Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Politischer Sonderstatus Shanghais
3 Fluchtwege und Fluchtumstände
4 Alltag im Exil
4.1 Verhältnis der jüdischen Emigranten zur Shanghaier Bevölkerung
4.2 Lebensverhältnisse nach dem Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg
5 Schlussbetrachtung
6 Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Es war verrückt, ohne einen Pfennig in ein fremdes Land zufahren, das sich obendrein im Krieg befand, und Familie, Besitz und Freunde zu verlassen“,[1]
Dennoch trat der damals 18-jährige Emest G. Heppner mit seiner Mutter im März 1939 die Überfahrt in das Exil nach Shanghai an, so wie etwa 20 000 anderejüdische Flüchtlinge. Es war eine Flucht ins Ungewisse.
Die Frage, warum gerade Shanghai als Zufluchtsort für Juden diente, hängt eng zusammen mit dem politischen Sonderstatus der Stadt. Darauf werde ich im Folgenden zunächst in gebotener Kürze eingehen. Weiterhin widme ich mich kurz den Umständen und dem Verlauf der Flucht nach Shanghai.
Der Hauptteil dieser Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Alltag deutscher und österreichischer Juden im Shanghaier Exil zwischen 1938 und 1945. Mit welchen Problemen hatten die Immigranten zu kämpfen? Unter welchen Umständen lebten die Einwanderer in Shanghai? Um diese Fragen zu beantworten, gehe ich auch darauf ein, wie sich das Verhältnis zwischen den neu eingewanderten Juden und den alteingesessenen jüdischen Gemeinden entwickelte. Erhielten die jüdischen Einwanderer Unterstützung und wie sah diese gegebenenfalls aus? Welche Probleme ergaben sich? Außerdem soll in dieser Arbeit geklärt werden, wie die Lebensumstände nach dem Eintritt derjapanischen Besatzungsmacht in den Zweiten Weltkrieg aussahen. Wie wirkte sich die Kontrolle der Stadt durch die Japaner auf den Alltag der jüdischen Flüchtlinge aus? Insbesondere werde ich hier auf die Errichtung des Ghettos im Bezirk Hongkew eingehen.
Die Quellenlage ist relativ überschaubar. Neben einigen Aufsätzen beschäftigen sich nur wenige umfangreichere wissenschaftliche Arbeiten mit dem Schicksal der jüdischen Emigranten in Shanghai. In größerer Anzahl, die in den vergangenen Jahren noch zugenommen hat, liegen jedoch autobiographische Berichte und Erzählungen von Flüchtlingen oder deren Angehörigen vor. Auch von Dritten an der Emigration nach Shanghai Beteiligten existieren Aufzeichnungen. Aus diesem Grund habe ich der Auswertung von Primärquellen in dieser Hausarbeit einen relativ großen Anteil eingeräumt. Vor allem stützen sich meine Recherchen auf die Aufzeichnungen Ernest G. Heppners, Elisabeth Buxbaums[2] und die gesammelten Aufzeichnungen in Steve Hochstadts „Shanghai Geschichten“[3].
2 Politischer Sonderstatus Shanghais
Warum ausgerechnet Shanghai? Was veranlasste mehrere tausend europäische Juden, vor den Nationalsozialisten in das so ferne Asien zu fliehen, dass auch kulturell kaum unterschiedlicher sein könnte, als die Heimat in Berlin, Warschau oder Wien? Die Antwort auf diese Frage ist eng mit den politischen und völkerrechtlichen Besonderheiten Shanghais verbunden.
Als im Laufe des Jahres 1938 die Einwanderungswelle der mitteleuropäischen Juden begann, war Shanghai bereits eine vom Handel und Finanzsektor dominierte Metropole geworden. Rund 3,5 Millionen Menschen lebten zu dieser Zeit in der Stadt, darunter Angehörige 46 unterschiedlicher Nationen.[4] Dennoch war Shanghai weitgehend chinesisch geprägt.[5] In den 1930er Jahren bestand die Stadt aus drei eigenständigen Verwaltungsbezirken, deren Wurzeln bis zum Vertrag von Nanking von 1842 zurückreichen.[6] Zu der seit 1849 bestehenden Französischen Konzession waren das International Settlement (1863) und 1927 die Chinesen-Stadt hinzugekommen.[7] Die Stadt war de facto exterritoriales Gebiet, auf dem Ausländer von der chinesischen Jurisdiktion und Verwaltung ausgenommen waren.[8] Mit der Eroberung der Stadt durch japanische Truppen im November 1937, ausgenommen der Französischen Konzession und des International Settlement, entfielen die Passkontrollen schließlich ganz.[9]
Nachdem die Zahl der Flüchtlinge im Verlauf des Jahres 1938 bedingt durch den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und die Novemberpogrome immer rascher Anstieg, war der Weg in die klassischen Fluchtländer versperrt. Großbritannien, die USA und Palästina verweigerten zumeist die Einreise.[10] Als letzte Hoffnung, der Verfolgung der Nationalsozialisten zu entkommen, blieb die Flucht in die offene Stadt Shanghai.
3 Fluchtwege und Fluchtumstände
Der überwiegende Teil der rund 18 000 mitteleuropäischen Flüchtlinge kam zwischen 1938 und 1939 über den Seeweg nach Shanghai. In den Jahren zuvor hatte nur ein verschwindend geringer Anteil der dahin geflüchteten Juden die beschwerliche Reise nach Shanghai auf sich genommen. Es war zu dieser Zeit weitgehend unbekannt, dass für die Einreise nach Shanghai kein Visum vonnöten war.[11] Überhaupt wussten nur wenige Flüchtlinge, was sie am anderen Ende der Welt, fernab der Heimat erwarten würde. Ernest G. Heppner schreibt in seinen Erinnerungen:
„Natürlich kursierten jede Menge Gerüchte in unserer Gemeinde. [...] was wir hörten, war nicht besonders ermutigend [...] und wir wussten nicht, wovon wir in Shanghai leben sollten. Als wir nach Transportmöglichkeiten fragten, warnte man uns nachdrücklich davor, den Versuch zu unternehmen. Es sei durchaus möglich, daß man uns [...] sofort zurückschickte.“[12]
Die Flucht nach Shanghai war gewissermaßen ein Lotteriespiel mit zahlreichen Unbekannten: Würde man überhaupt von Bord gehen können? Und, falls ja, würde man überhaupt in einer Stadt, die den Ruf als Sündenbabel weg hatte, zurecht kommen? Es waren quälende Fragen, die die Auswanderer beschäftigten. Vor diesem Hintergrund scheint es nachvollziehbar, dass ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung lange Zeit die Hoffnung nicht aufgab, in Deutschland bleiben zu können.[13]
Diejenigen, die die Emigration nach Shanghai wagten, um der Verfolgung der Nationalsozialisten zu entgehen, sahen sich rasch mit neuen Problemen konfrontiert. Bis zum Kriegseintritt der Italiener im Juni 1940 führte der Fluchtweg vor allem über die Häfen in Venedig, Triest und Genua.[14] Die Schiffe waren jedoch oftmals schon Monate im Voraus ausgebucht, sodass Bestechung häufig die einzige Möglichkeit war, an eines der teuren Tickets zu kommen.[15] Ohnehin war die Finanzierung der Flucht mit großen Schwierigkeiten verbunden. Shanghai wurde als „Exil der kleinen Leute“ bekannt, denn wer Geld und Einfluss hatte, flüchtete in der Regel nicht nach Shanghai.[16] Den überwiegenden Teil ihres Besitzes hatten die Flüchtlinge zurücklassen müssen. Was blieb, waren ein Koffer mit dem Allernötigsten und ein wenig Bargeld.[17]
Die vierwöchige Überfahrt nach Ostasien wird von den Emigranten sehr unterschiedlich beschrieben. Von Diebstählen und Überfüllung wird berichtet[18] und Elisabeth Buxbaum bezeichnet die Hierarchie an Bord als Zwei-Klassen-Gesellschaft, „die mit dem roten J' gebrandmarkten Reisenden und die 'anderen' [die regulären Reisenden]“.[19] Andere Berichte dagegen vermitteln den Eindruck, bei der Überfahrt handele es sich um eine Reise mit Kreuzfahrtcharakter. Landgänge[20] werden ebenso beschrieben wie reichhaltige Mahlzeiten[21], von einer „Erholungsreise“ ist die Rede.[22]
Dennoch, so unterschiedlich die Wahrnehmung der Überfahrt nach Shanghai auch gewesen sein mag, letztlich hatten die Flüchtlinge ein gemeinsames Schicksal. Es war eine Fahrt ins Ungewisse: „[...] Die Sorgen um das, was uns in Shanghai erwartete, hatten uns nicht losgelassen.“[23]
[...]
[1] Heppner, Ernest G.: „Fluchtort Shanghai. Erinnerungen 1938 - 1948“. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2001, S. 55.
[2] Buxbaum, Elisabeth: „Transit Shanghai. Ein Leben im Exil“.Wien: Edition Steinbauer, 2008.
[3] Hochstadt, Steve: „Shanghai Geschichten. Diejüdische Fluchtnach China“. Teetz: Hentrich & Hent- rich 2007.
[4] Freyeisen, Astrid: „Shanghai und die Politik des Dritten Reiches“. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2000, S. 20.
[5] [Ebd.]
[6] Haan, J.H.: „Origin and Development of the Political System in the Shanghai International Settlement", in: JournaloftheHong Kong Branch oftheRoyal Asiatic Society 22 (1982), S. 31-64.
[7] Freyeisen, Shanghai und die Politik des Dritten Reiches, S. 18.
[8] [Ebd.]
[9] [Ebd., S. 63f.]
[10] Buxbaum, Transit Shanghai, S. 13f.
[11] “Hochstadt, Shanghai Geschichten, S. 12.
[12] “Heppner, Fluchtort Shanghai, S. 53.
[13] [Ebd.]
[14] Armbrüster, Georg, u.a.:„Exil Shanghai. Facetten eines Themas“, in: Armbrüster, Georg, u.a. (Hg.), Exil Shanghai 1938-1947. Jüdisches Leben in der Emigration. Teetz: Hentrich & Hentrich 2000, S. 13.
[15] Hochstadt, S. 54. / Buxbaum, S. 14f.
[16] Armbrüster, u.a., Exil Shanghai. Facetten eines Themas, S.15.
[17] [Ebd.]
[18] Hochstadt, S. 59.
[19] Buxbaum, S. 19.
[20] Hochstadt, S. 57.
[21] Heppner, S. 58f.
[22] Hochstadt, S. 67.
[23] Heppner, S.61.