Die Auseinandersetzung mit Vergangenheit ist ein wesentlicher Bestandteil der italienischen Reisewerke des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Reisenden sahen sich in Italien mit zahlreichen Überresten der römischen Antike und Kunstwerken späterer Epochen konfrontiert. Oftmals war die Besichtigung dieser (Kunst-)Zeugnisse leitendes Motiv der Italienreise im Sinne einer klassizistischen Bildungserfahrung, einer einfachen Bildungsreise oder der Vergegenwärtigung von Ruinenromantik.
In dieser Seminararbeit wird die spezifische Weise untersucht mit der Heine in der Reise von München nach Genua Vergangenheit in Italien erfährt und konstruiert. Schon der erste Befund ergibt ein dynamisches und lebhafteres Bild von Vergangenheit als der oben skizzierte Rahmen traditioneller Reisewerke vorgibt: Historie spiegelt sich genauso im Steintext von völkerwanderungs-zeitlichen Trümmern als auch im Gesicht der Obstfrau in Trient, in dem sich die Spuren aller Zivilisationen Italiens finden. Dazu treten Geistererscheinungen historischer Persönlichkeiten, die vor dem Zapfenstreich und Betglocken einer christlich-österreichischen Realität fliehen und eine verlebendigte Reiterstatue von Cangrande, der sich dem Erzähler als Fremdenführer durch Verona anbietet. Diese im weitesten Sinne einer historischen oder kulturhistorischen Betrachtung des Landes zuzuordnenden Momente der Reise bilden aber nur eine Dimension der Konstruktion von Vergangenheit in der Reise von München nach Genua. Sie sind verwoben mit mythisch-mythologischen Motiven, die ihrem Wesen nach auf eine zeitlich nicht klar bestimmbare Vorvergangenheit verweisen und als dritte Komponente, die persönliche Vergangenheit des Erzählers, besonders virulent in der Erscheinung der tote Maria, der stetigen Begleiterin der Reise.
Die komplexe Anlage von sich überlagernden Bildern der Vergangenheit entspricht nicht mehr dem einfachen Muster von Sehen und Beschreiben traditioneller Reiseliteratur. Vielmehr bilden auch die Aspekte der Vergangenheit in sich „harmonisch verschlungenen Fäden“, die die Kompositionstechnik der Reisebilder insgesamt auszeichnet — als feingliederiges Geflecht sprunghaft wirkender Gedankenverbindungen, als Medium von Fremd- wie Eigenreferenzen, als eine bisweilen die Grenzen von Zeit, Raum, Wirklichkeit und Traum nivellierenden Erzählung.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Kategorien von Vergangenheit in der Reise von München nach Genua
- Historisch-kulturelle Vergangenheit
- Orte und Zeugnisse: der Steintext
- Völker und Menschen: die Menschenruine
- Mythisch-mythologische Vergangenheit
- Persönliche Vergangenheit
- Historisch-kulturelle Vergangenheit
- Die Konstruktion von Vergangenheit am Beispiel der Ankunft in Trient (Kap. XIV)
- Resümee und Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Seminararbeit untersucht, wie Heinrich Heine in seiner Reise von München nach Genua die Vergangenheit Italiens erfährt und konstruiert. Im Vordergrund steht die Frage, wie Heine die vielfältigen historischen, mythischen und persönlichen Aspekte der Vergangenheit in seinen Reisebildern verwebt und wie diese Vergangenheit sich auf die Gegenwart des Landes und die Wahrnehmung des Reisenden auswirken.
- Die Konstruktion von Vergangenheit in Heines Reisebildern im Vergleich zu traditionellen Reisewerken
- Die Analyse der verschiedenen Kategorien von Vergangenheit (historisch-kulturell, mythisch-mythologisch, persönlich)
- Die Untersuchung der Interaktion von Vergangenheit und Gegenwart in Heines Reisebildern
- Die Bedeutung von Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in Heines Werk
- Die Rolle von Sprache und Erzählung in der Konstruktion von Vergangenheit
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Thematik und den Fokus der Seminararbeit dar. Sie erläutert die Unterschiede zwischen Heines Vorgehen und traditionellen Reisewerken sowie die Herausforderungen, die sich aus der Vielschichtigkeit des Themas ergeben. Das zweite Kapitel analysiert die verschiedenen Kategorien von Vergangenheit, die in Heines Reisebildern erscheinen: die historisch-kulturelle, die mythisch-mythologische und die persönliche Vergangenheit. Das dritte Kapitel konzentriert sich auf die Ankunft des Reisenden in Trient und untersucht, wie die verschiedenen Vergangenheitsbilder in diesem Abschnitt des Textes zusammenwirken und die Gegenwart prägen.
Schlüsselwörter
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Konstruktion von Vergangenheit in Heines Reise von München nach Genua. Die Analyse konzentriert sich auf Kategorien von Vergangenheit, wie die historisch-kulturelle, die mythisch-mythologische und die persönliche Vergangenheit. Wichtige Themen sind Erinnerungskultur, die Interaktion von Vergangenheit und Gegenwart sowie die Rolle von Sprache und Erzählung in der Konstruktion von Vergangenheit. Weitere wichtige Begriffe sind Reisebilder, Italienreise, Klassizismus, Romantik, Steintext, Menschenruine, Geistererscheinungen, Poesie, und die Verbindung von Geschichte und Gegenwart.
- Citation du texte
- Anika Kosfeld (Auteur), 2011, Einst und Jetzt - Zur Konstruktion von Vergangenheit in Heines Reise von München nach Genua, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191026