Seit der umwälzenden Ereignisse, die im Januar 2011 in Tunesien begonnen haben, und als "arabischer Frühling" weltweit Bekanntheit erlangten, erhielt die Forschung über soziale Bewegungen und Revolutionen in der Politikwissenschaft und Soziologie neuen Auftrieb. Der scheinbar plötzliche, eruptive und rasante Aufstand wurde vermehrt im Zusammenhang mit Social Medias wie Twitter und Facebook in Verbindung gebracht. Gerade in den Populärmedien etablierten sich Begriffe wie "Facebook-Revolution", um die Phänomene des arabischen Frühlings zu beschreiben. Doch welche Rolle haben Social Medias tatsächlich bei der Umwälzung des tunesischen Regimes unter Ben Ali gespielt? Innerhalb dieser Abschlussarbeit im Bachelor of Arts für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen wird untersucht, welche strukturellen, motivationalen und sozialen Ursachen hinter der sogennannten Jasminrevolution standen. Neben der Darstellung möglicher revolutionstheoretischer Erklärungsrahmen und einer ausführlichen Nachzeichnung des Falls Tunesiens, wird eine Analyse des möglichen Mobilisierungs- und Partizipationspotentials von Social Medias durchgeführt. Auf der Basis umfangreicher Quellenarbeit wird sich zeigen, dass Facebook und Twitter für die aufstrebende, von Deprivationserfahrungen geprägte Mittzwanziger-Generation eine effiziente Plattform boten, um ihre politische und ökonomische Lage zum Ausdruck zu bringen. Dies hatte einen verstärkenden Mobilisierungseffekt auf weite Regionen des Landes zur Folge, die sich gegen das "sultanistische" Regime Alis richteten.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Revolutionen in der soziologischen Forschung
2.1 Die Bedeutung sozialen Wandels in der Soziologie
2.1.1 Definition von Revolution
2.2 Revolutionstheorien
2.2.1 Marxistisch-orientierter Ansatz
2.2.2 Gruppen- und aggregationspsychologische Ansätze
2.2.3 Ideologiezentrierte Ansätze
2.2.4 System-Wert Konsensus Theorien
2.2.5 Politische Konflikttheorien
2.2.6 Strukturalistische Ansätze
2.3 Bedingungen / Grundvoraussetzungen für soziale Revolutionen
2.3.1 Konflikt zwischen Staat und Eliten
2.3.2 Konflikt zwischen Staat und breiter Bevölkerung
2.3.3 Unfähigkeit des Staates zur Repression
2.3.4 Opportunitäten
2.3.4.1 Internationaler Druck auf den Staat
2.3.4.2 Grad der Organisation und Mobilisierung von Protestgruppen
2.3.4.2.1 Koalitionsbildungen und Ideologie
2.3.4.2.2 Von der Mobilisierung zur kollektiven Handlung
2.4 Die Genese politischer Öffentlichkeit
2.4.1 Neue Dimensionen der Öffentlichkeit und Mobilisierung: Social Networks und das Web 2.0
2.4.2 Möglichkeiten und Grenzen: Social Networks und Protest
3. Die Jasminrevolution in Tunesien
3.1 Historischer Überblick: Politische und wirtschaftliche Situation des Landes vor dem arabischen Frühling
3.1.1 Die arabische Geschichte unter den Ottomanen
3.1.2 Tunesien als französische Kolonie
3.1.3 Unabhängigkeit, Herrschaft unter Habib Bourguiba
3.1.4 Die erste Jasminrevolution. Zine El Abidine Ben Alis Regime
3.1.5 Die zweite Jasminrevolution. Von der Selbstverbrennung Bouazizis zur Protestbewegung
4. Die Jasminrevolution und ihre Ursachen. Tunesien als sultanistisches Regime35
4.1 Konflikt zwischen Staat und Eliten
4.2 Der Aufstand breiter Bevölkerungsschichten
4.2.1 Ökonomische Motive
4.2.2 Politische Motive
4.4.3 Die Rolle von Ideologie
4.3 Repressionsmaßnahmen des Regimes
4.4 Internationale Beziehungen
4.5 Frage nach der Mobilisierung von Protestgruppen
4.5.1 Von Sidi Bouzid bis nach Tunis. Der Schneeballeffekt der Proteste
4.5.2 Eine Facebook-Revolution? Die Bedeutung von Social Medias in Retrospektive
4.5.2.1 Die Wikileaks-Enthüllungen
4.5.2.2 Möglichkeiten neuer Technologien
4.5.2.2.1 Politische Öffentlichkeit. Facebook als demokratischer und politischer Raum
4.5.2.3 Grenzen neuer Technologien
4.6 Jasminrevolution oder ,,-refo-lution“? Ein Ausblick
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
I.Einleitung
Im Januar 2011 kam es zu einem Ereignis mit historischem Stellenwert. Der Umbruch des automatischen Regimes im nordafrikanischen Tunesien, der unter dem Begriff der Jasminrevolution weltweit bekannt wurde, leitete eine umfassende Welle von Protesten und Revolutionsbestrebungen in der gesamten afrikanischen und arabischen Hemisphäre ein. Dies war insofern mehr als erstaunlich, als dass die meisten politischen Systeme in dieser Region seit teilweise einem halben Jahrhundert ihre stabile Position vor allem durch Repressionen und polizeiliche Unterdrückung von Oppositionsbewegungen aufrecht erhielten. Gerade Tunesien erschien für den Westen durch seinen säkularen Status, die hohe Wirtschaftskraft und nominell demokratische Strukturen als Vorzeigegarant für politische Stabilität. Plötzlich jedoch schien, wie aus dem Nirgendwo, eine Form von angestautem Protestpotential in der gesamten arabischen Welt freigesetzt zu werden, getragen vor allem durch junge Generationen, die von hoher Arbeitslosigkeit und Korruption des politischen Systems gezeichnet waren.
Die Revolution in Tunesien soll hier als Ausgangspunkt dienen, um der Frage nachzugehen, welche soziologischen und sozialstrukturellen Ursachen eigentlich dafür verantwortlich sind, dass eine Protestbewegung derartigen Ausmaßes einen solchen Antrieb erhielt. Tunesien, als erstes Land der arabischen Welt in dem ein Umbruch vom Volke aus stattfand, ist hier besonders interessant, zumal auch der Effekt von neuen sozialen Medien, etwa Facebook und Twitter, die schon in der grünen Welle im Iran 2009 präsent waren, gut untersucht werden kann. Im soziologischen Kontext handelt es sich hierbei um ein mehr als relevantes Thema. Einer der bedeutenden Gegenstände der Soziologie, die Erklärung sozialen Wandels, kann hier sehr gegenwartsbezogen dargestellt und analysiert werden und bietet einen formidablen Ausgangspunkt für weitere Forschungen.
Es soll in dieser Arbeit nicht nur vereinfacht versucht werden, alleinig die Unzufriedenheit mit dem System als motivationale unabhängige Variable für die Jasminrevolution zu konstruieren. Geklärt werden kann mit diesem Ansatz nämlich nicht, wie etwa Faktoren wie Frust oder Unzufriedenheit auf der Individualebene auf Protestaspirationen und Umbrüche auf der Makroebene aggregiert werden. Der Fokus soll daher verstärkt auf soziale Prozesse gelegt werden. Auf folgende Fragestellungen wird dezidiert eingegangen: In welcher Interdependenz stehen die relevanten Akteure untereinander, um Protestbewegungen zu induzieren? Welche sozialen Milieus waren daran beteiligt? Wie gestalten sich die Figurationen der Akteure in relevanten Protestnetzwerken? Qua welcher Mittel konnte Protest formuliert werden?
Einen großen Einfluss auf die Dynamik der Proteste haben etwa sog. Social Networks wie Twitter oder Facebook gehabt. Ich werde in dieser Arbeit die Hypothese überprüfen, dass diese Networks eine Triggerfunktion besaßen um Protestaspirationen darstellbar, transparent und für alle zugänglich zu machen. Dies könnte, so eine Vermutung, eine Form von Öffentlichkeit geschaffen haben, in der Identifikationsmöglichkeiten schichtübergreifend stattfinden und als eine Öffentlichkeit „vom Volk aus“ perzipiert werden konnten. Damit ist auch ein direkter Einfluss auf die hohe Mobilisierungsfähigkeit von Protestakteuren zu vermuten, da Verabredungen und offene Zirkel zum politischen Austausch schnell und grenzenübergreifend etablierbar waren.
Dieser Frage kann natürlich nur im Hinblick auf die soziale und politische Situation Tunesiens beantwortet werden, weshalb es auch gilt, die Sozialstruktur des Landes und die Sozialstruktur der im Protestprozess beteiligten Milieus zu untersuchen. So ließen sich auch heterogene Tendenzen in den Protestbewegungen aufschlüsseln.
Ausgangspunkt der Arbeit bilden theoretische Abfassungen zum sozialen Wandel. Es sollen verschiedene soziologische Konzepte, etwa von Theda Skocpol, Charles Tilly, Shmuel Eisenstadt u.a. vorgestellt werden, die sich unmittelbar mit Formen von Protest und Revolutionen beschäftigen undjeweils unterschiedliche Faktoren, die für Revolutionen konstitutiv sein können in ihren Ansätzen behandeln. Auf Grundlage der bekanntesten theoretischen Ausrichtungen sollen grundlegende strukturelle Bedingungen für die Wahrscheinlichkeit eines revolutionären Umbruchs deduziert werden. Anschließend leite ich theoretisch in das Konzept politischer Öffentlichkeit ein, wobei deren Ausprägung in Social Medias beleuchtet wird. Dieser theoretische erste Punkt dient als hilfreiche Basis zur Skizzierung des aktuellen Falles Tunesiens und bietet die Möglichkeit, diesen mit einigen Theoriekonzepten zu kontrastieren oder zu parallelisieren.
Im zweiten Punkt gehe ich auf das politische System Tunesiens ein, indem ich eine kurze historische Entwicklung des Landes nachzeichne und eigentümliche strukturelle Entwicklungen darstelle.
Den Hauptpunkt der Arbeit stellt die Analyse der Jasminrevolution selbst dar. Neben einem chronologischen Ablauf der Protestbewegungen thematisiere ich mögliche sozialökonomische und politische Ursachen, die zur Opposition zum politischen Systems Tunesiens geführt haben mögen und untersuche dies hinsichtlich meiner theoretisch abgeleiteten, strukturellen Bedingungen. Ferner werde ich der Prüfung meiner Hypothese nachgehen, dass Social Networks eine Triggerfunktion für Protestbewegungen übernommen haben. Dazu konzentriere ich mich auf strukturelle Eigenheiten von Facebook und Twitter im Kontext der Revolution und die Milieus/Sozialstruktur ihrer Nutzer. Mit dieser Basis will ich untersuchen, inwieweit Social Networks für die Schaffung einer Form von Öffentlichkeit und zur Erhöhung der Fähigkeit zur Mobilisierung von oppositionellen Akteuren Relevanz besaßen. Hierzu werde ich mich, aufgrund der Aktualität des Themas, vermehrt auf Journals und Presseberichte verschiedener Medien als empirische Grundlage stützen.
2. Revolutionen in der soziologischen Forschung
2.1 Die Bedeutung sozialen Wandels in der Soziologie
Die Hauptschwerpunkte der soziologischen Forschung können entlang dreier zentraler Fragen abgesteckt werden: Was ist Handeln, bzw. was bestimmt soziales Handeln, was ist soziale Ordnung und was bestimmt sozialen Wandel? (Joas/Knöbl 2004: 37). Um also soziale Phänomene adäquat zu erklären ist es notwendig, die Wechselwirkungen zwischen sozialem Handeln und der sich daraus konstituierenden Ordnung zu betrachten und zentral den historischen Wandel von Ordnungen darin einzubetten (Joas/Knöbl 2004: 37).
Innerhalb der soziologischen Forschung nimmt die Untersuchung der Veränderung sozialer Strukturen einen besonderen Platz ein. Dabei wird Wandel nicht nur deskriptiv, also in einem rein historischen Sinne betrachtet; vielmehr steht die Suche nach Gesetz- oder Regelmäßigkeiten sozialen Wandels im Vordergrund (Esser 2000: 307/308). Diese Forschungsprämisse soll jedoch nicht ein teleologisches, makrostrukturelles Verständnis von Wandel als quasi evolutionistisch ablaufender Prozess implizieren, sondern darauf hinweisen, dass Wandel in bestimmte, ähnliche oder auch völlig unterschiedliche Richtungen erfolgen kann. Der Prozess selbst aber kann möglicherweise Charakteristika aufweisen, die sich, wie sich im historischen Vergleich der Entwicklung mehrerer Länder zeigen kann, als regelmäßige Formen der sozialen Entwicklung beschreiben lassen (Esser 2000: 309). Die Ursachen für sozialen Wandel sind vielfältig und nur zu verstehen, wenn das Interdependenzverhältnis von Mikro- und Makrostrukturen berücksichtigt wird; ein zentraler Erklärungskern sind hierbei Spannungsverhältnisse bzw. Diskontinuitäten zwischen Teilsystemen, die sich bspw. in Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Klassen, Schichten oder zwischen politischem Zentrum und der Peripherie zeigen und katalytisch für sozialen Wandel wirken können (Reinhold 2000: 538).
Sozialer Wandel kann in seiner Ausprägung verschiedene Formen annehmen, etwa als Wertewandel, politische Reform, demographische und sozioökonomische Veränderungen, und durch endogene oder exogene Faktoren erfolgen (Esser 2000: 361). Einen Spezial- bzw. Extremfall sozialen Wandels stellen Revolutionen dar, die allgemein als besonders abrupte Störungen und Einbrüche innerhalb der gegebenen sozialen Ordnung beschrieben werden können und massivste Veränderungen auf Mikro- und Makroebene nach sich ziehen (Esser 2000: 361). Die historische Bandbreite von großen und kleinen Revolutionen ist facettenreich und liefert besondere Einblicke darin, wie sich soziale Ordnungen konstituieren und welche Bedingungen, politischer und sozialer Natur, notwendig sind, dass sich diese Ordnungen in diesem Ausmaß transformieren (Kimmel 1990: 2).
Analog dazu muss der Denkschritt unternommen werden, dass Wandel und Revolutionen Konfliktformen sind, die sich jedoch nur in Differenz zu einem Bild von regelhafter „normaler“ Ordnung begreifen lassen. Extreme Konflikte und Auseinandersetzungen innerhalb eines politischen Systems dienen als Indikatoren für eine „abnormale“ Politik, welche nicht in der Lage ist eine stabile und legitime Ordnung zu gewährleisten. Innerhalb einer normalen Politik konstituieren sich Grundbedingungen für aus der Verfassung legitimiertes Konflikthandeln, das von allen staatlichen Akteuren (Politik und Bevölkerung) geteilt und anerkannt ist. Durch Bruchlinien zwischen Staat und anderen Akteuren, bedingt etwa in ökonomischen Gegensätzen, gegensätzlichen politischen Ideen oder kulturellen Spannungen realisiert sich ein instabiles, konflikthaftes Staatssystem und legt so Grundsteine für exzeptionelles Handeln, wie etwa Proteste, Demonstrationen, Rebellionen und als Konsequenz möglicherweise Revolutionen (Claus Offe in Joas 2007: 508/509).
Das Verstehen sozialer Revolutionen ist folglich gleichbedeutend mit dem Verstehen sozialer Ordnungen, sowie sozialer Figurationen und somit hilfreich für eine soziologische Analyse von Gesellschaften, die eben jene Gesellschaften nicht als statische Gebilde, sondern vielmehr als dynamische, regelmäßige Prozesse von Akteuren und Strukturen im Wechselzusammenhang zu verstehen versucht (Esser 2000: 310).
2.1.1 Definition von Revolution
Der Begriff Revolution ist ein moderner Begriff, der vor allem, durch die französische Revolution geprägt, einen langfristigen Strukturwandel mittels Anwendung von gewalttätigen Unruhen und Aufständen bezeichnet, der alle Bereiche des sozialen Lebens erfasst (Koselleck 2006: 241). Verstärkt im 18. Jhd. wurde dieser Begriff geschichtsphilosophisch reinterpretiert und zeichnete sich vor allem hinsichtlich der Konzeption des gesellschaftlichen und politischen Wandels hin zu einer „besseren“ Zukunft aus, welche nach „natürlichem“ historischem Gesetz zu erfolgen habe; dies in Analogie zur Determiniertheit des Laufs der Gestirne, womit der Begriff Revolution metaphorisch überhöht wurde (Koselleck 2006: 244-248). Erst im späteren Verlauf wurde der geschichtsdeterministische Grundgedanke der Revolution wieder verworfen und gemäß der Einordnung in historische Umstände hin etwas entmystifiziert (Koselleck 2006: 251). Innerhalb des soziologischen Duktus gibt es unterschiedliche Definitionen von Revolution. Revolutionen können, abhängig von ihrer Definition, typologisch unterteilt werden. Ausprägungen, laut Goldstone, wären etwa:
-Große Revolutionen, die alle ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen umwälzen (wie in Frankreich)
-rein politische Revolutionen, die nur durch eine bestimmte politische Klasse erfolgen und alleinig die Umwälzung des politischen System nach sich ziehen
-soziale Revolutionen, deren Hauptakteure autonome, subordinierte Klassen, also Bauern, Arbeiter, aber auch Studenten, sind
-Revolutionen von Eliten
-Failed Revolutions (Goldstone 2001: 143).
Empirisch zeigt sich jedoch, dass die Trennlinien, vor allem im Falle der Revolutionen des arabischen Frühlings 2011, tatsächlich äußerst unscharf sind.
Nach Samuel Huntington und Wladimir Lenin zeichnen sich Revolutionen, im Sinne einer sozialen Revolution, durch eine schnelle Transformation sozialer und politischer Institutionen aus, die durch das kollektive Handeln unterer Klassen, bspw. Arbeiter oder Bauern, erfolge (Skocpol 1976: 175).
Im einer politisch-zentrierten Defintion betont Arjomand dagegen den Kollaps der bestehenden politischen Ordnung und deren Ersetzung durch eine Alternativordnung (Arjomand 1986: 383). Shmuel Eisenstadt, als Vertreter eines ideologiezentrierten Ansatzes, spricht zwar ebenfalls von einem radikalen Wechsel des politischen Regimes und dessen Ersetzung, unterstreicht hier allerdings noch stärker die damit einhergehenden Veränderungen bezüglich der Politik und der Legitimation von Ordnung. Der revolutionäre Akt selbst wird von ihm als ideologisch gerechtfertigte Gewalt beschrieben, der, vor allem in den großen Revolutionen, wie etwa in Frankreich, mit einem Fortschritts- und Aufklärungsgedanken verbunden war (Eisenstadt 2006: 21-22).
Kimmel zieht Zagorins Definition heran. Danach meint Revolution den Versuch der Transformation einer bestimmten Regierung oder eines Regimes durch oppositionelle, untergeordnete Gruppierungen unabhängig von vergangenheits- oder zukunftsbezogenen Idealen, womit auch hier der Fokus stärker auf politische Aspirationen, denn auf ideologische Faktoren gerückt wird (Kimmel 2006: 6).
Eine nützliche Erweiterung kommt von Jack Goldstone, in der er Revolution als Umwälzungsversuch zugunsten der Errichtung einer neuen und als gerecht perzipierten Ordnung sieht, dies mithilfe formeller oder informeller Massenmobilisierung und nichtinstitutionalisierer Aktionen wie Protest, Streik oder Gewalt (Goldstone 2001: 142). Wenn von Revolutionen die Rede ist, so muss dieser Begriff auch scharf von anderen Protestbewegungen wie etwa Rebellionen abgetrennt werden. Hannah Arendt etwa spricht im Falle einer Revolution über die Fundierung von Freiheit durch Kollektivhandeln, und separiert dies somit von Rebellionen, in denen einzig der Liberationsgedanke der oppositionellen Bewegung als Hauptmotor fungiere (Kimmel 2006: 9).
Im Hinblick auf den arabischen Frühling ist es jedoch von Notwendigkeit, die bisherigen Revolutionsdefinitionen, auf Basis von Goldstone, zu erweitern. Betont werden muss, dass viele Revolutionen, wie die samtene Revolution in Tschechien oder der DDR 1989 gewaltfrei abliefen. Somit ist der Gebrauch von Gewalt, zur Umwälzung eines bestehenden Systems nicht maßgeblich, um es als Revolution bezeichnen zu können.
Aus diesen Überlegungen lassen sich folgende Kriterien destillieren, die Revolutionen, auszeichnen:
- Die Transformation bestehender Ordnung bzw. deren Versuch, die schnell und abrupt erfolgt und partielle oder auch alle Bereiche (sozial, politisch, gesellschaftlich) erfasst •Damit verknüpft der Versuch der Einrichtung eines neuen, alternativen und als gerecht empfundenen Regierungsapparatus der Opposition bzw. des Volkes
- Bestrebungen der Umwälzung erfolgen vornehmlich durch untergeordnete, deprivierte Klassen bzw. Oppositionsgruppierungen
- Mittel zur Umwälzung reichen von konfliktlos bis konflikthaft, im Falle Tunesiens war es sogar eine hauptsächlich gewaltfreie Revolution
Wobei für die Analyse erachtenswert ist, dass Revolutionen an sich als eigenkomplexe und distinkte Untersuchungseinheiten wahrgenommen werden müssen, um sie nicht zu einer Art Randphänomen sozialer Ordnung zu degradieren (Skocpol 1976: 177).
Um ein theoretisches Vorgehen für die soziologische Erforschung von Revolution zu erleichtern, bemüht Kimmel die Ausgestaltung von Fragen, die im Zusammenhang mit Erklärungsansätzen für Revolutionen gestellt werden sollten: (1) Was sind Revolutionen? (2) Was ändert sich während einer Revolution? (3) Was verursacht Revolutionen? (4) Warum partizipieren Menschen in Revolutionen? (5) Was sind Konsequenzen oder Outcomes von Revolutionen (Kimmei 2006: 3)? So erfordert (1) eine strenge Definition, was Revolutionen sind und was sie eben nicht sind, was bereits in diesem Kapitel geschehen ist. Punkt (2) kann Fragen im lokalen oder transnationalen Kontext des Staates stellen, die eine Revolution wahrscheinlich machen können. In Punkt (3) wird nach Ursachen gefragt: unterschieden werden sollte hierbei zwischen langfristigen und kurzfristigen Bedingungen und den Auslösern für Revolutionen, Trigger genannt. Damit verknüpft ist auch die Frage nach (4) Motivationen und kollektivsoziologischen Ansätzen, um zu verstehen wieso Akteure sich überhaupt an Protesten beteiligen. Die Trennung von Revolution und Outcome (5) ist als analytischer Schritt wichtig, da diese nicht gleichbedeutend sind und bestimmte revolutionäre Aspirationen ggf. völlig gegensätzliche Folgen haben können (Kimmel 2006: 4-12).
Diese Fragen sollen hier nur als grober Leitfaden dienen um im Folgenden einige der zentralsten Revolutionstheorien zu skizzieren.
2.2 Revolutionstheorien
Die Theorielandschaft zur Untersuchung sozialer Bewegungen und Revolutionen ist nicht nur umfangreich, sondern auch vielfältig und kann daher in ihrer Gänze unmöglich in dieser Arbeit erfasst werden. Einen Grundstein hierbei stellen komparative Gesellschaftsanalysen dar, also Vergleiche von Revolutionen in verschiedenen Ländern und/oder Epochen. Im Vergleich ist es möglich, Muster von Revolutionen herauszubilden und diese an verschiedenen Theorien abzugleichen bzw. daraus bestimmte Theorien zu entwickeln (Goldstone 2003: 46). Hierbei lassen sich einige zentrale Theorierichtungen aufzeigen, die ich im Folgenden vorstellen werde.
2.2.1 Marxistisch-orientierter Ansatz
Karl Marx, als Beobachter der einsetzenden Industrialisierung seiner Zeit, betonte einen sich langsam entwickelnden Klassenantagonismus zwischen der Klasse der Proletarier und der Klasse der Bourgeoisie, der vor allem in der ungleichmäßigen Verteilung von Produktionsmitteln begründet lag (Willems 1997: 20). Der Klassenantagonismus formierte sich demnach hauptsächlich darin, dass der Kapitalist, oder Bourgeois, einen Besitzvorteil von bspw. Maschinen, Nutzflächen o.ä. gegenüber dem Proletarier hat, während dieser nur seine Arbeitskraft als Warenform an den Kapitalisten veräußern kann (Willems 1997: ebd, Tilly 1978: 13). Aus dieser sich verschärfenden Ungleichheit und Kluft zwischen den Klassen postuliert Marx, dass sich ein Klassenkonflikt anbahnt und dieser, historisch-deterministisch, in der Umwälzung der bestehenden Ordnung zugunsten der Proletarier, im sog. Klassenkampf, kulminiere und schlussendlich eine neue, dem Kapitalismus entgegengesetzte Ordnung, nämlich den Sozialismus bzw. Kommunismus, zur Folge habe (Skocpol 1994: 114). Im Kern der marx'schen Theorie werden revolutionäre Prozesse als abhängig von sozialstrukturellen Bedingungen und den sie hervorbringenden Widersprüchen verstanden und erklärt (Skocpol 1994: ebd). Aspekte von gruppenpsychologischen Anreizen werden dagegen vernachlässigt. Einzig die Betonung, dass das Proletariat innerhalb der gemeinsamen Klassenlage ein Klassenbewusstsein, also als Klasse für sich, mit gemeinsamen Interessen, Zielen und Forderungen, entwickelt, schließt Klassen als kollektive und handelnde Akteure in die revolutionstheoretischen Annahmen mit ein (Tilly 1978: 14/15). Hauptsächlich jedoch ist die proletarische Revolution hier ein automatischer, endogener, historischer Prozess, der gesetzmäßig abläuft um die inneren strukturellen Widersprüche des Kapitalismus zu überwinden (Willems 1997: 20, Esser 2000: 379/380).
Der marxistische Ansatz als historische Erklärung von Revolutionen musste dabei längst der empirischen Wirklichkeit weichen; die proletarische Revolution ist eben nicht global eingetreten. Gleichzeitig ist das marx'sche Klassenkonzept, das zwischen zwei ökonomischen Besitzklassen unterscheidet, nicht geeignet um der komplexen Machtsemantik in modernen Gesellschaften Genüge zu tun, vielmehr sind hier auch politische, militärische oder andere soziale Klassen von Bedeutung. Auch die Rolle des Staates und Fragen der Mobilisierungsfähigkeit einer möglichst homogenen proletarischen Klasse bleiben bei Marx unausgeleuchtet (Skocpol 1994: 115-116, Esser 2000: 378).
2.2.2 Gruppen- und aggregationspsychologische Ansätze
Ausgeblendet bei Marx war auch die Frage nach dem Mechanismus der kollektives Handeln von Individuen antreibt oder beschleunigt. Marx spricht lediglich von der gemeinsamen Klassenlage, die Akteure teilen und diese so ihrer Lage bewusst werden lässt. Der soziologische Handlungsaspekt, wieso Akteure sich daraus tatsächlich zusammenschließen und revoltieren bleibt aber eher unausgeleuchtet. John Stuart Mill, einer der bedeutendsten Vertreter des Utilitarismus, erklärt Handeln aus einer Interessenskalkulation heraus. Akteure wägen ihre Handlungen also nach größtmöglichem Nutzen ab. Wenn die Möglichkeit besteht, schließen Klassen sich zusammen und handeln aus kollektivem Interesse heraus (Tilly 1978: 24). Laut Max Webers Verständnis sind soziale Bewegungen vor allem an geteilte Ziele und Handlungsnormen gebunden, wobei eine charismatische Autorität die Bereitschaft zur aktiven Teilhabe erhöhen kann. Oppositionelle Kräfte agieren dabei stark unter dem Erleben der Legitimation ihrer eigenen Werte und Weltanschauungen (Tilly 1978: 37-40). Wie am Beispiel der iranischen Revolution 1978/79 zu sehen, können religiöse Werte und Autoritäten, etwa der Klerus als religiöser Führer, einen massiven Einfluss auf die Selbstlegitimation von Kollektivhandlungen haben (Parsa 1989: 8-10).
Den wohl wichtigsten gruppenpsychologischen Ansatz stellt die Deprivationstheorie von Ted Robert Gurr dar. Gurr argumentiert auf Basis einer Frustrations-Aggressions-Hypothese: als frustrierend erlebte Zustände können in aggressives (Kollektiv)handeln umschlagen, wobei Revolutionsbestrebungen demnach eine bestimmte Ausprägung von Aggression darstellt und vor allem Destruktion statt Transformation zum Ziel hat (Skocpol 1994: 100ff). Das Erleben relativer Deprivation, also der verhältnismäßigen Benachteiligung, dient hierbei als Triggereffekt für Frustrationen. Bspw. können Verbesserungen der sozialökonomischen Lage, wie bessere Bildung, eine gewisse Erwartungshaltung in großen Teilen der Bevölkerung, aber auch in Eliten, induzieren und auch, wie im Falle der iranischen Revolution, eine neue bürgerliche Mittelklasse entstehen lassen, die bspw. weitere Verbesserungen und politische Partizipation von der Regierung einfordert (Parsa 1989: 3-4). Es tritt also eine relative Verbesserung der Situation zur vorherigen Lage der Bevölkerung ein. Werden diese neuen Erwartungen jedoch nicht befriedigt, oder zeigen sich danach sogar Verschlechterungen, etwa ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit durch Bildungsexpansion, entsteht Frustration, die sich in kollektiven Aktionen gegen die Regierung niederschlagen kann (Eisenstadt 2006: 43, Parsa 1989: 4, Skocpol 1994: 100-104). Die relative Deprivationstheorie erklärt kollektives Handeln also unter anderem aus einer starken Diskrepanz zwischen neugewonnenen individuellen Erwartungen und deren tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten heraus (Willems 1997: 23-24). Fraglich ist in dieser Theorie jedoch, gegen wen sich diese kollektiven Aktionen tatsächlich richten. Ist der Staat bzw. die Regierung der wahrgenommene Gegner oder andere soziale Gruppierungen? (Parsa 1989: 5). Dies schließt gleichzeitig mit ein, dass die Konstruierung homogener und zielgerichteter Kollektivakteure auf Grundlage psychologischer Dispositionen sich aggregationsanalytisch als äußerst problematisch erweist; hierbei muss unter anderem die empirische Validität von relativer Deprivation als Prädiktor für politisches Handeln in Frage gestellt werden (Skocpol 1994: 103/104). Auch das Erleben von relativer Deprivation ist nicht vollständig geklärt. Herbert Blumer weist unter anderem daraufhin, dass bspw. der von ehemaligen, traditionalen Landarbeiten wahrgenommene Grad der Industrialisierung im 19. -20. Jhd. jeweils unterschiedlich interpretiert wurde und möglicherweise eher zum Erdulden oder zur Schaffung neuer sozialer Arrangierungsmöglichkeiten habe führen können (Blumer 1960: 8-10ff).
2.2.3 Ideologiezentrierte Ansätze
Verbunden mit kollektiven, sozialen Bewegungen wird innerhalb der Revolutionssoziologie die Bedeutsamkeit von ideologischen Faktoren diskutiert. Als Musterbeispiel hierfür dient die französische Revolution, in der die utopische Vision einer aufgeklärten und humanistischen Gesellschaft stark zum Tragen kam (Eisenstadt 2006: 22). Shmuel Eisenstadt, der sich in seinem Versuch der Genese der Moderne stark mit den drei großen Revolutionen in Frankreich, England und den USA befasste, argumentiert, dass die Formulierung utopistischer Weltvorstellungen danach, wie die ontologische Beschaffenheit der Welt zu sein habe, sich aus einem ähnlichen historischen Rahmen heraus entwickelte (Eisenstadt 2006: 14ff). In der sogenannten Achsenzeit von 1000-500 v. Chr. etablierte sich im Denken der westlichen Zivilisationen eine wahrgenommene Spannung zwischen der immanenten, also weltlichen und der transzendenten, außerweltlichen Sphäre; daraus resultieren neue Wahrnehmungen im Hinblick auf die diesseitige Welt, die als mangelhaft und verbesserungswürdig galt. Der gesellschaftliche Strukturwandel und die Freisetzung intellektueller Ressourcen ermöglichten das Aufkeimen von politischen und kulturellen Eliten, die, auf Bezugnahme utopischer, transzendenter Ideen, Konzepte der Weltverbesserung und des idealen Staates in den gesellschaftlichen Diskurs integrierten (Eisenstadt 2006: 15, 54-57). Spannungen zwischen dem gesellschaftlichem Zentrum, also Herrscher und Elite, und der Peripherie, gemeint ist die weitflächige, zivile Bevölkerung, fanden ein ideologisches Fundament. Der Herrscher wurde etwa nicht mehr als gottgegeben angenommen. Stattdessen wurde seitens des Volkes eine Legitimationspflicht, wie etwa in vielen islamischen Ländern, des Souveräns eingefordert. Nicht erfüllte Erwartungen, zogen oftmals Protest nach sich (Eisenstadt 2006: 57, 96ff).
Revolutionen, in Abgrenzung zu Demonstrationen, sind für Eisenstadt immer ideologisch unterfüttert; zum einen mit der Idee der Zerstörung der alten Ordnung, zum Anderem mit dem Versuch der Schaffung kultureller und politischer Programme auf Basis universalistischer und moderner Ideologien, die oftmals auch nationalistische Prägungen aufweisen (eisenstadt antinomien: 44-49). Gerade in den großen Revolutionen sieht Eisenstadt ähnliche ideologische und strukturelle Grundzüge, wie die Verstrickung kultureller, religiöser und aristokratischer Eliten im Revolutionsprozess und auch die Neuformulierung von Legitimationsansprüchen von der Peripherie an das Zentrum, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit oder Freiheit fußten (Eisenstadt 1998: 57-65ff).
Auch in modernen Revolutionen, wie etwa der russischen oder chinesischen Revolution, sprechen ideologiezentrierte Theorieansätze der kollektiv geteilten utopischen Wertorientierung besondere Bedeutung zu. So können Ideologien etwa als eine teleologische Ausformulierung der Revolutionsbewegung dienen und den Outcome von Revolutionen maßgeblich bestimmen, oder auch der Bewegung selbst Stabilität verleihen, indem Orientierungsprinzipien geschaffen werden, an denen die kollektiven Akteure sich ausrichten können (Arjomand 1986: 398). Dies ist auch durch die bewusste Konstruktion von Anticharakteren möglich, bspw. der durch die russischen Bolschewikii vermittelte Feind des „Faschisten“ und „Kapitalisten“, oder durch die wiederaufgenommene Bezugnahme auf traditionale Werte, auf die sich die Opposition im Zuge einer Konstruktion verlorengegangener „besserer“ Werte zurückbesinnt (Arjomand 1986: 405414). Dabei könne bspw. der charismatische, ideologische Führer mit weitflächiger, revolutionärer Agenda vielleicht eher in der Lage sein, ein massiv umwälzendes Potenzial innerhalb der sozialen Bewegung freizusetzen, anstatt auf eher langsame Reformen zurückzugreifen die innerhalb des bestehenden Staatsapparates durchgesetzt würden (Parsa 2000: 24/25).
Sewell schließlich sieht in dem ideologiezentrierten Ansatz innerhalb der Revolutionstheorie einen Basisbaustein zum Verständnis sozialer Transformationen. Ideologie ist nicht nur als Ursache und Outcome von Bedeutung, sondern konstituiert gleichsam soziale Ordnung, indem sie transpersonal, also nicht akteurszentriert und nonvoluntaristisch, gedacht wird (Sewell 1985: 60/61-84).
Kritisch im Ansatz zu sehen ist, dass Ideologie ein eher schwacher Prädiktor für Revolutionen ist (Sewell 1985: 59). Theda Skocpol sah Lücken im ideologiezentrierten Konzept und hat darauf hingewiesen, dass revolutionäre Outcomes stark kontingent sind und oftmals unintendierte Handlungsfolgen darstellen. Auch gebe es nicht nur eine einzige homogene Ideologie, sondern vielmehr viele kulturelle Idiome, die nebeneinander und gegeneinander existierten und somit das Konzept eines reinen, durch Ideologie induzierten, Impetus, der soziale Transformationen verursache, in Frage stellen würde (Skocpol 1985: 87-95).
2.2.4 System-Wert Konsensus Theorien
In Anlehnung an Talcott Parsons Ansatz, dass soziale Ordnung mit der Identifikation und Befolgung von Normen und Werten durch Akteure aufrechterhalten wird, beschreiben SystemWert-Konsensus Theorien Revolutionen als Formen bzw. Konsequenzen von Systemkrisen. Namentlicher Vertreter dieser Richtung ist der Politologe Chalmers Johnson. Grundlegender Ansatz dahinter ist es, dass Gesellschaften, also soziale Ordnungen bzw. Systeme, sich durch ein gegebenes Set von Normen und Wertvorstellungen auszeichnen, das Akteure internalisieren, legitimieren und sich somit voluntaristisch, also freiwillig, innerhalb dieser Normen bewegen. In diesem Zustand wäre eine Gesellschaft als krisenlos zu bezeichnen, da zwischen den dominaten Wervorstellungen und der persönlichen Orientierung der Individuen Deckungsgleichheit oder auchKonsensusherrscht(Skocpol 1994: 104ff).
Systemkrisen äußern sich wiederum nun in einem Auftreten neuer, alternativer Werte bzw. Ideologien. Die konventionellen und alten Werte der Gesellschaft verlieren an Bedeutung, was Ablehnung bzw. Nivellierung dieser durch die breite Bevölkerung und Öffentlichkeit zur Folge haben kann (Skocpol 1994:105/106). Der Motor von revolutionären Bewegungen ist dieser Theorie zur Folge eine, mit dem Auftreten neuer, alternativer Werte verbundene Desynchronisierung zwischen alten gesellschaftlichen Werten und neuer alternativer Ideologien. Jene Bewegungen können endogene oder exogene Ursprünge besitzen. Staatliche Maßnahmen gegen diesen Wertedissens können sich bspw. in Adaptionsmechanismen niederschlagen, in denen versucht wird, die neuen Forderungen und alternativen Wertkonzepte in das bestehende gesellschaftliche System offiziell einzugliedern. Auszugehen sei jedoch davon, dass diese Maßnahmen nur kurzfristig Stabilität herstellen können und der Dissens sich bald in revolutionärer Umwälzung niederschlage (Skocpol 1994: 107/108). Auch an diesem Theorieansatz lässt sich die Kritik formulieren, dass Ideologien als einziger Erklärungsansatz für Revolutionen unzureichend sind, und gleichzeitig Ideologien oftmals nur partikulare Teilnehmer der Gesellschaft erfassen, wobei nicht immer geklärt ist, ob tatsächlich auch alle Ideologien einen radikalen, systemischen Wertewandel propagieren (Skocpol 1994: 108).
2.2.5 Politische Konflikttheorien
Während die bisher vorgestellten Theorien Revolutionen über Deprivationsempfinden oder Entstehung neuer ideologischer Zugänge zu erklären versuchen, legen politische Konflikttheorien, deren Hauptvertreter Charles Tilly ist, ihren Fokus auf die Erklärung, wie sich politische Akteure mobilisieren, organisieren und in einen politischen Konflikt mit anderen Gruppen eintreten. Nach Tilly lassen sich Proteste und Revolutionen als ein spezieller Fall regelmäßig auftretender Konflikte konkurrierender, politisch-orientierter Opponenten beschreiben, zu denen auch Konflikte zwischen verschiedenen, heterogenen politischen Dissidenten und Regierungen gezählt werden (Kimmel 1990: 209, Skocpol 1994: 108ff). Der politische Kampf an sich sei hierbei ein universales Prinzip der Aushandlung und Tarierung verschiedener Gruppen um ihre jeweiligen Interessen (Eisenstadt 1998: 27). Damit geht das Konzept der multiplen Souveränitäten einher. Sowohl Staat als auch gegenläufige politische Bewegungen sind bestrebt, die Durchsetzung ihre Interessen zu realisieren und somit einen Souveränitätsstatus ihrerjeweiligen Gruppe innerhalb der Gesellschaft möglich zu machen. Aus der Forderung dieser Souveränitätsansprüche entstehen Konfliktlinien zwischen den politischen Akteuren (Skocpol 1994: 108-110, Tilly 1978: 200, Spohn in Käsler 2005: 202). Souveränitätsansprüche können sich bspw. in dem Auftreten neuer politischer Mitstreiter, wie Gewerkschaften oder Mittelklassen, zeigen, die neue exklusive Ansprüche an die Regierung stellen. Ähnlich wie in Theorien der relativen Deprivation kann es passieren, dass die neuen Erwartungen durch die bestehende Regierung nicht befriedigt werden, was zu einer Emergenz aus Unzufriedenheit, Wertekonflikt, Frustration und Deprivation führt, die sich in den Souveränitätsbestrebungen einer alternativen politischen Gruppe niederschlagen (Tilly 1978: 198, 200-201). Wenn der Protest sich zentriert gegen den Staat wendet, da dieser als das wesentliche hemmende Element wahrgenommen wird, kann dies in massiven Konflikten kulminieren, die unter Umständen revolutionäre Konturen annehmen können (Tilly 1978: 192, Eisenstadt 1998: 50).
Der politische Konflikt zwischen multiplen Souveränitäten ist damit als Ausgangspunkt der Charakterisierung von Revolutionen zu verstehen. Dennoch stellt sich die Frage, wie die Akteure jeweils in der Lage, sind sich zu mobilisieren und einen gewissen Grad an Organisation zu gewährleisten (Kimmel 1990: 206-207). Tilly macht deutlich, dass Unzufriedenheit und Frustration als einzige Erklärungsfaktoren nicht ausreichend sind und somit in der Analyse schwerlich von homogenen politischen Akteuren ausgegangen werden kann (Goldstone 2003: 60). Gruppen, die entgegen der Regierung eine eigene Ideologie und politische Interessen vertreten und durchsetzen wollen, sind gezwungen, Koalitionen mit anderen politischen oder unpolitischen Gruppen zu bilden. Andere Gruppen können vielleicht völlig differente politische Vorstellungen haben, möglicherweise jedoch in dem Punkt konvergieren, dass die bestehende Regierung als mangelhaft und damit absetzungswürdig perzipiert wird. Koalitionszusammenschlüsse erfolgen aufgrund weitflächig geteilter, aber eben nur temporärer Interessen (Goldstone 2003: 60, Skocpol 1994: 108-110). Nicht so sehr der Systemzusammenbruch, sondern die Schaffung eines gemeinsamen organisatorischen und ideologischen Rahmens zum Zwecke der Kommunikation und damit die Mobilisierung weitflächiger und heterogener Akteure, steht als erklärende Variable für Revolutionsbewegungen im Vordergrund (Eisenstadt 2006: 28, Spohn in Käsler 2005: 203, Kimmel 1990: 213). Damit einher geht auch das Defizit des Staates den Forderungen der Opposition nachzukommen bzw. geeignete Mittel der Repression anzuwenden (Kimmel 1990: 213). Tilly konzentriert die Analyse folglich stark auf die Konfliktlinien zwischen multiplen Akteuren, die Souveränität beanspruchen, und fragt eben, wieso diese sich mobilisieren können. Dieser Aspekt wird durch Möglichkeiten der Koalitionsbildungen zwischen den jeweils heterogenen Regierungsgegnern erklärt.
2.2.6 Strukturalistische Ansätze
In der strukturalistischen Perspektive verlagert sich die Analyse von politischen Akteuren, die im Einzelnen oder kollektiv versuchen ihre Souveränitätsansprüche durchzusetzen, hin zu gesellschaftsstrukturellen Bedingungen endogener und exogener Natur, die überhaupt erst das Auftreten revolutionärer Aspirationen realisieren. Oder anders gesagt: Revolutionen werden primär über Strukturen versucht zu erklären (Skocpol 1994: 111). Dies resultiert aus der Überlegung, dass bei der Annahme zielgerichteter und emergenter Akteure, bzw Akteurskoalitionen, im historischen Vergleich sich viel öfter revolutionäre Situationen hätten zeigen müssen (Skocpol 1994: ebd). Aus diesem Grund müssen Revolutionen in ihrenjeweiligen geschichtlichen und strukturellen Rahmen eingeordnet werden um Bedingungen herauszudestillieren, die Revolutionen möglich machen oder gemacht haben (Skocpol 1994: 112113). Eine der bekanntesten Verfechterinnen der Strukturtheorie ist Theda Skocpol, deren Werk umfangreiche historisch-komparativ Analysen der großen Revolutionen in Frankreich, Russland, China aber auch modernere Revolutionen wie auf den Philippinen, und in Nicaragua oder Iran umfasst.
Im Kern lassen sich anhand von Skocpols Ergebnissen drei strukturelle Bedingungen für Revolutionen skizzieren. (1): Internationaler Druck auf Staatssysteme hat einen direkten Einfluss auf die Verwundbarkeit gegenüber Protestbewegungen. Entweder wird das System international gestützt und besitzt somit genügend ökonomische und politische Ressourcen zur Eindämmung von Protest, oder es ist internationalem Druck ausgeliefert und damit endogen stark verwundbar, da es Kräfte mobilisieren muss um diesen einzudämmen. Als Beispiel hierfür zu nennen wäre der starke Modernisierungsdruck auf agrarische Ökonomien wie in Frankreich des 18. Jhds. oder der Konflikt des russischen Zarenreiches gegen das deutsche Reich im 1. Weltkrieg, der schließlich die Oktoberrevolution 1917 vorantreiben konnte (Goldstone 2003: 63-65, Spohn in Käsler 2005: 209, Skocpoleidende stru 1976: 179-181).
(2): Die Entwicklung von Konflikten zwischen der Regierung und eingesetzten marginalen Eliten kann als eine entschkturelle Bedingung gefasst werden, unter der Revolutionen auftreten können (Goldstone 2003: 64-65, Spohn in Käsler 2005: 209, Eisenstadt 2006: 42). Dies resultiert bspw. aus einer allgemeinen Unzufriedenheit der Eliten mit dem System, etwa wenn diese aus politischen Entscheidungen ausgeschlossen werden oder aufgrund zentraler Beschlüsse der Regierung anderweitige Einbußen bzw. Prestige- und Machtverlust verzeichnen (Skocpol 1976: 178, 202ff).
(3): Zuletzt sei auf den Einbezug der breiten Bevölkerung und damit die Schaffung organisational Rahmen, in denen sich die einzelnen Teile der Bevölkerung miteinander solidarisieren und gegen den Staat vorgehen, verwiesen. Skocpol legte, in der Analyse der großen Revolutionen, einen besonderen Fokus auf Bauernbewegungen, deren Mobilisierungsmöglichkeiten und Wahrnehmungen von Protestopportunitäten (Goldstone 2003: 64-65, 69, SpohninKäsler2005: 209, Skocpol 1976: 178, 193-194).
Sie betont hierbei jedoch, dass man, um der strukturellen Perspektive gerecht zu werden, diese groben Bedingungen nicht als Einzelfaktoren betrachten sollte, an denen Revolutionspotential gemessen werden könne. Vielmehr zeigt sich nur im interdependenten Zusammenspiel von internationalem Druck, Elitenkonflikten und weitflächige Aufständen die strukturelle Eigenart, dieRevolutionen begünstigen kann(Skocpol 1976: 194).
Dennoch offenbarten sich gerade in den neuen Revolutionen, wie etwa im Iran, aber auch in den aktuellen arabischen Revolutionen, dass Skocpols Aspekt des internationalen Drucks nicht zwingend diese zentrale Erklärungskraft für Protestbewegungen besitzt wie vormalig angenommen (Goldstone 2003: 70ff). Gleichzeitig kritisieren viele Autoren an strukturalistischen Theorien im Allgemeinen die mangelnde Ausarbeitung einer Klassentypologie, sowie die völlige Vernachlässigung von Ideologie und deren sozialstrukturellen Entstehung. Zwar können etwa Revolutionen nicht aus der Ideologie alleine heraus erklärt werden, aber dennoch lässt sich konstatieren, dass diese einen starken Einfluss auf das Selbstverständnis und den organisatorischen Rahmen von Oppositionsbewegungen haben können, wie sich 1978/1979 in der religiös aufgeladenen Protestwelle im Iran zeigte (Sewell 1985: 57ff, Parsa 2000: 7-10).
2.3 Bedingungen / Grundvoraussetzungen für soziale Revolutionen
Um einen groben theoretischen Rahmen aufzubauen, auf dessen Basis sich die empirische Analyse beziehen kann, sollen in den folgenden Kapiteln, in einer Art Theoriesynthese, die grundlegenden Erkenntnisse und Ansätze zusammengefasst werden. Dazu erfordert es, den Fokus auf die Frage zu legen, was eigentlich Bedingungen für die Stabilität eines Staates oder Regimes sind. Im Umkehrschluss ließen sich Revolutionen als das Ergebnis der Nichtaufrechterhaltung von Stabilität bezeichnen und hieraus Bedingungen für Umwälzungsversuche extrahieren (Goldstone 2003: 78-79). Innerhalb dieser stark strukturalistischen und historischen Perspektive beziehe ich mich zum Großteil auf Jack Goldstone, dezidiert auf dessen Herausarbeitung historischer Muster zum Zerfall von Staaten und Schlüsselbedingungen, die eine revolutionäre Bewegung wahrscheinlich machen (Goldstone 2003: 78-79, Eisenstadt 2006: 44).
Auf Bezugnahme von Goldstone und als Essenz der in den vorigen Kapiteln behandelten Theorien, sollen in der noch folgenden Analyse des Falls in Tunesien, zwischen folgenden Bedingungen differenziert werden (Goldstone 2003: 81/82, Tilly 1978: 201, 209):
1) Konflikt zwischen Staat und Eliten
2) Konflikte zwischen Staat und breiter Bevölkerung
3) Unfähigkeit des Staates aufBewegungen zu reagieren
4) Wahrgenommene Opportunitäten unterteilt in:
a) Internationalem Druck aufden Staat
b) Grad der Organisation und Mobilisierung von Oppositionsgruppen
In den ersten beiden Punkten können sowohl sozialstrukturelle als auch motivationale Aspekte beleuchtet werden, womit ich einer motiv- und handlungstheoretischen Perspektive gerecht werden kann. Der dritte Punkt kann zur Überprüfung der Konfliktlinien zwischen Staat und Opposition dienen und einen strukturellen Aspekt, nämlich die Handlungsfähigkeit des Staates, überprüfen.. Punkt 4, der in zwei Unterpunkte geteilt ist, geht auf wahgenommene Opportunitäten ein. Dies unterstreicht, dass Akteure nicht nur anhand ihrer Motive, sondern vor allem anhand struktureller und organisatorischer Möglichkeiten zum kollektiven Handeln neigen. Dies ist ein innerhalb der Soziologie besonders relevanter Punkt.
Diese Bedingungen werden in ihrer Vollständigkeit innerhalb der folgenden Unterkapitel näher erläutert und sollen hier als theoretischer Unterbau dienen. Selbstverständlich können diese Bedingungen im empirischen Kontext nicht als einzelne erklärende Variablen gefasst werden, da sie immer nur in Verbund und Wechselwirkung miteinander das komplexe Feld von Revolutionen erklären können (Goldstone 2001: 175).
2.3.1 Konflikt zwischen Staat und Eliten
Damit ein Staat seine eigene Stabilität gewährleisten kann, muss die bestehende Regierung kalkulieren, ob genügend finanzielle oder kulturelle Ressourcen mobilisierbar sind, um den Ansprüchen der Bevölkerung oder dem von Eliten gerecht zu werden (Goldstone 2001: 147ff). Das Verhältnis zwischen Regierung und Eliten hat einen starken Einfluss auf den Stabilisierungsgrad einer Regierung. Zum einen können Eliten systemstabilisierende Wirkung ausüben, wenn diese den Rückhalt der Regierung genießen, von diesen gefördert oder in den
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