Der Arion-Mythos in der Antike und der deutschen Frühromantik


Term Paper (Advanced seminar), 2011

36 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Gliederung

1 Hinführung zum Thema

2 Die Arion-Sage in der Antike

3 Die Arion-Sage in der deutschen Frühromantik
3.1 August Wilhelm Schlegels „Arion“
3.2 Ludwig Tiecks „Arion“
3.3 „Arion“ in Novalis‘ Roman „Heinrich von Ofterdingen“

4 Zusammenfassende Schlussgedanken

5 Verwendete Literatur und Quellen

6 Anhang

1 Hinführung zum Thema

quod mare non novit, quae nescit Ariona tellus?“

Ovid deutet mit der oben stehenden rhetorischen Frage an, die in seiner Arion-Sage (Fasti, II, 79ff.) zu Beginn des dritten Distichons steht, dass die Figur des Arion größeren Teilen der antiken (gelehrten) Welt bekannt gewesen sein muss. Untrennbar mit dem legendären Sänger verbunden sind auch seine Leistungen im musischen und lyrischen Bereich sowie der Klang seiner Lyra, wenn er auf ihr spielte. Darüber hinaus knüpft sich an die Person des Arion deren wundersame Rettung vor geldgierigen Räubern durch einen Delphin, der – nach einigen Überlieferungen – zur Belohnung dafür von Jupiter in den Sternenhimmel erhoben wurde und seitdem ein eigenes Sternbild darstellt.

Arion soll im 7. und 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelebt haben und von der Insel Lesbos, genauer aus der Stadt Methymna, stammen. Eine längere Zeit soll er sich am Hofe Perianders (gestorben 585/3 v. Chr.), des korinthischen Tyrannen, aufgehalten haben. Von seinen angeblich so berühmten Texten und Liedern ist kein einziger Vers überliefert worden. Weiterhin ist aus seinem Leben nicht viel mehr bekannt als oben skizzierte Legende, deren grober Inhalt sich bei einer nahezu unüberschaubaren Anzahl[1] antiker Autoren über die Jahrhunderte hinweg immer wieder findet. In Details unterscheidet sich die Erzählung bei den einzelnen Autoren jedoch. Die Arion-Sage begegnet uns zum ersten Male bei dem „Vater der Geschichtsschreibung“ Herodot (um 490 v. Chr. bis ca. 425 v. Chr.) in seinen Historien. Danach lassen sich in der Antike noch viele weitere Autoren ausmachen, die sich ebenfalls mit dem Stoff der Sage auseinandersetzen. Die bekanntesten von ihnen seien hier kurz vorgestellt: Der Dichter Ovid (43 v. Chr. bis wohl 17 n. Chr.) behandelt in seinen Fasti die Sage unter dem Gesichtspunkt des römischen Festkalenders und will vor allem seinem Leser mitteilen, wie und warum Jupiter das Sternbild des Delphins schuf. Des Weiteren finden wir den Arion bei Hyginus, unter dessen Namen wohl im 2. Jahrhundert rund 220 Fabeln veröffentlich worden sind. Welche Person sich dahinter genau verbirgt und inwieweit Hyginus mit einem gewissen Gaius Julius Hyginus – Bibliothekar zu Zeiten des Augustus – in Verbindung zu bringen ist, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. Wichtiger als der Autor sind im Zusammenhand dieser Untersuchung auch der überlieferte Text und dessen Inhalt. Ebenfalls aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert stammt eine Version der Arion-Sage von einem gewissen Marcus Cornelius Fronto, einem Grammatiker, Anwalt und Rhetoriker (etwa 100 bis 170 n. Chr.), der auch in regem Briefwechsel mit Kaiser Marc Aurel stand.

Auch bei dem im zweiten nachchristlichen Jahrhundert lebenden und schreibenden Aulus Gellius – die genauen Lebensdaten, sogar der Geburtsort Rom sind heftig umstritten – lässt sich der Mythos in recht umfangreicher Schilderung finden. Des Weiteren verwendet der Universalgelehrte Plinius der Ältere in seinen Naturalis Historiae die Legende des lesbischen Sängers bei seiner Beschreibung der Wassertiere. Im „Gastmahl der sieben Weisen“ lässt Plutarch Gorgias die Geschichte Arions erzählen, die er unmittelbar zuvor von jenem selbst erfahren habe. Und natürlich kannte auch – wenig überraschend – Cicero Arion und geht z. B. in seinen Tusculanae Disputationes auf denselben kurz ein.

Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, die Geschichte des Arion mithilfe der verschiedenen genannten Autoren zu rekonstruieren, um nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der Darstellung des Arion-Mythos zu suchen. Anhand der gesammelten Informationen lassen im Anschluss Rückschlüsse dazu ziehen, welche Aspekte der Sage im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Erwähnung finden, welche Informationen bei verschiedenen Autoren unterschiedlich wiedergegeben werden und ob z. B. alle späteren Autoren bei Herodot „abschreiben“, d. h. ob wesentliche Details von Herodots Darstellung nicht abweichen. Möglich ist auch, dass die Vorlage der ersten Überlieferung gar nicht notwendig war, da die Legende des Arion allgemein und auch detailliert bekannt war. Zu diesen Fragen soll eine vergleichende Beschreibung der Geschichte Antworten erbringen.

Auch Autoren, Dichter und Gelehrte der nachantiken Jahrhunderte beschäftigten sich mit der sagenumwobenen Figur des Arion und deren Erlebnissen. Dabei ist besonders auffällig, dass sich vor allem die deutschen Frühromantiker der Thematik annahmen und den Stoff in eigene Dichtungen einfließen ließen. So findet man bei Ludwig Tieck, den Schlegel-Brüdern Friedrich und August Wilhelm sowie Friedrich Freiherr von Hardenberg (Novalis) Versuche, die Legende literarisch umzusetzen. Für das auffällig intensive Interesse der Frühromantiker am Arion muss es Gründe geben. Im zweiten großen Teil der Arbeit geht es folglich darum, die vier Vertreter mitsamt ihren Texten zur Arion-Sage vorzustellen, dabei zu schauen, welche Schwerpunkte sie setzen, welche Details aus den antiken Darstellungen von ihnen übernommen werden und welche nicht. Die eingehende Untersuchung der antiken Rezeptionen soll im Anschluss die Beantwortung der Frage ermöglichen, mit welchen Zielen und Intensionen für ihre eigene Epoche sich Tieck und Co. der Legende des berühmten Sängers aus Methymna annahmen.

Somit ist die Arbeit als Rezeptionsgeschichte zu lesen – von Herodot bis „Heinrich von Ofterdingen“. Sie will letztendlich aufzeigen, dass eine Beschäftigung mit antiken Mythen und deren literarische Umgestaltung einem eigenen gesellschaftlichen Umfeld entspringt und nicht losgelöst von den Umständen – z. B. jenen Ende des 18. Jahrhunderts – erfolgt.

2 Die Arion-Sage in der Antike

Die Eleganz und scheinbar unvoreingenommene Freundlichkeit von Delphinen uns Menschen gegenüber begeistern und beeindrucken nicht nur moderne Zeitgenossen (man denke nur an die Fernsehserie „Flipper“), auch in der Antike lässt sich Bewunderung für die Meeressäuger schriftlich niedergelegt finden. So gewährt Plinius der Ältere im neunten Buch seiner Naturalis Historiae dem Delphin mehrere Seiten Aufmerksamkeit und beschreibt neben dessen Verhalten und der Austragungszeit der Weibchen auch die Vorliebe der Tiere für den Menschen und für Musik: Delphinus non homini tantum amicum animal [est], verum et musicae arti, mulcetur symphoniae cantu et praecipue hydraulic sono. (IX, 24) Anschließend führt Plinius aus – und beruft sich dabei auf Schriften anderer Autoren, die einen ähnlichen Sachverhalt beschreiben -, wie zu Zeiten des Kaiser Augustus ein Schuljunge im Tausch gegen ein paar Brotkrumen über Jahre hinweg seinen Schulweg auf dem Rücken eines Delphins überwunden habe. Als der Junge unverhofft einer Krankheit erlegen sei, starb auch der Meeressäuger, wie es heißt, aus Sehnsucht (desiderio, IX, 25). Plinius zählt weitere Beispiele auf, die die einzigartige Zuneigung zwischen Mensch und Meeresbewohner illustrieren sollen. In diesem Kontext geht der Autor auch kurz auf die Geschichte Arions ein, die sich die Einwohner Tarents erzählten. Aufgrund der Vielzahl der Überlieferungen und Erzählungen hält Plinius die Legende von der wundersamen Rettung Arions für glaubhaft (ut credatur, IX, 28).

Eines sollte durch die Darstellung des Plinius deutlich geworden sein: Die Rettung des lesbischen Sängers durch einen Delphin erschien dem Universalgelehrten Plinius – zusammen mit all den anderen Nachrichten über das besondere Verhältnis zwischen Mensch und Delphin – in keiner Weise unglaubhaft. Sie stellt im Gegenteil nur eine Geschichte unter vielen dar, die zahlreichen antiken Menschen augenscheinlich bekannt gewesen sein müssen.[2] Im „Gastmahl der sieben Weisen“ von Plutarch stellen die Gesprächsteilnehmer fest, dass die soeben von Gorgias vorgetragene Geschichte über die wundersame Rettung Arions nur eine von vielen Erzählungen solcher Art sei, die bereits seit mehr als eintausend Jahren erzählt und niedergeschrieben würden.[3] Dieser Umstand darf nicht in Vergessenheit geraten, wenn wir uns im Folgenden mit der Geschichte des Arion auseinandersetzen, die dem modernen Leser wahrscheinlich zu phantastisch und märchenhaft erscheint, als dass sie ohne Einwände als wahre Begebenheit eingestuft würde. Solche Zweifel an der Authentizität der Rettung Arions scheinen in der Antike – das legt Plinius in seiner Naturgeschichte durchaus nahe – nicht sehr weit verbreitet gewesen zu sein.

Alle Überlieferungen, die für die vorliegende Arbeit zu Rate gezogen wurden, stimmen darin überein, dass Arion von der griechischen Insel Lesbos stammte. Dieser Hinweis wird nur selten ausgelassen, etwa bei Plinius (n.h.28) oder Plutarch (Conv.sept.sap.18). Letzterer lässt Gorgias den Arion bereits an seiner Kleidung erkennen, bevor der seinen Namen überhaupt genannt hatte. Wenn schon das bloße Erscheinungsbild ausreichte, den Sänger von Lesbos als diesen auch zu erkennen, dann wird erklärbar, warum Plutarch darauf verzichtete, den Herkunftsort Arions zu erwähnen. Er konnte diesen offenbar bei seiner Leser- oder Hörerschaft als bekannt voraussetzen. Manche Autoren werden bei der Herkunftsangabe noch genauer und nennen die Geburtsstadt Arions: Methymna. Dies geschieht z. B. bei Herodot (Αρίονα τόν Μηθυμναίον, Hdt.1,23) oder Gellius (XVI,19,3). Arion genoss einen unsterblichen Ruhm, weil er laut der überlieferten Texte ein begnadeter Sänger und Zitterspieler war. Auch soll er nach Herodot als erster einen Dithyrambus, also ein altgriechisches Kultlied, aus welchem sich später die Tragödie entwickelte, gedichtet haben. Auch Fronto erwähnt dies.[4] Ovid stellte sogar die rhetorische Frage, welches Land den Sänger von Lesbos nicht kennen würde (Fasti II,83). Lange Zeit hielt sich Arion am Hofe des korinthischen Tyrannen Perianders auf, dem er ein Freund war und der seine Kunstfertigkeit mehr als wertschätzte (Gellius XVI,19).

Irgendwann verließ Arion jedoch die Stadt auf der nordöstlichen Peleponnes, um die berühmten und herrlichen Länder Italien und Sizilien zu bereisen (Gellius XVI,19,5). Dass er Städte und Ortschaften auf dem italischen Festland und auf der Insel im Süden des italienischen Stiefels bereiste, kann als gesichert gelten, da beinahe alle Überlieferungen die beiden Ziele benennen. Lediglich Hyginus (2. nachchristliches Jahrhundert) verzichtet in seiner Fabel darauf, die Ziele der Schiffsreise Arions zu benennen; ebenso Plinius. Im „Gastmahl der sieben Weisen“ wird aus der Retrospektive – die Erzählung Gorgias‘ setzt ein, als Arion bereits wieder die Peloponnes erreicht hat – nur Italien angegeben: Έλεγε γάρ Αρίων ως πάλαι μέν εγνωκώς εκ τής Ιταλίας απαίρειν.

Bei Herodot, Fronto und Ovid hingegen sind als Ziele der Schiffsreise des Arion Italien und Sizilien übereinstimmend überliefert. Die große Insel an der Südspitze des italienischen Stiefels wurde in historischer Zeit nicht zum geographischen Italien gerechnet.[5] Wenn Arion auf seinen Reisen genug Reichtümer verdient habe, war die Rückkehr ins heimische Korinth geplant – so erzählen es Herodot und Fronto. Bei Ovid wird dieser Umstand dadurch angedeutet, dass Arion dann ein Schiff Richtung Heimat bestieg, als die Städte Siziliens und der ausonische Strand von dem Klang der Lyra gefangen genommen waren: „ nomen Arionium Siculas impleverat urbes // captaque erat lyricis Ausonis ora sonis;” (Fasti II,93f.) Nicht einig sind sich die Kommentare in der Deutung des fortlaufenden Geschehens bei Ovid, wo es heißt: „ inde domum repetens puppem conscendit Arion // atque ita quaesitas arte ferebat opes. “ Während Herodot und Fronto als Ausgangshafen der Rückreise nach Korinth das im südlichen Kalabrien gelegene Tarent angeben – und Hyginus sowie Plinius wiederum keinen Ort nennen –, wird das den Vers II,94 einleitende inde bei Ovid von den Kommentaren unterschiedlich interpretiert. So schreibt Hermann Peter in seiner Schulausgabe, inde, was so viel wie „von dort“ heißen kann, beziehe sich auf Ausonis ora.[6] Da sich der Begriff einer genaueren geographischen Einschränkung entzieht und Gebiete in Mittel- und Süditalien bezeichnen kann, ist es gut möglich, dass Ovid ebenfalls Tarent im Sinn gehabt und nur aus metrischen Gründen auf die Nennung der kalabrischen Hafenstadt verzichtet hat.[7] Auch Plutarch spricht in seinem „Gastmahl der sieben Weisen“ von Italien (also nicht Sizilien), welches Arion schon lange plante zu verlassen.[8] In einem zweiten Schulkommentar bietet Ernst Bernert für dieselbe Stelle eine andere Interpretation an. Seiner Ansicht nach bezieht sich inde auf das ebenfalls zuvor genannte Sizilien.[9] Der Kommentar von Franz Bömer enthält zu dieser Stelle gar keinen Eintrag, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sich für Bömer die Frage gar nicht stellte, ob sich inde nun auf das italische Festland oder Sizilien bezieht.[10] Seine Übersetzung legt nahe, dass er inde mit dem Letztgenannten – nämlich Ausonis ora – in Bezug setzt.[11] Da sich nun Bernert mit seiner Lesart gegen Herodot, Ovid, Fronto, Plutarch und andere Kommentatoren stellt, wird für die vorliegende Arbeit davon ausgegangen, dass er mit seiner Einschätzung falsch liegt und inde auf Ausonis ora rekurriert. Somit besteigt Arion in Tarent ein Schiff, um von dort aus wieder nach Hause – nach Korinth – zu segeln. Er wählte sich ein korinthisches Schiff mit einer korinthischen Besatzung (Hdt.1,24 und Gellius XVI,19,8 oder auch Fronto: „ socios navalis Corinthios […] delegit. “).

Arion hatte auf seinen Reisen nicht nur viel Ruhm erworben, sondern einen stattlichen Schatz angehäuft. Diese Reichtümer führte er nun auf dem Schiff mit sich, was bei den Matrosen Begehrlichkeiten weckte. Die Seeleute planten, sich des Goldes zu bemächtigen und den berühmten Sänger umzubringen. Nach Herodot und Gellius flehte Arion – als er die Absichten der Mannschaft verstand – um sein Leben und bot dafür den Matrosen all seine Reichtümer an. Bei der Überlieferung des Fronto bestürmte (fatigare) der Sänger seine Widersache sogar, ihm doch wenigstens das Leben nicht zu nehmen: „ eos precibus fatigat aurum omne sibi haberent, unam sibi animam sinerent. “ Ganz anders stellt Ovid die Situation dar. Erkennend, dass sein Schicksal besiegelt ist, sagte Arion ausdrücklich, dass er nicht um sein Leben betteln werde: „ mortem non deprecor “ (II,103). Auch Hyginus und Plinius schreiben nichts über einen verzweifelten Versuch Arions, wenigstens sein Leben zu retten. Möglicherweise erwähnen sie dies deshalb nicht, weil der Versuch scheiterte. „ Postquam id [der Versuch] frustra orat, aliam tamen veniam impetrat, ut in exitu vitae, quantum posset, cantaret. “ schreibt Fronto. Zumindest mit dem zweiten Teil des Fronto-Zitates stimmen wiederum weitgehend alle Überlieferungen überein. Arion bitte angesichts der Ausweglosigkeit seiner Situation darum, ein letztes Mal auf seiner Leier spielen zu dürfen. Ovid: „ sed liceat sumpta pauca referre lyra “ (II,104). Darauf wiederum ließen sich die Seeleute ein, wenn der Sänger im Anschluss selbst von Bord springen würde. Teils waren sie somit erleichtert, weil sie beim Ableben Arions nicht persönlich Hand anlegen brauchten (Herodot und Gellius), anderenteils wandelte sie auch die Lust an, dem Spiel des berühmten Zitterspieler noch einmal persönlich lauschen (auscultare, Fronto) zu können (Fronto, Herodot und Gellius). Der Unglückliche legte sich also seine Kleider an, nahm sein Instrument, stellte sich am Heck des Schiffes auf und begann zu spielen. Am Ende seines Gesanges stürzte sich Arion vom Schiff hinab in die Tiefe.

Nach Plutarch hat sich der Hinterhalt auf dem Schiff abgewandelt zugetragen. Arion hatte durch einen Tipp des Steuermannes erfahren, dass sie Matrosen in der kommenden Nacht einen Anschlag auf sein Leben ausführen würden. Daraufhin zog er seine schmuckvollen Kleider über, stellte sich im Hinterteile des Schiffes auf, begann zu singen und sprang noch mitten im Gesang von Bord (Conv.sept.sap.18C) – übrigens in Sichtweite des Peloponnes. Dass sich Arion bereits so nahe am Ziel seiner Reise befand, taucht bei keinem weiteren Autor der hier untersuchten auf.

Hier beginnt die zentrale Rolle des Delphins. Nach Ovid reitet der über Bord gesprungene lesbische Sänger auf dem Rücken eines Delphins davon, Lyra spielend, um die Meere zu besänftigen. In den Fasti endet hier die Geschichte. Ovid erklärt nicht, was mit Arion im Folgenden geschieht, sondern beschreibt lediglich in einem Distichon, dass der Delphin für seine ruhmreiche Tat von den Göttern unter den Sternen aufgenommen wurde: „ di pia facta vident: astris delphina recepit // Iuppiter et stellas iussut habere novem. “ (II,117f.).

In den Arion-Geschichten von Herodot, Gellius und Fronto taucht ebenfalls ein Delphin auf und rettet dem Künstler das Leben, indem er ihn auf seinem Rücken durch die Wogen trägt. Anders als bei Ovid hat hier die Reise auf dem Rücken des Meeressäugers allerdings ein Ziel: Tainaron (oder auch Taenarus), gelegen auf der südlichen Peloponnes im Raum Sparta. Bei Plinius (IX,28) hingegen taucht – angelockt von Arions Gesang – eine ganze Schar von Delphinen auf, die den Dichter sicher an die Küste von Tainaron befördert. Mehrere Tiere erscheinen auch bei Hyginus wie aus dem nichts, allerdings lautet der Zielort hier nicht Tainaron: „ Cum autem citharae sonus et uox eius audiretur, delphini circa nauem uenerunt, quibus ille uisis se praecipitauit, qui eum sublatum attulerunt Corinthum ad regem Pyranthum. “ Bei der Version des Hyginus bleibt Arion der Fußmarsch von Tainaron nach Korinth erspart.

Die Schilderung des Gorgias bei Plutarch setzt in dem Moment ein, als er zusammen mit anderen Zeuge der Ankunft des Arion wird. Auch er spricht von mehreren Delphinen, die den Sänger an der Küste (des Peloponnes) wohlbehalten absetzten und ihn wechselweise auf ihrem Rücken getragen hatten.

Bei Herodot, Gellius, Fronto und auch Hyginus kommt Arion daraufhin nach Korinth, berichtet dem König von seinen Erlebnissen. Periander wartet die Ankunft der Seeleute ab, die in dem festen Glauben, ihr Opfer habe den Sprung von ihrem Schiff nicht überlebt, zum Tyrannen vorgelassen werden. Gefragt nach dem Verbleib seines hoch geschätzten Sängers entgegneten die Matrosen, sie hätten ihn wohlbehalten und munter in Tarent verlassen. (Herodot und Gellius). In diesem Moment zeigt sich Arion, der die Unterhaltung im Verborgenen mit angehört hatte, den verdutzten Seeleuten, die angesichts dieser Überraschung der Lüge überführt werden können. Fronto: „ Cum haec ita <d>icerent, Arion inrupit <ip>se eodem momento <si>cut ab puppi steterat aperto veste auro intexta, cithara insigni. praedones inopinato visu consternati, cum neque quicquam postilla negare aut non credere aut deprecari ausi sunt […]." Das weitere Schicksal der gierigen Seeleute wird nirgends erläutert und bleibt ungewiss.

Es fällt auf, dass die Schilderungen Herodots und Gellius‘ sich am meisten ähneln, wenn auch die Überlieferung des Zweitgenannten etwas redundanter ist. Höchstwahrscheinlich handelt sich bei der Version des Gellius um die Übersetzung der ältesten bekannten Quelle vom Griechischen ins Lateinische.[12] Auch Frontos Arion-Sage gleicht sich in vielen Details mit denen Herodots und Gellius‘. Einen anderen Schwerpunkt setzten Ovid und Plinius, was aber der thematischen Einbettung des Mythos in ihre jeweilige Arbeit geschuldet sein mag; bei Ovid eventuell auch dem metrischen Zwang. Auch Hyginus unterscheidet sich von den anderen Autoren durch auffällig häufiges Weglassen von Details (etwa welche Länder Arion bereist hat). Die Geschichte Plutarchs schildert das Schicksal Arions teils übereinstimmend mit den anderen Versionen, teils aber stark abweichend. Hier warnt der Steuermann Arion vor dem bevorstehenden Anschlag seitens der Mannschaft und der Sänger beendet auch seinen Gesang nicht, sondern verlässt noch vor dessen Ende das Schiff durch einen beherzten Sprung.

Es ist vorstellbar, dass es mehrere mündliche Überlieferungen und Versionen der Arion-Sage gab, bevor sich Herodot entschied, die Geschichte in seine Historien aufzunehmen. Er musste somit bei Detailfragen eine Entscheidung treffen. Möglich ist auch, dass Plutarch einer anderen (mündlichen) Überlieferung folgte oder die Version Herodots sehr wohl kannte und aus inhaltlichen Gründen in seinem „Gastmahl“ nur modifizierte. Letzte Gewissheit wird es zu den meisten derartigen Fragen nicht geben. Es können nur mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen aufgestellt werden.[13]

Wichtig bleibt aber herauszustreichen: Der Mythos um den berühmten Sänger von Lesbos „lebt“ über viele Jahrhunderte hinweg in der Literatur fort. Er bettet sich in eine ganze Reihe von Geschichten und Legenden über die Beziehung zwischen Menschen und Delphinen ein und war wohl den meisten antiken (gelehrten) Menschen zumindest durch mündliche Überlieferung bekannt.

[...]


[1] Vgl. dazu den Eintrag im kleinen Pauly, Stuttgart 1964, Bd. 1, Spalte 548ff. und vor allem den Eintrag in Paulys Real-Encyclopädie der classichen Altertumswissenschaft, Bd. II, München 1895, Spalte 836-841

[2] Insofern wäre es gewiss sehr lohnenswert, die Überlieferung und Literaturgeschichte einmal nach dem Auftauchen von Delphinen und deren Beziehungen zum Menschen zu untersuchen. Dieser Ansatz soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.

[3] Vgl. Plutarch: Vermischte Schriften. Mit Anmerkungen nach der Übersetzung von Kaltwasser vollständig herausgegeben. Zweiter Band, München / Leipzig 1911, S. 147 oder Plut.Conv.sept.sap.18.

[4] Vgl. M. Cornelii Frontonis Epistulae, ed. E. Hauler / Michale P. J. van den Hout, Leipzig 1988, S. 241.

[5] Vgl. Bleicken, Jochen: Geschichte der Römischen Republik, München 62004, S.

[6] P. Ovidi Nasonis Fastorim Libri Sex. Für die Schule erklärt von Hermann Peter, zweite verbesserte Auflage, Leipzig 1879, S. 80. Nach Peter waren die Ausones möglicherweise Reste „der früheren Bevölkerung Mittelitaliens“, auch wenn deren Name in der römischen Dichtung nicht selten stellvertretend für die ganze „Einwohnerschaft Italiens oder Latiums“ Verwendung gefunden habe. Vgl. ebd., S. 36.

[7] Im Pentameter „ captaque erat lyricis Ausonis ora sonis” (II,94) lassen sich nur schwer Tarenti oder das Adjektiv Tarentina unterbringen.

[8] Plutarque. Œuvres morales. Tome II. Texte établi et traduit par Jean Defradas et al., Paris 1985, S. 230, wo es heißt: „ Έλεγε γάρ Αρίων ως πάλαι μέν εγνωκώς εκ τής Ιταλίας απαίρειν […]” Siehe auch oben.

[9] Ovidius. Auswahl aus den Metamorphosen, Fasten und Tristien. Mit einem Anhang: Fabeln des Phädrus. Erläuterungen von Ernst Bernert, Paderborn 1970, S. 52.

[10] Vgl. P. Ovidius Naso. Die Fasten. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Franz Bömer. Band II. Kommentar, Heidelberg 1958, S. 88.

[11] Dort lautet es: „Die Städte Siziliens hallten wider vom Namen des Arion, und die Küste Ausoniens war begeistert von den Klängen seiner Lyra. Um von dort heimwärts zu fahren […].“ P. Ovidius Naso. Die Fasten. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Franz Bömer. Band I. Einleitung. Text und Übersetzung, Heidelberg 1957, S. 101.

[12] Vgl. Paulys Real-Encyclopädie der classichen Altertumswissen­schaft, Bd. II, München 1895, Spalte 836-841, hier Spalte 836. Vgl. auch die recht ausführlichen Angaben bei Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig 1770, Sp. 415-418.

[13] Vgl. dazu die sehr ausführlichen Überlegungen in Paulys Real-Encyclopädie der classichen Altertumswissenschaft, Bd. II, München 1895, Spalte 836-841.

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Details

Title
Der Arion-Mythos in der Antike und der deutschen Frühromantik
College
University of Potsdam  (Institut für Klassische Philologie)
Course
Ovid: Fasti
Grade
2,0
Author
Year
2011
Pages
36
Catalog Number
V190589
ISBN (eBook)
9783656153788
File size
537 KB
Language
German
Keywords
arion-mythos, antike, frühromantik
Quote paper
Daniel Sosna (Author), 2011, Der Arion-Mythos in der Antike und der deutschen Frühromantik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190589

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