungen bei der Darstellung von Vorgängen, die uns außer Fassung bringen.“[8]

Dieses Zitat lasse ich nun unkommentiert als Übergang zum folgenden Filmbeispiel Harun Farockis stehen, das, dafür umso stärker von mir kommentiert, vielleicht einiges an Klarheit in Kracauers vage Aussage bringen wird.

[...]


[1] Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Adorno Gesammelte Schriften Band 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 171.

[2] Vgl. Tobias Ebbrecht: Das Unvertraute im Vertrauten. Der fremdgestellte Blick auf die Vergangenheit im Kino (Vorlesungshandout). S. 6.

[3] Bertold Brecht: Schriften zum Theater. Gesammelte Werke Band 15. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968. S. 341.

[4] Vgl. Ebbrecht: Das Unvertraute im Vertrauten. S. 12.

[5] Vgl. Ebd. S. 3.

[6] Vgl. Sigfried Krakauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. S. 71-84.

[7] Ebd. S. 395.

[8] Ebd. S. 93.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Distanziert. Nah
Untertitel
Der fremdgestellte Blick auf Geschichtliches im Kino
Hochschule
Universität Wien  (Theater-, Film- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Ring VO Kritische Theorie, Ästhetik, Gesellschaft
Note
1
Autor
Jahr
2011
Seiten
13
Katalognummer
V189759
ISBN (eBook)
9783656142034
ISBN (Buch)
9783656142164
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ästhetik, Kritische Theorie, Adorno, Horkheimer, Frankfurter Schule, Harun Farocki, Der fremdgestellte Blick, fremdgestellter Blick, Film, Filmanalyse, Das Auschwitz Album
Arbeit zitieren
BA Sandra Folie (Autor:in), 2011, Distanziert. Nah, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189759

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