Subjektspezifische Identitätskonstrukte der Mainzer Zitadelle


Magisterarbeit, 2011

116 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Die Nutzung der Mainzer Zitadelle als städtebauliche Herausforderung

2. Identifikationspotenziale territorialer Bindungen im Zeitalter der Globalisierung

3. Begriffsdefinitionen

4. Derzeitiger Stand Regionaler Bewusstseinsforschung

5. Das Konzept der raumbezogenen Identität nach Weichhart
5.1 Identitätsbegriff
5.1.1 „ Identification of “
5.1.2 „ Being identified “
5.1.3 „ Identification with “
5.2 Der Begriff der raumbezogenen Identität und das Problem der Maßstabsbezüge
5.3 Ergebnisse und Nutzenfunktionen raumbezogener Identität
5.3.1 Sicherheit
5.3.2 Aktivität und Stimulation
5.3.3 Soziale Interaktion
5.3.4 Individuation

6. Bedeutung von Identität im Stadtmarketing
6.1 Das Konzept der raumbezogenen Identität im Stadtmarketing
6.2 Ansätze der Identitätsforschung im Stadtmarketing
6.3 Nutzenpotenziale von Identität im Stadtmarketing
6.3.1 Integration
6.3.2 Systemstabilisierung
6.3.3 Motivation
6.3.4 Zielsurrogat
6.3.5 Differenzierungsfunktion

7. Methodisches Vorgehen

7.1 Auswahl der Interviewpartner

7.2 Gesprächsleitfaden

7.3 Durchführung und Datenverarbeitung

8. Zitadelle Mainz
8.1 Die Mainzer Zitadelle im Wandel der Zeit
8.1.1 Gründung des Legionslagers Mogontiacum (13 v. Chr.- 407 n. Chr.)
8.1.2 Kirchliche Nutzung des Jakobsbergs im Mittelalter
8.1.3 Dreißigjähriger Krieg und Schwedische Besatzungszeit
8.1.4 Entstehung der Zitadelle
8.1.5 Mainz als Festung in den Friedensjahren 1763 - 1792
8.1.6 Die „ Vormauer des Reiches “
8.1.7 Österreichische und preußische Kaserne
8.1.8 Entfestigung versus Denkmalschutz
8.1.9 Funktionale Nutzung
8.2 Die Situation im Sommer 2011
8.2.1 Rechtliche Grundlagen - unvereinbare Gegensätze?
8.2.1.1 Der bauliche Zustand
8.2.1.2 Ökologische Mauersanierung als Chance?
8.2.2 Einrichtungen auf der Zitadelle
8.2.2.1 Das Stadthistorische Museum und die Arbeit des Fördervereins „ Stadthistorisches Museum Mainz “
8.2.2.2 Das Garnisonsmuseum - ein Museum „ zum Anfassen “
8.2.2.3 Das Zitadellencaf é
8.2.3 Die Zitadelle als Event Location
8.2.3.1 Die Veranstaltungen und die Rolle der Initiative Zitadelle Mainz e.V. (IZM)
8.2.3.2 37 Jahre Open Ohr auf der Zitadelle
8.2.3.3 Die Zitadelle als Konzertstandort

9. Analyse der bestehenden Herausforderungen unter Berücksichtigung der individuellen Wahrnehmungen durch die Akteure
9.1 Die Zitadelle als bedeutendes kulturhistorisches Denkmal
9.2 Die Zitadelle als ein Denkmal unter Vielen
9.3 Die Zitadelle als schutzbedürftige Oase
9.4 Die Zitadelle als Festivalstandort mit Urwald
9.5 Die Zitadelle als Arbeitsplatz

10. Die Zitadelle als Alleinstellungsmerkmal im Stadtmarketing?

11. Der Streit um sinnvolle Konversion - ein unlösbarer Konflikt?

12. Literatur

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Karikatur zur Diskussion um das Zitadellengelände

Abbildung 2: Wirkungsbereiche raumbezogener Identität

Abbildung 3: Die identitätsbildenden Prozesse und ihr Nutzen

Abbildung 4: Herausforderungen für Städte

Abbildung 5: Funktionen der Stadtmarke

Abbildung 6: Identifikationsmöglichkeiten im Rahmen des Stadtmarketing

Abbildung 7: Abbildungen zur ursprünglichen und heutigen Gestalt des Kenotaph

Abbildung 8: Kupferstich des Kommandantenbaus von Nikolaus Person (um 1700)

Abbildung 9: Kommandantenbau nach Umbau

Abbildung 10: Verkrustungen und weiße Salzausblühungen

Abbildung 11: Mauerschäden als Folge von Feuchtebelastung

Abbildung 12: Pflanzenbewuchs auf dem Drususstein und instabiles Gefüge

Abbildung 13: Transsekt und GLB

Abbildung 14: Lageplan der Zitadelle und Querschnitt durch festungstypische Wallanlagen

Abbildung 15: Zeitplan zur Durchführung erforderlicher Maßnahmen im Rahmen des

Projektes derökologischen Mauersanierung

Abbildung 16: Mauer schädigender Bewuchs auf der Kontraeskarpenmauer

Abbildung 17: Abgesägte Efeustränge im GLB

Abbildung 18: Bebauung auf der Zitadelle

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Raumbezogene Identität als Gegenstand verschiedener Disziplinen

Tabelle 2: Übersicht der Interviewpartner

1. Die Nutzung der Mainzer Zitadelle als städtebauliche Herausforderung

1Festungsanlagen oder Zitadellen erfuhren in Deutschland lange Zeit nach ihrer ursprünglichen Nutzung als Verteidigungsanlagen nur geringe Wertschätzung. Aufgrund ihrer großen räumli- chen Ausdehnung und fehlender finanzieller Mittel führte dies - bei den meisten Zitadellen Deutschlands - zu einem langsamen Verfall und einem langsamen Verschwinden aus dem Städtebild, kurzum: zu fehlender Auseinandersetzung um notwendige Konversion (HILLIGES 2004: 3). Die daraus resultierenden Nutzungskonflikte sollen am Beispiel der Mainzer Zita- delle untersucht werden. Im Fall der Mainzer Zitadelle führte unkontrollierter Pflanzenbe- wuchs zur Ausbildung eines ökologisch interessanten Raumes mit einer Vielzahl von Pflan- zen- und Tierarten. Aus dieser Tatsache resultiert ein erster, entscheidender Konflikt zwischen Denkmalschutz und Landschaftsschutz, da bauliche Sanierungen in der Regel die Notwendig- keit beinhalten, regulierend in den Pflanzenbewuchs einzugreifen (FISCHER 2002: 215 - 218). Die Nutzung des Geländes für kulturelle Veranstaltungen wie das jährlich statt findende Open Ohr-Festival bewegen sich innerhalb dieses Spannungsfeldes, wodurch besondere Auflagen seitens des Denkmal- und Landschaftsschutzes eingehalten werden müssen (FISCHER 2002: 225 f.). Unterschiedliche Nutzungen lassen hier einen Konflikt entstehen, der bereits seit über zehn Jahren anhält (FISCHER 2002: 222 - 225; HILLIGES 2004: 2; vgl. Abb.1 zeigt den ehema- ligen Umweltdezernenten Wolfgang Reichel und den ehemaligen Kulturdezernenten Peter Krawietz; während der Umweltdezernent in der Karikatur Bäume pflanzt, und als Vertreter der Umweltschützer dargestellt wird, entfernt der Kulturdezernent das Grün und steht somit für die Seite des Denkmalschutzes).

Gegenstand der Magisterarbeit soll dieser Nutzungskonflikt sein: aus der Perspektive des Konzeptes der raumbezogenen Identität von PETER WEICHHART (1990: 94) nimmt ein Indivi- duum die Umwelt in Abhängigkeit zu seiner Sozialisation auf eine bestimmte Weise wahr, bewertet seine Umwelt individuell und verändert oder stärkt damit seine Ich-Identität. Als wahrnehmbarer Raumausschnitt soll die Zitadelle mit ihren Gebäuden, ihren früheren und heutigen Nutzungsarten im Mittelpunkt stehen. Als wahrnehmende Subjekte sollen Experten befragt werden, die sich beruflich oder privat mit der Nutzung der Zitadelle und des Zitadel- lengeländes auseinandersetzen. Gemäß des Konzepts der raumbezogenen Identität gehe ich

von der Annahme aus, dass die verschiedenen Personen aufgrund ihrer individuellen Wahr-

nehmung unterschiedliche Identitätskonstrukte der Zitadelle erzeugen. Bezogen auf die vor- liegende Diskussion um verschiedene Nutzungsmöglichkeiten nimmt jede beteiligte Person die Zitadelle (als wahrzunehmendes Objekt, als Raumausschnitt) in Abhängigkeit zu ihrer eigenen Biographie individuell wahr und hält damit bestimmte Nutzungsmöglichkeiten für angebracht, andere wiederum für nicht angebracht. Damit wäre der Nutzungskonflikt auf un- terschiedliche Wahrnehmungen und Identitätskonstruktionen der Zitadelle zurückzuführen. Unter der Fragestellung „Welche unterschiedlichen Identitätskonstrukte der Mainzer Zitadelle liegen vor und welche Nutzungsarten werden als angemessen bewertet?“ soll der vorliegende Sachverhalt erarbeitet werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Karikatur zur Diskussion um das Zitadellengelände

Quelle: W ILINSKI 2000: 12

2. Identifikationspotenziale territorialer Bindungen im Zeitalter der Globa- lisierung

Bedingt durch gesellschaftliche und politische Veränderungen vollzog sich in den letzten Jahrzehnten eine globale Vereinheitlichung von regionalen Lebenswelten. Durch weltweit vernetzte Wirtschaftsbeziehungen, kulturübergreifende Wissenschaftsbeziehungen sowie ein weltumspannendes Kommunikations- und Infrastruktursystem nahm und nimmt die Bedeu- tung räumlicher Distanzen zusehends ab. Die zunehmende Standardisierung von Lebensstilen und Wertesystemen führte zur Abschwächung von kulturspezifischen Eigenschaften individu- eller Lebensräume (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 25; WERLEN 1993: 249).

WALDENFELS (1987: 490) spricht sogar von einem „Raum ohne Eigenschaften“: die „Nivellie- rung“ von räumlichen Eigenarten sowie erhöhte Mobilität bedingen eine Homogenisierung des Raumes. WALDENFELS behauptet weiter, dass ein Raum ohne Eigenschaften Menschen ohne Eigenschaften hervorbringe (1987: 490). Komplementär zur Abnahme kultureller Ei- genheiten von Lebensräumen sieht sich jeder Einzelne jedoch einem erhöhten „Zwang zur Individualisierung“ ausgesetzt (WEICHHART 1990: 26 f.; vgl. auch EBERT 2004: 68). Auch BECK ist der Ansicht, es vollziehe sich seit den 60er Jahren in den westlichen Industrielän- dern, und vor allem in Deutschland, ein gesellschaftlicher Individualisierungsprozess (1983: 40 f.). Die bereits oben genannten Gründe, die zur Homogenisierung des Raumes führen, be- dingen eine Herauslösung der Menschen aus traditionellen Verbindungen, die Halt und Orien- tierung geben. Der Verlust der Versorgung durch familiäre Bindungen oder der Bedeutungs- verlust sozialer Netzwerke können zu ernsthaften Lebenskrisen führen. Identität wird dadurch zu einer Aufgabe, die von jedem Einzelnen erfüllt werden muss. Bei der ständigen Identitäts- findung sieht sich das Individuum jedoch zunehmend allein gelassen; allgemein verbindliche und traditionelle Werte- und Normenvorstellungen verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Entsprechende Identitätsangebote nehmen also ab, so dass sich jeder Einzelne einer „lebens- länglichen Identitätskrise“ gegenüber sieht (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 91; WEICHHART 1990: 27). Eine besondere Rolle im Identitätsprozess kann dabei den emotionalen und soziokulturellen Verbindungen zwischen Individuum und Lebensraum zukommen. Di- verse Fachautoren sprechen von einem „neuen Regionalismus“, der „Sehnsucht nach Heimat“ oder der „Renaissance der Diskussion um den Begriff Heimat“ (PIEPER 1987: 534; WEICHHART 1990: 27, 93; WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 92). Die Autoren WEICHHART, WEISKE UND WERLEN (2006: 25) geben die Förderung von Regionalkultur, das verstärkte Engagement in lokalen Bürgerinitiativen sowie die Vermarktung regionaler Pro- dukte als Beispiele für ein gesteigertes Interesse im Zusammenhang mit Regionalbewusstsein an. Man kann also festhalten, dass ausgerechnet die Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die eine Loslösung von Individuen aus ihren territorialen Bindungen verursacht haben, gleichzeitig für eine Rückbesinnung auf Heimat sorgten (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 92; WEICHHART 1990: 27 ff.).

Allerdings sollte immer berücksichtigt werden dass die heute eher positiven Konnotationen des Heimatbegriffs nicht immer selbstverständlich waren. In den 1960er und 70er Jahren wa- ren eher negative Assoziationen vorherrschend, was vor dem Hintergrund der politischen In- strumentalisierung des Heimatbegriffs im Zweiten Weltkrieg betrachtet werden muss. Hier wird deutlich, dass die Assoziationen mit dem Begriff „Heimat“ und mit territorialen Bindun- gen auf Konstruktionen zurückzuführen sind, die von bestimmten politischen Systemen, Or- ganisationen und Institutionen gefördert werden. Diese Konstruktionen sollten also immer vor dem Hintergrund des jeweiligen politischen Regimes und gesellschaftlicher Verhältnisse un- tersucht und interpretiert werden (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 23 f.).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Renaissance des Heimatbegriffes vor dem Hintergrund gesehen werden muss, dass ein Ungleichgewicht zwischen dem zunehmenden Druck zur Identitätsbildung einerseits und einer zunehmenden Entfremdungserfahrung ande- rerseits besteht (WEICHHART 1990: 27). Dabei ist nach WEICHHART (1990: 27 ff.) zu beachten, dass die oben beschriebenen aktuellen gesellschaftlichen Prozesse sich nicht etwa hemmend auf territoriale Bindungen auswirken, sondern diese sogar fördern. Diese Annahmen sollen als Grundlage für die in Kapitel 5 dargestellten theoretischen Grundlagen der raumbezogenen Identität dienen.

3. Begriffsdefinitionen

Wenn die Bindung zwischen Individuum und Raum untersucht wird, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Definition sich hinter dem Begriff „Raum“ verbirgt. Neben einer umgangssprachlichen Definition existieren in der Geographie zahlreiche Raumdefinitionen, denen unterschiedliche Paradigmen zugrunde liegen und aus denen unterschiedliche wissenschaftliche Untersuchungsmethoden resultieren2. Ich möchte an dieser Stelle darauf verzichten, allzu ausführlich über ein Lieblingsproblem der Geographen, das in wissenschaftlichen Arbeiten sicherlich wiederholt aufgegriffen wird, zu referieren und direkt darauf eingehen, welche Auffassung von „Raum“ für diese Arbeit von Bedeutung ist.

Wie in den nächsten Kapiteln dargestellt, wird in der Theorie der raumbezogenen Identität häufig von „Raumausschnitt“ gesprochen werden; ein Begriff, der an konventionelle und frü- he Raumkonzepte der Geographie erinnert. Hier wird Raum als konkreter Ausschnitt der ma- teriellen Welt mit flächenbezogener Ortsangabe verstanden. WEICHHART (2008: 76 f.) be- zeichnet dieses Konzept als „Raum 1“. Wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, kommen in der Theorie der raumbezogenen Identität Begriffe wie „subjektzentrierte Wahrnehmung“, „individuell“ und „Sozialisation“ vor, die dem zuvor genannten objektiven Raumbegriff einen subjektiven Charakter verleihen. Man könnte auch sagen, dass der Ausschnitt der materiellen Welt (objektiv, sachlich) individuell wahrgenommen wird (subjektiv, emotional), sich wie eine Folie über die betrachtete Realität legt. Dieses abstrakte Raumverständnis wird zugrunde gelegt, wenn in einer Theorie kognitive Vorgänge von Bedeutung sind (Raum 3) (WEICHHART 2008: 78 f.). WEICHHART (2008: 82 f.) führt das Konzept des Raumes 1 weiter aus zu einer Bedeutungsvariante, die er das Konzept des „erlebten Raumes“ nennt. Hierbei wird der erlebbare materielle Raumausschnitt subjektiv wahrgenommen oder „erlebt“ und mit subjektiven Bedeutungen versehen. Diese Bedeutungen können durchaus auch gruppenspezi- fisch sein und sich in Werteurteilen oder Images äußern. Nicht nur der materielle Raumaus- schnitt, sondern sämtliche Objekte der Umwelt wie Natur, Gebäude, Sitten oder soziale Inter- aktionen verschmelzen zu einer subjektiven kognitiven Konstruktion. Damit gehe ich in die- ser Arbeit von Raum als einem kognitiven Konzept aus, in dem Realität subjektiv erlebt und interpretiert wird. Gemäß WERTHMÖLLER (1995: 76) sind somit aufgrund der selektiven Wahrnehmung von Individuen für jede Person unterschiedliche Merkmale und Elemente des Raumes von Relevanz.

Der Begriff, der vermutlich am ehesten allgemeinsprachlich die emotionale Bindung zwi- schen Individuen und Räumen beschreibt, ist der der Heimat. Nahezu jeder weiß, was damit gemeint ist. WEICHHART, WEISKE und WERLEN (2006: 23) definieren Heimat als eine „grund- sätzlich positive emotionale Bindung an jenes Gebiet oder Territorium, in dem man aufge- wachsen ist und welches für längere Zeit das Zentrum der subjektiven Lebenswelt darstellt.“. Obgleich mit dem Begriff „Heimat“ subjektive Assoziationen verbunden werden, kann auf jeden Fall festgehalten werden, dass es sich in der Regel um einen Ort handelt, an dem man sich gerne aufhält weil man sich geborgen und sicher fühlt. Häufig ist dies der Wohnort oder der Ort, an dem man aufgewachsen ist. Als Gegenteil von „Heimat“ wird die „Fremde“ ge- nannt. Das heißt, Heimat vermittelt dem Individuum Sicherheit durch eine bekannte Raum- aufteilung, vertraute Objekte, bekannte Alltagsgegenstände usw. Das Individuum muss sich nicht erst im Raum zurechtfinden, sondern kennt seine Heimat. Dies ist als entscheidendes Kriterium für die Herausbildung von Heimatgefühlen festzuhalten (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 23 - 26).

WEICHHART, WEISKE und WERLEN verwenden den Begriff „raumbezogene Identität“, um ein ähnliches Phänomen wie das Heimatgefühl zu behandeln (2006: 15). Für den Begriff der „raumbezogenen Identität“ wird in der englischsprachigen Geographie der Terminus „Place Identity“ synonym verwendet. Allerdings ist die Übersetzung für das englische Wort „Place“ schwierig, da dies am ehesten mit „Ort“ zu übersetzen ist; jedoch kann „Ort“ im Deutschen auch „(kleine) Siedlung“ bedeuten (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 15). Der Begriff „raumbezogene Identität“ soll sich jedoch auch auf größere Raumausschnitte wie Regionen oder ganze Staaten beziehen können (vgl. Kap. 5.3; WEICHHART 1990: 20). Somit würde die Verwendung des Begriffes „Place“ eine ungewollte Einschränkung mit sich bringen. Weitere Variationen in den Begrifflichkeiten, die alle mehr oder weniger dasselbe Phänomen be- schreiben, werden in Kapitel 4 behandelt und Tabelle 1 dargestellt.

4. Derzeitiger Stand Regionaler Bewusstseinsforschung

Die aktive Auseinandersetzung mit identitätsstiftenden räumlichen Bezügen wurde in der Ge- ographie im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen erst außerordentlich spät thematisiert; einerseits lag das an der Tabuisierung des Heimatbegriffs resultierend aus der missbräuchlichen Benutzung in der Zeit des Nationalsozialismus, andererseits an der Annah- me, dass mit zunehmender Globalisierung die Bedeutung raumbezogener Bindungen abneh- men würde (WEICHHART,WEISKE,WERLEN 2006: 24). Seit den 1980er Jahren versuchte man in der deutschsprachigen Geographie mit Hilfe von Begriffen wie „Satisfaktionsraum“, „emo- tionale Ortsbezogenheit“, „Territorialität“ oder „regionale Identität“ ein Phänomen zu be- schreiben, das von den Sozialwissenschaften längst thematisiert worden war (EBERT 2004: 63; WEICHHART 1990: 5, 8 f.; WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 26; WERTHMÖLLER 1995: 56).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Raumbezogene Identität als Gegenstand verschiedener Disziplinen

Quelle: W EICHHART ,W EISKE ,W ERLEN 2006: 27

Während sich die Geographie im Rahmen der „Geographischen Regionalbewusstseinsfor- schung“ nur zögerlich dem Phänomen annäherte, waren ausführliche theoretische Grundlagen aus den Bereichen der Ethnologie, Kulturanthropologie, Soziologie, Politologie, Kommunika- tionswissenschaften, Psychologie und Sprachwissenschaften bereits geleistet worden (eine ausführliche Auflistung von Autoren und ihren gewählten Problemstellungen finden sich in Tabelle 1; WEICHHART 1990: 8; WERTHMÖLLER 1995: 56). Bereits die Vielzahl der verwen- deten Begriffe, die alle etwas Ähnliches beschrieben, deutete zwar auf eine Vielzahl theoreti- scher Ansätze hin, ließ jedoch eine einheitliche Linie vermissen (LALLI 1989: 3; KÜHNE 2008: 136). Durch Arbeiten zur „Geographischen Regionalbewusstseinsforschung“ in der Geogra- phie wurde ein weites und eigenständiges Forschungsfeld begründet (EBERT 2004: 63 f.; WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 28).

WEICHHART (1990: 13) versucht mit Hilfe des Konzeptes der raumbezogenen Identität, die wichtigsten Aspekte der sozialwissenschaftlichen Forschung über territoriale Bindungen in Beziehung zu setzen um somit die Grundlage für übergreifende theoretische Vorüberlegungen zu leisten. Er weist dennoch darauf hin, dass dies lediglich Fragmente einer übergreifenden Theorie hervorbringt, und keinesfalls als ein komplettes theoretisches Konzept verstanden werden darf.

5. Das Konzept der raumbezogenen Identität nach Weichhart

WEICHHART (1990: 93) versucht mit Hilfe des Konzepts der raumbezogenen Identität die Be- deutung territorialer Bindungen für den Menschen zu beleuchten. Das Konzept der raumbe- zogenen Identität beruht auf grundlegenden Annahmen der sozialpsychologischen Identitäts- forschung und Prozessen der Identitätsbildung nach CARL FRIEDRICH GRAUMANN, welche in Anlehnung an den „Symbolischen Interaktionismus“ entstanden sind (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 32). Die grundlegenden Annahmen des Konzeptes der raumbezogenen Identi- tät sollen an dieser Stelle dargestellt und für die weitere Untersuchung der anfangs beschrie- benen Herausforderungen in Bezug auf die Zitadelle als Grundlage dienen.

5.1 Identitätsbegriff

Im Laufe der Sozialisation wird an jedes Individuum unter anderem die Aufgabe gestellt, sich in seine Umwelt zu integrieren und Teil des sozialen Systems zu werden. Dieser Prozess ist sozial vermittelt und geht damit einher, dass wir mit unserer Umwelt interagieren. Indem wir mit unserer Umwelt interagieren, beginnen wir sie zu verstehen und uns „anzueignen“ (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 32). Nach KRUSE u. GRAUMANN (1978: 184 - 187) heißt „Aneignung“ im psychologischen Sinne heißt hier nicht, dass ein Individuum einen Ge- genstand zu seinem Besitz macht, sondern Erfahrungen mit Gegenständen, Ereignissen, ande- ren Menschen macht und somit lernt, mit ihnen umzugehen. Durch diese Erfahrungswerte entstehen emotionale Beziehungen zur Umwelt. Dazu gehören einfache sensu-motorische Fähigkeiten zur Handhabung von Gegenständen genauso wie Überzeugungen und grundle- gende Normen- und Wertevorstellungen, die für das Zusammenleben in einer Gesellschaft vonnöten sind. Im Rahmen der Sozialisation werden diese an das Individuum weitergegeben. Dabei spielt nicht nur die körperliche Bewegung im Raum eine Rolle bei der Raumaneig- nung, sondern auch eine sprachlich-kommunikative Auseinandersetzung über den Raum. Worte helfen uns dabei, Objekte für uns zu bewerten und uns im Raum zurechtzufinden (WINTER, CHURCH 1984: 79 f.). Eine wichtige Erkenntnis, die sich daraus ergibt, ist folgende: die Sichtweise auf die uns umgebende Umwelt ist kulturspezifisch. Die Wahrnehmung unse- res Lebensraumes, unserer Städte, unserer Aktionsräume ist geprägt von den jeweiligen ge- sellschaftlichen Bewertungsmaßstäben. Somit ist die Wirklichkeit, in die wir hineingeboren werden, vorgegeben (LUCKMANN21996: 298 f.). Durch diese soziale Vermittlung ist das Indi- viduum außerdem dazu in der Lage, zwischen sich und anderen Personen sowie der Umwelt zu unterscheiden und sich selbst zu definieren (LALLI 1989: 21). LALLI (1989: 10) sieht diese Differenzierung als notwendig an zur Ausbildung eines Selbstkonzepts3 und von Identität.

Um den Identitätsbegriff im Konzept der raumbezogenen Identität näher zu beleuchten, be- dient sich WEICHHART (1990) dem Konzept der „multiplen Identität“4 vom Psychologen CARL FRIEDRICH GRAUMANN. Das Konzept beruht auf grundlegenden Annahmen der sozial- psychologischen Identitätsforschung und Prozessen der Identitätsbildung, welche in Anleh- nung an den Symbolischen Interaktionismus entstanden sind (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 32; WEICHHART 1990: 16, 93). Raumbezogene Identität steht für die subjektiv und kol- lektiv wahrgenommene Identität eines Raumausschnittes. Hierbei geht es also um individuell oder gruppenspezifisch konstruierte Repräsentationen der Umwelt (WEICHHART 1990: 94). Raumbezogene Identität beschreibt aber auch die Identität der Subjekte, also der Menschen, die die wahrgenommene Identität eines Raumausschnittes in ihr Selbstkonzept einbeziehen. Das Konzept berücksichtigt also zwei unterschiedliche Perspektiven, die sich wechselseitig bedingen; einerseits die Identität des Subjekts, andererseits die wahrgenommene Identität des Objekts. Ähnlich äußert sich LALLI (1989: 5): „Grundsätzlich muss zwischen der Identität des Subjektes und der Identität des Ortes selbst unterschieden werden. Letztere umfaßt [sic.] den besonderen Charakter, das Unverwechselbare und Einzigartige des Ortes. Diese Identität ist keine aus physikalischen Charakteristika unmittelbar ableitbare Größe, sondern eine sozia- le Konstruktion, die in der Wahrnehmung von Menschen und von Gruppen begründet liegt. Obwohl zwischen diesen beiden Identitätsaspekten enge Wechselwirkungen bestehen, betont die psychologische Theoriebildung vor allem die subjektive Seite, die des Individuums, also die Identität der Person und die Identifikation mit dem Ort.“. Ein Objekt selbst hat im Prinzip keine eigene objektiv gegebene Identität; die Identität eines Objektes (einer Stadt, eines Or- tes…) ist das Ergebnis einer individuellen oder sozialen Konstruktion, von Merkmalszu- schreibungen und individueller Wahrnehmung. Jedoch kann man sagen, dass die physikali- schen Gegebenheiten eines Raumes zumindest Einfluss auf die soziale Konstruktion haben. Welche Objekte in der Aneignung des Raumes eine Rolle spielen, hängt nach KRUSE u. GRAUMANN (1978: 185) von personalen Fähigkeiten und der objektiven Umwelt ab: unsere individuellen Wünsche, Bedürfnisse und Aufgaben bestimmen, welche Orte oder Objekte im Raum eine Bedeutung für uns haben, erreicht oder benutzt werden müssen. Ohne eine be- stimmte Absicht macht es keinen Sinn, in ein bestimmtes Land zu reisen. Ohne eine bestimm- te Absicht macht es keinen Sinn, tagtäglich mehrere Kilometer zur Arbeitsstelle zurückzulegen. Man könnte auch anders formulieren: es werden diejenigen Objekte von uns berücksichtigt, deren Benutzung für uns einen Sinn haben (LALLI 1989: 22, 36).

Um zu zeigen, welche Bedeutungen die Prozesse der Identitätsbildung für das einzelne Sub- jekt haben, möchte ich nun auf den Begriff der „Ich-Identität“ näher eingehen: die Ich- Identität wird zunächst durch die ganz offensichtlichen, persönlichen Beschreibungsmerkmale gebildet, die als formale Beschreibungsmerkmale einer Person charakterisiert werden können, da sie wenig individuell sind. Dies können sein: Alter, Geburtsort, Wohnort, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Familienstand, Beruf, Religion und so weiter. Weitere Beschreibungs- merkmale wie Weltanschauung, persönliche Meinungen oder die eigene Biographie sind da- gegen schon individueller, da hierfür reflexive Leistungen der Person nötig sind. Durch indi- viduelle Erfahrungen können sich die Merkmale, die die Ich-Identität einer Person ausma- chen, im Laufe des Lebens und im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung ständig ändern. Au- ßerdem können verschiedene Merkmale bei unterschiedlichen Personen auch eine unter- schiedlich starke Rolle im Konzept der eigenen Ich-Identität spielen. Während zum Beispiel die eigene Religionszugehörigkeit in der Ich-Identität von Christen enorm wichtig ist, spielt Religion in der Ich-Identität eines Atheisten keine oder nur eine untergeordnete Rolle (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 34 f.).

Doch woher kommen die Einflüsse, die den Anstoß liefern, immer wieder aufs Neue über die eigene Ich-Identität zu reflektieren und entsprechende Persönlichkeitsmerkmale zu verän- dern? Gemäß WEICHHART, WEISKE, WERLEN (2006: 35) bedient sich das Individuum aus Ein- flüssen aus der Umwelt; die entscheidenden Impulse gehen von anderen Personen und von der räumlichen Umgebung aus. Im Sinne des Symbolischen Interaktionismus treten wir mit den Menschen unserer Umwelt in Wechselwirkung, wodurch es zum Austausch von Meinun- gen und Ansichten kommt. Durch diese Interaktionen sind wir immer wieder aufs Neue dazu gezwungen, eigene Ansichten zu rechtfertigen oder zu überdenken und als neuen Bestandteil unserer Persönlichkeitsmerkmale in unsere Ich-Identität aufzunehmen. Diese anderen Perso- nen, die entsprechende Impulse senden, werden als „signifikante Andere“ bezeichnet (ebda.). Genauso wie einzelne Personen bedeutend auf die Bildung unserer Ich-Identität einwirken können, so können auch ganze Gruppen einen großen Einfluss ausüben. Ein Individuum kann sich selbst als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnehmen oder aber von Außenstehenden zu einer Gruppe gezählt werden (und sich natürlich auch entsprechend von anderen Gruppen abgrenzen oder abgegrenzt werden). In der Gruppenidentität spielen raumbezogene Aspekte ebenfalls eine Rolle: Gruppen können einen bestimmten Raumausschnitt als Bestandteil eines Zusammengehörigkeitsgefühls wahrnehmen, so dass der Raumausschnitt Teil eines „Wir- Bewusstseins“ wird (ebda.). In Anlehnung an den Begriff der „signifikanten Anderen“ ver- wenden WALDENFELS (1987: 493) und WEICHHART, WEISKE, WERLEN (2006: 35) den Begriff der „signifikanten Orte“. Einige der oben genannten Persönlichkeitsmerkmale verweisen auf Positionen im physischen Raum. Dies können sein: Geburtsort, Wohnort, Staatsangehörigkeit, Orte der sozialen Interaktion, räumlich-soziale Milieus und so weiter. Das Individuum bewer- tet bestimmte Objekte des Raumes, zu denen es einen emotionalen Bezug hat, und identifi- ziert sich mit ihnen (identification with). Identifizieren bedeutet, dass dem Individuum Ge- meinsamkeiten und Unterschiede bewusst werden (GRAUMANN 1983: 310). Durch Identifika- tion kommt es zu einem Gefühl der Loyalität gegenüber gewissen Raumobjekten und zu emo- tionaler Betroffenheit, das dazu führt, sich für eine Region oder einen Ort verantwortlich zu fühlen. Dabei muss es sich nicht allein um Gebäude oder Siedlungen handeln, sondern es kann sich auch auf soziale Strukturen und Normensysteme beziehen (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 36).

Im Identifikationsprozess mit Raumobjekten oder Raumausschnitten gibt es solche, die sich mehr oder weniger gut für Identifikationsprozesse eignen. Die Einprägsamkeit und Klarheit eines Siedlungskörpers kann sich ebenso auf Identifikationsprozesse auswirken wie die Unverwechselbarkeit von Raumobjekten. Spezifische Gestaltungsmerkmale einer Stadt haben den Effekt von Einzigartigkeit und wirken sich positiv auf das Individuum im Sinne von „being identified“ und „identification with“ aus. Eine wichtige Rolle kommt dabei historischen Gebäuden zu: durch die in Denkmälern manifestierte kollektive Geschichte einer Stadt, einer Region, eines Landes können sich hohe Identifikationspotenziale für das Individuum ergeben (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 89).

Nachdem Aspekte des Identitätsbegriffes für diese Arbeit ausführlich beleuchtet wurden, soll nun gezeigt werden, wie die bereits genannten Identifikationsprozesse „identification of“, „being identified“ und „identification with“ zur Ausbildung von Ich-Identität führen5.

GRAUMANN (1983) und WEICHHART (1990: 93) gehen davon aus, dass Identifikation durch diese drei Grundprozesse geleistet wird. In den folgenden Unterkapiteln werden die Identifikationsprozesse näher beleuchtet und definiert.

5.1.1 „ Identification of “

In einem ersten Schritt wird ein Objekt von einem Subjekt wahrgenommen und klassifiziert (GRAUMANN 1983: 311). Zu identifizierende Objekte können andere Menschen, Gegenstände, aber auch soziale Gegebenheiten sein (WEICHHART 1990: 17 f., 94). Dieser Prozess wird als „Identification of“ bezeichnet. Der Prozess des Identifizierens besteht darin, sich die Identität eines Objektes zu verdeutlichen. Die Identität eines Objektes ist durch die Position im physi- schen Raum und durch seine Eigenschaften definiert (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 32 f.). Wenn wir von bestimmten Raumausschnitten sprechen, indem wir Städtenamen, Straßenviertel oder Naturräume nennen, haben wir doch zumindest eine Idee davon, wo dieser Raumausschnitt liegt und welche Eigenschaften er ungefähr besitzt. Das bewusste Wahrnehmen und Klassifizieren von derlei Objekten setzt beim erkennenden Subjekt eine kognitive6 Struktur voraus (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 32).

5.1.2 „ Being identified “

Im diesem zweiten Grundprozess des Identifizierens spielt die Identität von Subjekten eine Rolle; das beobachtende Subjekt wird selbst beobachtet und identifiziert und ist somit Teil eines Identifikationsprozesses. Die früheste Form des Identifiziert-Werdens setzt in Form von nonverbaler und später verbaler Kommunikation in der Mutter-Kind-Dyade ein. Mit zuneh- mendem Alter lernt das Kind seinen Namen, dass es eine Tochter/ein Sohn ist, dass es Teil einer Familie ist, in einer bestimmten Stadt wohnt und diese und jene Freunde hat. Dabei werden ebenfalls Klassifizierungen vorgenommen: dem Subjekt werden bestimmte Merkmale zugewiesen, mit denen Rollenerwartungen verknüpft sind. Bedingt durch die Herkunft oder den derzeitigen Wohnort spielt auch in diesem Identifikationsprozess die räumliche Klassifi- kation eine Rolle; Menschen werden oftmals aufgrund ihrer Herkunft bestimmte, für Regio- mich im Sinne einer besseren Lesbarkeit für Verwendung dieser Kurzformen der Identitätsprozesse entschieden (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 39, 54, 56). nen typische Charaktereigenschaften zugesprochen. Der Prozess des „being identified“ ist also insofern für das Individuum von Bedeutung, indem es dazu gezwungen ist, sich mit den von außen vorgenommenen Kategorisierungen auseinanderzusetzen; es kann die zugespro- chenen Attribute entweder internalisieren oder versuchen sich von ihnen zu distanzieren. Ent- sprechend spielt dieser Prozess eine bedeutende Rolle bei der Identität von Gruppen; indem Individuen als Zugehörige einer Gruppe klassifiziert werden, findet gleichzeitig die Abgren- zung zu anderen Gruppen statt („Wir“ und „Die Anderen“). In diesem zweiten Prozess der Identitätsbildung bezieht sich also die raumbezogene Identität auf die kognitive Bewertung von Subjekten im Bewusstsein von anderen Individuen (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 33; WEICHHART 1990: 17).

5.1.3 „ Identification with “

Der dritte Identifikationsprozess bezieht sich auf Identifikation einer Person mit dem, was die Umwelt bereithält: eine Person kann sich mit einem Gegenstand, einer anderen Person oder sogar Nicht-materiellem wie zum Beispiel Werten und Ideen identifizieren („identification with“) (WEICHHART 1990: 17). Dabei wird das betreffende Objekt als ein Teil in das Konzept der eigenen Ich-Identität eingebaut (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 34).

WEICHHART (1990: 20) weist darauf hin, dass bei den beschriebenen Identifikationsprozessen zu beachten ist, dass diese aus analytischen Gründen getrennt zu betrachten sind und daher einzeln beschrieben werden. In der realen Identitätsbildung von Individuen sind diese un- trennbar miteinander verbunden, greifen ineinander und bedingen sich gegenseitig. Es dürfte klar sein, dass beispielsweise dem dritten Identifikationsprozess der Prozess des „identificati- on of“ vorausgehen muss; durch die Wahrnehmung und Bewertung der Umwelt erhält das Individuum kognitive Konstrukte, die als Bezüge für eine Identifikation mit bestimmten Ob- jekten aus der Umwelt helfen.

Um die vorangegangenen Ausführungen auf den Punkt zu bringen: die Ausbildung der Identi- tät erfolgt also im Laufe der Sozialisation. Die entsprechenden subjektiven Bewertungen und Wahrnehmungen sind vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werte sowie politischer Bedingungen zu sehen. Die Darstellung der drei unterschiedlichen Identifikationsprozesse zeigt, dass Identifikation sich auf Individuen oder auch Gegenstände beziehen kann. Folgende Beispiele sollen dies verdeutlichen: Statusobjekte wie teure Autos oder Kleider können Ausdruck unserer Vorlieben und unseres beruflichen Erfolges sein. Ob- jekte aus der Kindheit helfen uns nicht nur beim Erinnern an die Vergangenheit, sondern sind auch Ausdruck unserer individuellen Biographie. Das Sammeln von Fotos und Anlegen von Familienalben stärkt die Gruppenzugehörigkeit und die eigene Ich-Identität. Des Weiteren haben die Ausführungen gezeigt, dass Nicht-materielles wie Werte, religiöse Vorstellungen oder Träume in Identifikationsprozessen eine wichtige Rolle spielen (WEICHHART 1990: 17 f.). Folgendes Zitat von C. F. GRAUMANN (1983: 312) verdeutlicht dies sehr gut: „It is his symbolic function which also permits things (as a distinct from persons and groups) to be- come objects of identification. Not only may a house stand for one`s home and family, a ca- thedral for one`s religious belief, a splendid car for one`s level of achievement and high sta- tus; even minor everyday objects…may symbolize persons, relations, events from our indi- vidual and social biographies”. Ein weiterer, besonders wichtiger Faktor für diese Arbeit, ist die Wirkung von Orten im Identitätsprozess (WEICHHART 1990: 18 f.). Während der drei un- terschiedlichen Identifikationsprozesse kann die Identitätsbildung eines Individuums also über das Miteinander mit anderen Personen, mit Gegenständen, mit Orten oder Nicht-materiellem erfolgen (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 32 f.).

Wie bereits auf Seite 12 beschrieben, steht die raumbezogene Identität jedoch nicht nur die wahrgenommene Identität eines Raumausschnittes durch Individuen; in der Begriffsbedeu- tung raumbezogener Identität muss ein Perspektivenwechsel berücksichtigt werden. Raumbe- zogene Identität bedeutet, aus einer anderen Perspektive, die Identität von Personen in Bezug auf einen bestimmten Raumausschnitt. Hierbei wird die Bewertung eines Raumausschnittes in das Konzept der eigenen Ich-Identität einbezogen. Dadurch kann sich innerhalb von Gruppen ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Die Umwelt eines Individuums oder einer Gruppe kann also auch als Projektionsfläche verstanden werden und als Medium von Ich- Darstellung dienen (WEICHHART 1990: 23). Besonders deutlich wird die Bedeutung der Um- welt im Selbstkonzept beispielsweise in Bezug auf die eigene Wohnung. Die Gestaltung des Lebensumfeldes kann als Ich-Darstellung und Ausdruck eigener psychischer Vorgänge ver- standen werden (WINTER U. CHURCH 1984: 80). Eine zwangsweise Umsiedlung aus einem Eigenheim oder der eigenen Wohnung kann daher oftmals bei betroffenen Individuen zu Trauer und sogar zu Identitätskrisen führen (WEICHHART 1990: 24).

5.2 Der Begriff der raumbezogenen Identität und das Problem der Maßstabsbezüge

Wie bereits aufgezeigt, existieren Individuum und Umwelt nicht unabhängig voneinander, sondern sind wechselseitig miteinander verbunden. Das Individuum ist Teil seiner Umwelt und macht sich wiederum Teile der Umwelt zu Eigen. Dieses Aneignen von Umwelt ge- schieht über die aktive Gestaltung und Auseinandersetzung mit physischen Gegebenheiten, die im Gegenzug eine bestimmte Wirkung auf die Menschen ausübt. Diese bestimmten Orte, Regionen, Raumausschnitte können sehr individuell und von Emotionen beeinflusst wahrgenommen werden (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 21).

An dieser Stelle stellt sich für den Geographen selbstverständlich die Frage nach der genauen Definition des Begriffs „Raumausschnitt“7. Dabei handelt es sich nicht um klar umrissene Raumeinheiten einer bestimmten Größe oder mit bestimmten Merkmalen (siehe auch Kapitel 3: “Raum“). WEICHHART definiert Raumausschnitte als „Gegenstände der alltagspraktischen Erfahrung“ (1990: 20). Sie werden vom Individuum wahrgenommen, eingeordnet und durch Einschätzung und Einordnung als Konstrukt handhabbar. Unterstützend dabei wirkt die Kommunikation; indem wir über bestimmte Orte oder „Raumausschnitte“ sprechen (mit Hilfe von Straßennamen, Städtenamen oder Ländernamen), machen wir ein Handeln in unserer Umwelt möglich und treten mit unserer Umwelt in Interaktion. Raumausschnitte können also die eigene Wohnung betreffen oder sich auf Stadtteile, Regionen oder ganze Staaten beziehen (siehe Abbildung 2) (WEICHHART 1990: 20 f.).

WEICHHART, WEISKE und WERLEN bezeichnen die unterschiedlichen Bezüge auf mikroräum- liche, lokale, regionale und nationale Raumausschnitte im Identitätsprozess als „Maßstabs- probleme“ (2006: 84). Die Gestaltung des eigenen Hauses oder Gartens kann für die Identi- tätsbildung eines Menschen ebenso wichtig sein wie ein Großereignis, das sich auf nationaler Ebene abspielt (z.B. WM 2006 in Deutschland). Jedoch dürfte aus der Perspektive des Indivi- duums die lokale Maßstabsebene von primärer Bedeutung sein, weil auf dieser Ebene die Grundfunktionen, die für die Bildung der Ich-Identität von Bedeutung sind, unmittelbar erfah- ren werden. Das eigene Haus, die eigene Wohnung und der Arbeitsplatz bilden ein soziales Netzwerk, das unmittelbar erfahren wird und eine „subjektive Mitte der Welt“ bildet (WEICHHART 1990: 77). Auch der regionalen Ebene kann durch zunehmende Mobilität eine wachsende Bedeutung eingeräumt werden; Zweitwohnsitze, die Trennung von Wohn- und Arbeitsort bei Pendlern oder wiederholte Besuche bei im Ausland lebenden Bekannten kön- nen ebenfalls eine nicht zu verachtende Rolle in der persönlichen Identitätsbildung spielen (EBERT 2004: 72 ff.; WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 85). Wie auch Abbildung 2 zeigt, können Gruppen in größeren Maßstabsbereichen jedoch nicht interaktionistisch existieren, sondern nur symbolisch. Wenn auch für das persönliche Empfinden des Individuums größere Maßstabsbereiche eine geringere Rolle spielen, so sind sie für die Identitätsbildung jedoch nicht unwichtiger; durch Generalisierungsprozesse können Emotionen und Identifikationen auf größere Maßstäbe wie Nationen ausgeweitet werden (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 84). Durch Übertragung können Raumausschnitte oder Objekte vom Individuum zu Eigen gemacht werden, was eine wichtige Rolle bei der Bildung von Images von Raumobjek- ten spielt (WINTER U. CHURCH 1984: 82).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Wirkungsbereiche raumbezogener Identität

Quelle: W EICHHART ,W EISKE ,W ERLEN 2006: 85

Ausgehend von den Identifikationsprozessen, die in Kapitel 5.2 vorgestellt wurden, lässt sich in Bezug auf die Maßstabsprobleme nach WERTHMÖLLER (1995: 87) Folgendes feststellen: im Prozess des „identification of“ kann jeder Maßstabsbereich identifiziert werden. Wenn auch der zu identifizierende Raumausschnitt möglicherweise nicht selbst erfahren werden kann, weil er zu großräumig ist oder zu weit entfernt liegt, so findet jedoch der Zugang zu Informa- tionen über die Kommunikation statt. Beim Prozess des „identification with“ kann sich das Individuum sowohl mit Raumausschnitten auf lokaler Ebene als auch auf nationaler Ebene identifizieren. Jedoch kann das Individuum, als Ergebnis dieses Prozesses, bestimmte Raum- ausschnitte als Teil seiner Ich-Identität annehmen oder ablehnen. Auf den Prozess des „being identified“ geht WERTHMÖLLER nicht weiter ein; da jedoch in diesem Prozess das Individuum selbst als Objekt und identifiziert wird, kann aber vermutet werden, dass hierbei insbesondere face-to-face-Kontakte auf lokaler Maßstabsebene von Bedeutung sind. Jedoch kann die Iden- tifikation nach formalen Beschreibungsmerkmalen eines Individuums durch Abruf persönli- cher Daten von Behörden auf nationaler oder transnationaler Ebene erfolgen, so dass also auch größere Maßstabsebenen im Prozess des „being identified“ eine Rolle spielen (ebda.).

Somit sind alle Maßstabsbereiche für die Identifikationsprozesse und die Bildung von Ich- Identität von Bedeutung. In Abhängigkeit zum jeweiligen Kontext kann jedoch die Bedeutung eines Maßstabs einmal mehr oder einmal weniger wichtig sein. Bei dem vorliegenden Unter- suchungsgegenstand der Mainzer Zitadelle ist der lokale Maßstab von Bedeutung; die Fragen des Leitfadens beziehen sich auf Identifikationspotenziale der Zitadelle und der Stadt Mainz und damit auf die unmittelbaren Lebensumfelder und täglichen Aktionsradien der Inter- viewpartner.

5.3 Ergebnisse und Nutzenfunktionen raumbezogener Identität

Nachdem die Prozesse diskutiert wurden, die zur Ausbildung und Stabilisierung der IchIdentität führen, sollen im folgenden Kapitel verschiedene Ergebnisse und Nutzenfunktionen raumbezogener Identität erörtert werden.

5.3.1 Sicherheit

Ein sehr entscheidender Nutzen raumbezogener Identität liegt in der Erhaltung des Grundbe- dürfnisses „Sicherheit“. Indem wir Objekte unserer Umwelt erfassen und bewerten, interpre- tieren wir unsere Umwelt und machen sie uns verständlich. Eine sich ständig ändernde Um- gebung müsste immer wieder aufs Neue entdeckt, erfahren und bewertet werden. Die Vorstel- lungen in unseren Köpfen von unserer näheren Umgebung, in der wir uns tagtäglich bewegen, müssten immer wieder verändert und modifiziert werden, um handlungsfähig zu bleiben (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 61f.). Man kennt das Gefühl, wenn man in eine unbe- kannte Stadt, in ein unbekanntes Land fährt und zunächst Probleme hat sich zu orientieren. Indem wir lernen, uns im Raum zu orientieren und wissen, welche Wege wir zurücklegen müssen, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen (Essen, Schlafen, Arbeiten…) bleiben wir handlungsfähig und autonom. Autonomie macht uns zu unabhängigen und selbstbestimmten Wesen. Eine gleich bleibende Umgebung, die uns bekannt ist, trägt zur psychischen Komple- xitätsreduktion unserer Umgebung und somit zu unserem Sicherheitsempfinden bei. Diese Erfahrung von Konstanz ist hauptsächlich ein Resultat des Prozesses des „identification of“ und eine Vorbedingung zur Ausbildung und Festigung von Ich-Identität (WEICHHART 1990: 35 f.). Vor allem spielen hier die nähere Umgebung wie die Wohnung oder das Stadtviertel, in dem man lebt, welche hierbei eine große Rolle spielen. Die nähere Umgebung dient als Pro- jektionsfläche für das Individuum: Objekte und Raumausschnitte dienen der Selbstdefinition und machen es möglich, sich nach außen hin zu positionieren und definieren. Das trägt wiede- rum zur Stärkung der Ich-Identität und zur Entwicklung von Loyalitätsgefühlen bei. Diesen Loyalitätsgefühlen kommt eine entscheidende Bedeutung im Stadtmarketing zu (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 62).

5.3.2 Aktivität und Stimulation

Die zuvor genannte Ausbildung von Autonomie und Handlungsfähigkeit umschreibt Weich- hart mit den Begriffen „Aktivität“ und „Stimulation“: die identifizierten Objekte, Raumaus- schnitte, anderen Individuen usw. können zu bestimmten Handlungen anregen oder bestimmte andere Handlungen erschweren. Diese Handlungen können vermitteln, dass eine Person in bestimmte Bereiche seiner Umwelt eingreifen, sie gestalten und verändern kann (WEICHHART 1990: 37). Ein Ort, den das Individuum beinahe unbegrenzt gestalten kann, ist die eigene Wohnung oder das eigene Haus. Während der öffentliche Raum von unzähligen Verboten und Geboten durchdrungen ist, jegliches abweichendes „unnormales“ Verhalten schnell mit bösen Blicken Anderer oder Kommentaren sanktioniert wird, ist der Mensch im privaten Raum un- gestört und in seinen Handlungen viel freier. Das eigene Heim wird deshalb auch als ein „Ort des leichten Handelns“ bezeichnet (BOESCH 1983: 350). Von dem menschlichen Bedürfnis, in die eigene Umwelt einzugreifen und sie zu gestalten, profitieren lokale Bürgerinitiativen oder Vereine und Ehrenämter (WEICHHART 1990: 38).

5.3.3 Soziale Interaktion

Durch das Eingreifen und Verändern der eigenen Umwelt ergibt sich in der Regel ein Mitei- nander zwischen den Individuen. Daher hängt das nächste Resultat raumbezogener Identität, nämlich „Soziale Interaktion“ eng mit dem vorher genannten zusammen. Unsere Umwelt, das Gesicht einer Stadt oder die Gestalt eines Dorfes sind Ergebnisse von Kommunikation, also sozialer Interaktion zwischen Menschen. Mit Bezug zu HALBWACHS (1967) lässt sich sagen, dass der Mensch im physischen Raum Elemente des „kollektiven Gedächtnisses“ ausdrückt.

Das kollektive Gedächtnis ist Ausdruck kollektiver Werte einer Gesellschaft, die in Elemen- ten des physischen Raumes (Bauwerken, Statussymbolen, Grenzen…) manifestiert werden (WEICHHART 1990: 39 f.).

5.3.4 Individuation

Eine weitere Folge raumbezogener Identität ist die Individuation. Diese Folge vereint Teilnut- zen der bereits zuvor genannten Aspekte und hat daher Ergebnischarakter. Indem der physi- sche Raum Ausdruck kollektiver Werte ist und als Projektionsfläche für das Ich fungiert, kommt es zur Gleichsetzung von Person und Umwelt. Sowohl durch Klassifizierung als auch durch positive sowie negative Bewertung werden Repräsentationen der Umwelt in Form von kognitiven Strukturen zugänglich und kann für die Identitätsbildung genutzt werden. Beson- ders stark lässt sich dies in der unmittelbaren Umgebung eines Einzelnen erkennen, zum Bei- spiel der eigenen Wohnung, die als Spiegelbild der eigenen Persönlichkeit empfunden wird (WEICHHART 1990: 40 f.).

Damit ergibt sich als Zusammenfassung der theoretischen Ausführungen des Kapitels 5 folgendes Schaubild, das die drei Identifikationsprozesse sowie ihre Bedeutungen für die Ausbildung und Stärkung von Ich-Identität verdeutlicht:

Abbildung 3: Die identitätsbildenden Prozesse und ihr Nutzen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an WEICHHART 1990 und WEICHHART , WEISKE , WERLEN 2006

Die raumbezogene Identität leistet nicht nur für einzelne Individuen, sondern auch für Grup- pen Stabilisierung. Indem Personen andere Personen in ihrer Umgebung, an ihrem Wohnort, in ihrer Wohnung wahrnehmen, werden diese klassifiziert - oder anders ausgedrückt - man „macht sich ein Bild von jemandem“. Indem eine Person klassifiziert oder in ein soziales Um- feld eingeordnet wird, findet gleichzeitig wieder eine Komplexitätsreduktion eines Charak- ters, eine Vereinfachung statt. Nicht selten geht dieser Vorgang mit Vorurteilen oder der Bil- dung von Klischees einher. Einerseits können Klischees oftmals unerwünschte Wirkungen haben, andererseits kann die gezielte Bildung und Förderung von Klischees in der Bildung von Images im Stadtmarketing eine gewünschte Wirkung haben. Soziale Bindungen zwischen Individuen, die einen räumlichen Bezug haben, zum Beispiel Nachbarschaften, Stadtviertel oder Regionen, geben den einzelnen Individuen ein Gefühl von Heimat und Sicherheit. Menschen, die sich mit ihrer Heimat oder ihrem Wohnort verbunden fühlen, sehen sich eher mitverantwortlich für ihre Umwelt und engagieren sich in Vereinen oder in der Brauchtumspflege und zeigen Interesse an Wahrzeichen und Denkmälern, die für eine Stadt oder Region einzigartig sind (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 62 ff.).

Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass die bereits genannten positiven Effekte raumbezo- gener Identität in übertriebener Form in negative Effekte umschlagen können: die in der Hei- mat erfahrene Sicherheit und das Wir-Gefühl als Abgrenzung gegenüber Anderen kann sich in Engstirnigkeit, Intoleranz und Ausgrenzung steigern. In dieser Form ist Ausländerhass als eine negative Erscheinungsform übertriebener raumbezogener Identität in den Medien immer wieder wahrnehmbar. Vor allem Gesellschaften oder Bevölkerungsgruppen, die sich in öko- nomischen Krisen befinden, sind für diese Ausgrenzungstendenzen mit entsprechenden Feindbildern besonders empfänglich (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 94 f.).

Im Laufe der empirischen Untersuchung zur Mainzer Zitadelle wurden Personen befragt, die sich unterschiedlich stark mit Mainz und mit der Mainzer Lebensart verbunden fühlen und diese Stadt als ihre Heimat bezeichneten. Es wird gezeigt werden, dass sich besonders dieje- nigen Personen, die sich sehr stark mit Mainz verbunden fühlen, die also in Mainz geboren sind, Mainz als ihre Heimat bezeichneten, großes Engagement in Bezug auf die Zitadelle zei- gen. Viele von ihnen sind nicht nur in Bezug auf die Zitadelle sehr aktiv, sondern engagieren sich in vielfältiger Weise (z.B. politisch, in Vereinen, im Ehrenamt…) und gestalten somit aktiv ihr unmittelbares Lebensumfeld. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Interviewpartner mit Mainz und ihrer Arbeit, die sie in Bezug auf die Zitadelle leisten, identi- fizieren. Die Zitadelle, als ein Denkmal von Mainz, bietet für die interviewten Personen ge- wisse Identifikationspotenziale. Welche Identifikationspotenziale dies sind und wie stark sie sind, hängt von den Interviewpartnern und ihren Absichten in Bezug auf die Zitadelle ab. Dies wird ausführlich in den Kapiteln 8 und 9 analysiert werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir durch die beschriebenen Identitätsprozesse, die sich aus der raumbezogenen Identität ergeben, Vereinfachungen, Klassifizierungen und Be- wertungen unserer Umwelt und der darin verorteten Individuen vornehmen, was für jeden Einzelnen zu Autonomie, Handlungsfähigkeit und Sicherheit führt. Die Resultate bedeuten für das Individuum eine stabile Ich-Identität und für die Gesellschaft eine Stabilisierung der herr- schenden Verhältnisse (WEICHHART, WEISKE, WERLEN 2006: 64). Nachdem das Konzept der raumbezogenen Identität vorgestellt wurde, soll das nächste Kapitel von der Bedeutung von Identität im Stadtmarketing handeln. Es wird gezeigt werden, dass das Konzept der raumbe- zogenen Identität einige durchaus bedeutende Ansätze für die Vermarktung von Orten bereit- hält.

6. Bedeutung von Identität im Stadtmarketing

Bedingt durch zunehmend ähnliche Standortfaktoren wird die Konkurrenz zwischen Städten immer stärker und die gezielte Vermarktung von Städten immer wichtiger. Harte Standortfak- toren, wie zum Beispiel Steuervorteile oder Bodenpreise, werden dabei zunehmend durch weiche Standortfaktoren wie Images oder Kulturangebote abgelöst. Durch erhöhte Mobilität bekommen nachfrageorientierte Standortfaktoren eine größere Bedeutung (KÜHNE 2008: 15,64). Auch die bereits in der Einleitung genannten politischen Veränderungen spielen hier- bei eine wichtige Rolle; durch das zusammenwachsende Europa werden räumliche Distanzen und kulturelle Unterschiede zwischen Ländern und Regionen zunehmend unbedeutender (KÜHNE 2008: 64; WERTHMÖLLER 1995: 1). Bestehende Werte- und Normenvorstellungen werden in heterogenen Gesellschaften ständig hinterfragt und unterliegen einem Wandel. Die- se Veränderungen haben bedeutende Herausforderungen für Städte zur Folge, die es mit Hilfe von Marketinginstrumenten anzugehen gilt (KÜHNE 2008: 15,66). Abbildung 4 fasst die be- deutendsten Veränderungen der letzten Jahrzehnte zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Herausforderungen für Städte

Quelle: K ÜHNE 2008: 67

Auch im Bereich des Tourismus verschärft sich die Konkurrenz zwischen Städten zusehends. Das Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz weist in der Tourismusstrategie 2015 auf eine verschärfte Konkurrenzsituation im Tourismus hin (MINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT, VERKEHR, LANDWIRTSCHAFT UND WEINBAU 2008: 6). Um weiterhin im Wettbewerb mit anderen Städten bestehen zu können, müssen deshalb zielgruppenorientierte Angebote mit Alleinstellungsmerkmalen erarbeitet werden. Dieser Prozess muss Teil eines umfassenden Städtemarketings8 sein, dessen Ziel es ist, Touristen, Institutionen und Unternehmen, die Vermögen in die Stadt bringen, anzulocken. Ähnlich wie ein Unternehmen versucht, beim Konsumenten Interesse für sich oder sein Produkt zu wecken, soll im Stadtmarketing das Interesse an einer Stadt, einem Standort, einem geographischen Raum geweckt werden. Wenn man so will, handelt es sich bei der Stadt um das zu vermarktende Produkt. Das Produkt oder die Stadt soll so interessant wie möglich und vor allen Dingen einzigartig sein (KÜHNE 2008: 70 f.).

[...]


1 Italienisch „citadella“= kleine Stadt; stellt ein besonders stark befestigtes Bauwerk innerhalb einer Festung oder Stadt dar. Die Zitadelle weist einen sternförmigen Grundriss auf und ist von der restlichen Festung durch Gräben und Schussfeld getrennt (KOEPF, BINDING42005: 519; HEINEBERG22001: 203; Initiative Zitadelle Mainz e.V. 2004: 15).

2 An dieser Stelle sei verwiesen auf WARDENGA (2002), HARD (2003)

3 LALLI definiert Selbstkonzept als „subjektive Repräsentation des Selbst[s]“, als „komplexe kognitive Struktur, in der selbstbezogene […] Bewertungen, Überzeugungen usw organisiert sind (1989: 10).

4 Aufgrund sozialer oder kultureller Werte und Normen sowie persönlicher Erfahrung nehmen wir Gegenstände unserer Umwelt oder Orte auf eine bestimmte individuelle Weise wahr, bewerten und definieren sie. Durch diese individuelle Bewertung kann Ortsidentität als ein Teil von Selbstidentität bezeichnet werden. Ortsidentität ist dabei nur ein Aspekt verschiedener Identitäten wie zum Beispiel Geschlechtsidentität, ethnische Identität, religi- öse Identität usw., die die eigene Identität bilden. GRAUMANN benutzt hier den Begriff der „multiplen Identitä- ten“ (LALLI 1989: 11).

5 WEICHHART (1990: 16f.) verwendet synonym die Begriffe „Identifikation I“ (=identification of), „Identifikati- on II“ (=being identified) und „Identifikation III“ (=identification with). GRAUMANN (1983) hingegen arbeitet mit den Begriffen “Identification I: identifying the environment“, „Identification II: being identified“ und „Iden- tification III: identifying with one`s environment”. WEICHHART, WEISKE und WERLEN verwenden im späteren Werk von 2006 die kürzeren Versionen „identification of“, „being identified“ und „identification with“. Ich habe

6 Kognitive Leistungen umfassen psychische Prozesse, die mit dem Erkennen der Umwelt und Informationsverarbeitung zu tun haben. Kognitiv oder Kognition bezieht sich auf die Gesamtheit der nicht-emotionalen und nicht den Willen betreffenden psychischen Vorgänge. Unter anderem sind dafür folgende Vorgänge wie zum Beispiel Wahrnehmung, Denken, Sprache, Intelligenz, Verstehen, Bewerten, Erinnerung, Entscheidung, Beurteilung u.v.m. nötig (MICHEL, NOVAK221975: 219; SCHRADER 2005: 173). WEICHHART, WEISKE und WERLEN (2006: 32) definieren „kognitiv“ als die „Gesamtbedeutung eines gedanklichen Konstrukts“, bei dem nicht nur eine reine Wissenskomponente, sondern auch Emotionen eine Rolle spielen. Die Autoren sprechen daher auch häufiger von „kognitiv-emotiven Strukturen“ (ebda.).

7 Während WEICHHART, WEISKE und WERLEN (2006: 84 - 89) eine Unterteilung in mikroräumliche, lokale, regionale, nationale und transnationale Maßstabsbereiche vornehmen, nimmt WERTHMÖLLER (1995: 84-89) bei der Übertragung des Konzepts der raumbezogenen Identität auf das Stadtmarketing eine Unterteilung in Mikro-, Meso- und Makromaßstab vor. Der Mikromaßstab umfasst den Wohnraum sowie den Raumausschnitt, in dem sich das Individuum tagtäglich bewegt. Der Mesomaßstab ist geprägt durch eine größere räumliche Ausdehnung und dem Individuum nur zum Teil aus eigener, persönlicher Erfahrung bekannt. Kenntnisse über Raumaus- schnitte der Mesoebene resultieren auch schriftlichen oder mediengestützten Informationen. Der Unterschied zwischen Meso- und Makromaßstab liegt in seiner größeren räumlichen Ausdehnung. Individuelle Kenntnisse darüber beschränken sich auf einzelne Punkte dieses Raumausschnittes. In jedem Fall sind die Übergänge zwi- schen den einzelnen Unterteilungen fließend; genaue Eingrenzungen der einzelnen Raumausschnitte werden von den Autoren nicht vorgenommen (WEICHART 1990: 75 - 80).

8 Von Städte- oder Stadtmarketing wird gesprochen, wenn es um die Schaffung eines starken Images einer ein- zelnen Stadt oder eines Ortes geht. Entsprechende Marketingprozesse können sich jedoch auch auf größere Maß- stäbe beziehen, auf Regionen, die geographisch, wirtschaftlich, geschichtlich oder politisch miteinander verbun- den sind. Entsprechend wird dann von Regionen- oder Regionalmarketing gesprochen. Die Trennung in Regio- nen- und Städtemarketing ist jedoch künstlich; jede Stadt ist Teil eines größeren Raumausschnittes und somit Teil einer Region. WERTHMÖLLER schlägt daher den Begriff „Placemarketing“ vor, das die beiden Begriffe Stadtmarketing und Regionenmarketing miteinander vereint. In der vorliegenden Arbeit wird weiterhin der Be- griff „Stadtmarketing“ verwendet, da tatsächlich nur auf das Stadtmarketing der Stadt Mainz eingegangen wird (WERTHMÖLLER 1995: 14 f., 20).

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Subjektspezifische Identitätskonstrukte der Mainzer Zitadelle
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Geographie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
116
Katalognummer
V191051
ISBN (eBook)
9783656156314
ISBN (Buch)
9783656156451
Dateigröße
2906 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Identität, konstruktivismus, Regionale Identität, Zitadelle, Mainz, Konversion, Denkmal, Denkmalschutz, Landschaftsschutz, Konflikt Kultur und Natur, Open Ohr Festival
Arbeit zitieren
Bianca Spindler (Autor:in), 2011, Subjektspezifische Identitätskonstrukte der Mainzer Zitadelle, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191051

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