Der behinderte Mensch als Person

Theologische und philosophische Reflexionen zur Grundlegung einer wertgeleiteten Heilpädagogik


Etude Scientifique, 2012

152 Pages


Extrait


Inhaltverzeichnis

Einleitung

1. Heilp ädagogik und metaphysische Fragen
1.1 Die neuzeitliche Metaphysik-Skepsis
1.2 Auswege oder Aporien?

2. Personalit ät als Bezogenheit
2.1 Das Neue des christlichen Personenbegriffs
2.2 Die Definition von Boethius und die weitere Entwicklung
2.3 Der dialogische Personalismus

3. Personalit ät als Existenz
3.1 Die geschichtliche Entwicklung
3.2 Das empirische Personenverständnis

4. Rechtfertigung
4.1 Die Frage nach dem Christlichen
4.2 Die Frage nach der Metaphysik

5. Ethische Fragestellungen
5.1 Zur Verbindung zwischen Anthropologie und Ethik
5.2 Menschenrechte und Naturrecht
5.3 Bemerkungen zum Präferenz-Utilitarismus
5.4 Zur Fage nach dem Guten
5.5 Zur Verbindlichkeit von Werten

6. Bedeutung f ür die heilp ädagogische Praxis
6.1 Bemerkungen zum Phänomen der Behinderung
6.2 Bedeutung für die heilpädagogische Arbeit
6.2.1 Personalistische Haltung
6.2.2 Der Mensch und sein ethischer Anspruch
6.2.3 Liebe und Beziehung
6.2.4 Liturgie
6.2.5 Consolatio - Tröstung
6.2.6 Leiden und Mitleiden
6.2.7 Hingabe und Dienst
6.2.8 Grundlage für die heilpädagogische Arbeit

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Namensverzeichnis

Einleitung

Der Blick in die Geschichte macht klar: unser Verhältnis zu Menschen mit Behinderungen muss als misslungene Solidarisierung charakterisiert werden (Haeberlin 2005, 99). Zu keiner Zeit war die würdevolle Achtung von Behinderten und deren Lebensrecht gewährleistet. In neuerer Zeit zeigt sich sogar eine extreme Entsolidarisierung, indem behinderten Menschen das Personsein abgesprochen wird (Person wird hier als nomen dignitatis verstanden). "A Down's is not a person" hiess es bei Fletcher (zitiert bei Stolk 1988). Ins selbe Horn blies der Tierschutzphilosoph Singer mit seinen präferenz-utilitaristischen Thesen (Singer 1994). Singer begründete damit Schwangerschaftsabbruch und Früheuthanasie Behinderter. Auch in der Rechtsphilosophie vertrat Hoerster ähnliche Ideen: Menschenrechte (und somit auch das Recht auf Leben) gelten nicht für alle Menschen, sondern nur, insofern sie Personen sind, und schwerbehinderte Kinder sind es nicht (Hoerster 1995). Mit dieser Verweigerung der Anerkennung des Personen-status für (schwer)behinderte Menschen werden in der modernen Ge-sellschaft Ausschlussmechanismen sichtbar, die anthropologisch und ethisch hinterfragt werden müssen (Dederich 2008, 45; vgl. auch ders. 2001). Solche 'gesellschaftlichen Entsolidarisierungsprozesse' (Haeberlin 1996) stellen auf alle Fälle eine ausreichende Begründungsbasis dafür dar, dass die Diskussion über den Begriff der Person in der Heilpädagogik nicht abgebrochen werden darf.

Die Heilpädagogik kann sich einer solchen geschilderten Bedrohung der Würde behinderter Menschen nur widersetzen, wenn sie sich als wertgeleitete Wissenschaft versteht (Haeberlin 2005, 33-35). In diesem Sinne haben sich verschiedene Heilpädagogen zur Personalit ät eines jeden Menschen bekannt: Haeberlin tut dies im Zusammenhang seiner 'wertgeleiteten Heilpädagogik' und verbindet mit der Personalität Werte wie Würde, Gleichheit und Lebensrecht für alle (Haeberlin 1990, 93; ders. 2005, 33f). Speck macht in seinem 'System Heilpädagogik' auf die Ebenbildlichkeit oder Unmittelbarkeit zu Gott als Grundlage der Personalität des Menschen aufmerksam (Speck 1991, 200f; ders. 1993, 76f). Bleidick weist in einem anthropologischen Exkurs auf die für die Erziehungswirklichkeit wichtige Kategorie der 'Person' hin (Bleidick 1984, 439ff; vgl. auch ders. 2003, 43). Und Gröschke spricht von der Personalität als anthropologisch-ethischer Grundlage der Heilpädagogik und beruft sich dabei besonders auf Philosophen wie Hengstenberg und Lévinas (Gröschke 1997, 43ff).

Aber überall zeigt sich ein Dilemma: Obwohl Personalität irgendwie normativ verstanden wird, kann ihre Anerkennung offenbar nur auf einer subjektiven Wertsetzung, auf einer persönlichen Entscheidung beruhen (vgl. Bleidick 2003, 23). Speck stellt lapidar fest: "Normative Sätze sind der subjektiven Setzung vorbehalten" (Speck 1991, 204). Und bei Haeberlin werden die begründenden Werte primär der Emotionalität zugewiesen (vgl. Haeberlin 1990, 68).

Diese Problematik vertieft sich in Bezug auf den Personenbegriff zu einer weiteren Frage: die nach dem 'Wesen' des Menschen. So steht Bleidick einer objektiven Begründung von Personalität ablehnend gegenüber, weil diese einen Substanzbegriff von Person und damit ein gutes Stück Metaphysik beinhalte (Bleidick 2003, 23, 43). Seit der Reduktion der Heilpädagogik zu einer empirisch-kritischen Wissenschaft (ders.1984) wurde ja die Frage nach dem Wesen, nach objektiven Menschenbildern und Werten, als nicht zur Erziehungswissenschaft gehörig betrachtet. Auch Jakobs diagnostiziert im heilpädagogischen Kontext eine ontologisierende Betrachtungsweise der Person (Jakobs 1997, 154). In Anlehnung an die Anthropologiekritik der Kritischen Theorie wird darum der Personenbegriff bei ihm eher vermieden (ebd. 154, 169). Gröschke dagegen hält nicht nur am Personenbegriff fest, sondern im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren auch an dessen metaphysischer Be-gründbarkeit: "Ein absoluter Bezugspunkt im Sinne des Personenbegriffs erweist sich als metaphysische Setzung, die begründbar, aber nicht beweisbar ist" (Gröschke 1997, 46.) Deutlich wird eine solche von Bleidick und Jakobs kritisierte ontologisch-metaphysische Sichtweise etwa bei Hengstenberg, für den Person einen 'ontologischen Seinsgehalt' darstellt (Hengstenberg zitiert nach Gröschke 1997, 49) oder bei Marcel, der Person als 'Seinsmodus' des Menschen definiert (Marcel 1968).

Müssen wir also auf die Frage nach dem Wesen des Menschen oder auf den Begriff der Person verzichten? Gibt es heute, nach der 'Zertrümmerung der Metaphysik' durch Kant gar keine objektive Begründung von Menschenbildern mehr? Aber: können angesichts der ethischen Heraus-forderungen unserer Zeit rein subjektive Menschenbilder und Wert-entscheidungen genügen, oder verlieren diese durch ihre Subjektivität nicht jegliche (objektive) Verbindlichkeit? Die Infragestellung des Lebenswertes von behindertem Leben durch die Straffreiheit des Schwangerschafts-abbruchs bei medizinischer Indikation und die auch bei uns praktizierte Früheuthanasie schwerbehinderter Neugeborener (Kuhse/Singer 1993, 14f; vgl. dazu Speck 1993, 80f und Benz 1996, 13) deuten auf einen solchen Verlust der Verbindlichkeit von Werten und Menschenbildern in unserer Gesellschaft hin. Es wird hier ein zunehmender Individualismus sichtbar, der traditionelle metaphyische Bindungen aufgibt und in dem das Individuum seine Menschenbilder und Werte frei definiert und wählt (vgl. Marx 2007, 20). Aber gerade dadurch ergeben sich für unsere Gesellschaft Gefahren. Denn dieser selbstbezogene Individualismus propagiert auf der gesellschaftlichen Ebene die Negierung eines gemeinsamen Guten; er trägt dadurch zur Auflösung der Gemeinschaft bei und untergräbt damit selber die Fundamente einer liberalen Gesellschaft (ebd. 23). Die einleitend genannten Gedanken zur Entsolidarisierung von behinderten Menschen können in diesem Sinne so gedeutet werden, dass unserer in-dividualistischen Gesellschaft gemeinsame Menschenbilder und Werte abhanden gekommen sind, die uns helfen würden, jeden Menschen in seinem Dasein und in seinem Sosein zu tragen und zu begleiten. Des-wegen ist eine vertiefte Diskussion von anthropologischen und ethischen Grundlagen heute dringend notwendig (vgl. dazu Dederich 2001 und Jakobs 1997). Zu dieser Diskussion will diese Arbeit einen kleinen, fragmentarischen Beitrag leisten. Um die Ausgangslage meines Beitrags darzustellen, soll in einem ersten Kapitel zunächst das Verhältnis der Heilpädagogik zu ontologischen und metaphysischen Fragen betrachtet werden.

1. Heilp ädagogik und metaphysische Fragen

1.1 Die neuzeitliche Metaphysik-Skepsis

Unter Metaphysik wird in der Philosophie im allgemeinen die 'Seinslehre des Natürlichen' verstanden als metaphysis generalis; in einem ähnlichen Verständnis gilt Ontologie als die 'Lehre des Seienden'. Hinter dieser Seins-lehre wird aber in der klassischen Philosophie in einem tieferen Sinne eine metaphysis specialis als die 'Seinslehre des Übernatürlichen' postuliert (Wuchterl 1986, 191). Das wissenschaftliche Bewusstsein der Neuzeit ist hingegen von einer klaren Ablehnung von metaphysischem und ontologischem Denken geprägt. Wie ist es dazu gekommen? Ein flüchtiger Blick in die Philosophiegeschichte soll kurz diese Entwicklung nach-zeichnen.

Bei der Ablehnung von metaphysischem oder ontologischem Denken steht der antike Wesensbegriff (griech.: ousia; lat.: substanz/essentia; dt.: Wesen) im Hintergrund. Für Platon lag das Wesentliche der Dinge in ihren transzendenten Ideen (Aster 1980, 65ff). Sein Schüler Aristotoles wendet sich in seiner Metaphysik gegen die Ideenlehre seines Lehrers. Er definiert das Wesen als Substanz im Seienden selbst. Diese Substanz zeigt sich in einer Doppelstruktur: in der selbständigen Selbstheit (Vollrath 1983, 101ff). Die Selbständigkeit versteht sich dabei als das 'In-sich-stehen-Können', als das 'Nicht-Angewiesensein-auf-anderes' der Substanz (z.B. der einzelne Mensch als der selbständig Seiende). Mit der Selbstheit ist, in Anlehnung an die Ideenlehre Platons, eine Wesensbestimmung als das Was des Seienden vom Allgemeinen her gemeint, als seine Natur (z.B. der Mensch als vernünftiges Lebewesen). Aristotoles nannte die Einheit dieser beiden Momente das 'substantielle Wassein' eines Seienden (ebd. 117).

Dieser 'Wesensrealismus' (ebd. 89) der klassischen griechischen Denker war bis zum Ende des Mittelalters in der Philosophie präsent. In den aufkommenden Naturwissenschaften der Neuzeit, besonders bei Kepler und Galilei, traten jedoch zuerst die exakt beschreibbaren Naturgesetze an die Stelle der den Dingen innewohnenden aristotelischen 'Wesenheiten' (Aster 1980, 190f). In der Philosophie begrenzte dann vorallem Hume die Möglichkeiten einer Metaphysik: "We never really advance a step beyond ourselves" (zitiert bei Spaemann 2006, 74). Ähnlich auch Kant, der Meta-physik als "'vorkritisch' desillusionierte, das 'Ding-an-sich', also die Wesenstiefe des Wirklichen, als dem Menschen unerkennbar an den Rand der Philosophie rückte" (Ratzinger 1970, 82). Damit wurde die Reichweite der Philosophie bedeutend eingeschränkt und reduzierte sich fortan lediglich auf die Analyse der Möglichkeitsbedingungen menschlichen Erkennens, d.h. "auf das Ausleuchten der Gesetze des menschlichen Bewusstseins" (ebd. 82). Diesem 'engen Vernunftbegriff der Aufklärung' (Benedikt XVI. 2008) entsprach in der Reformation die Vorstellung einer stark eingeschränkten Fähigkeit der Vernunft als Folge des Sündenfalls (vgl. MacIntyre 1995, 78ff). Infolge dessen wurde dann in der Romantik bei Schleiermacher das Ethische und Religiöse nicht mehr der Vernunft zugewiesen (wie das im Mittelalter der Fall war); insbesondere die Re-ligiösität gehörte für ihn in den Bereich des Gefühls (Ratzinger 1970). Der Schritt der Infragestellung einer rationalen Ethik wurde aber bereits in der englischen Moralphilosophie vorweggenommen, in der Mandeville, Hutcheson und dann in ausgeprägter Form Hume eine rationalistische Ethik zurückwiesen (MacIntyre 1984, 153ff). Vernunft und Gefühl wurden hier so gegeneinandergestellt, dass die Ziele des moralischen Handelns "nur noch als Ergebnisse irrationaler Leidenschaften angesehen wurden, während die Vernunft nur im Hinblick auf die Mittel, solche Ziele zu erreichen, ihre Berechnungen anstellen konnte" (ebd. 71). Diese (protestantische) Tendenz noch radikalisierend hat Kierkegaard jegliche Kriterien objektiver Rechtfertigung in der Moral und auch in jedem anderen Bereich der menschlichen Existenz bestritten. Ethik wurde bei ihm ausschliesslich eine Frage der individuellen Entscheidung (ebd. 199). In der katholischen Tradition wurde dagegen, in Anlehnung an den Aristotoles-Interpreten Thomas von Aquin, die Rolle der Vernunft in Fragen der Metaphysik und der Ethik von jeher bedeutend positiver bewertet.

Im Neo-Positivismus schliesslich mit seiner Reduktion auf das empirisch Messbare wurde im Anschluss an Wittgenstein versucht, Philosophie "doch ganz exakt zu machen, indem sie überhaupt auf die unbeantwortbare Frage nach der Wirklichkeit verzichtet und sich auf die Analyse der menschlichen Sprache beschränkt" (Ratzinger 1970, 84). Diesem 'linguistic turn' erscheint sogar der Versuch Kants, das Bewusstsein auszuleuchten, als zu weit gesteckt, denn das unmittelbar Zugängliche ist nur die Sprache. Philosophie wurde so, nach der vorhergehenden erkenntnis-theoretischen Reduktion durch Hume und Kant, auf 'analytische' oder 'sprachanalytische Philosophie' eingeschränkt. Einer solchen analytischen Philosophie erschienen "die Probleme der Metaphysik nur (als) Scheinprobleme, denn letztlich (kann) es nur zwei Arten sinnvoller Sätze geben: solche Sätze, die man empirisch überprüfen und so gegebenfalls verifizieren konnte, und Sätze der Logik bzw. der Mathematik" (Marx 2007, 93). Aus diesem sprachanlytischen Postulat heraus mussten Begriffe wie 'Wesen', 'Wahrheit', 'Werte' oder 'Gott' schlicht als sinnlose Begriffe be-trachtet werden (ebd. 93). Typisch für eine solche Sichtweise ist die Äusserung des Neopositivisten Neuraths: "Alles ist Oberfläche: die Welt hat keine Tiefe" (zitiert bei Popper/Eccles 2008, 215).

In den Sozialwissenschaften (hier in der Nationalökonomie) war es Max Weber, der als erster einen neo-positivistischen Standpunkt im Sinne einer radikalen Wertfreiheit der Wissenschaft vertrat und damit den 'Werturteils-' oder 'Positivismusstreit' in den Sozialwissenschaften ausgelöst hat (Haeberlin 2005, 210). Von hier aus nahm dann das empirische Wissen-schaftsverständnis Einzug in die Pädagogik und in die Heilpädagogik, verbunden vorallem mit Namen wie Brezinka und Bleidick (vgl. Bleidick 1984).

Aber auch ausserhalb der positivistischen Strömung wurden ontologische Aussagen gerade im Bereich der Anthropologie im letzten Jahrhundert heftig bestritten. In der Frankfurter Schule der Kritischen Theorie reflektierte man insbesondere die Begrenztheit von anthro-pologischen Aussagen über das Wesen des Menschen. Im Gegenzug zu einer ontologischen Anthropologie betonten Horkheimer und Adorno den ausschnitthaften, perspektivischen Charakter jeder Aussage über den Menschen. Adorno spicht vom 'Nichtidentischen' und nach Kamper lässt sich diese kritische Haltung mit dem Begriff der 'anthropologischen Differenz' beschreiben. Kamper deutet dabei auf die Problematik hin, das Allgemeine (wie z.B. das Wesen des Menschen) mit dem Besonderen (d.h. das jeweilige Individuum) 'rücksichtslos' zu identifizieren, wobei hier natürlich primär Hegels Philosophie im Zentrum der Kritik steht (vgl. dazu Jakobs 1997, 112-115). Von einer existentialphilosophischen Seite her bestritt auch der französische Philosoph Sartre das Vorhandensein eines Wesens des Menschen. In diesem Existentialismus Sartres war der Mensch darum zur Freiheit verurteilt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Legitimität von Ontologie und Metaphysik im Verlaufe der Philosophiegeschichte bezweifelt wurde und im Rahmen der Aufklärung (bei Hume und Kant) durch eine kritische Erkenntnistheorie ersetzt wurde. In der darin sichtbar werdenden Ein-schränkung des für die Aufklärung wichtigen Vernuftbegriffs meldete sich aber schon im Keim das Ende der Aufklärung an (in anderer Weise auch bei Rousseau). Gleichzeitig wurde damit aber der Grund gelegt für die spätere Dominanz eines empiristischen, positivistischen und szientistischen Verständnis von Vernunft, welche jegliche metaphysische Dimenson leugnete. Der französiche Philosoph Gluckmann hat im Zusammenhang mit dieser Selbstbeschränkung der Vernunft ihr eine 'selbstmörderische Entsagung' vorgeworfen und spricht gar von einer "modernen Euthanasie der Vernunft" (Glucksmann 2008, 114). Ratzinger resumiert diese geschichtliche Entwicklung folgendermassen: "Das allgemeine kulturelle und philosophische Klima negiert heute die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Wahrheit erkennen zu k önnen. Die Rationalit ät wird einfach nur auf ihre instrumentalen utilitaristischen, funktionalen, berechnenden und soziologischen Aspekte reduziert. Die Philosophie verliert auf diese Weise ihre metaphysische Dimension" (Ratzinger 1998a, 108). Der in meinem Beitrag verwendete Begriff des Positivismus versteht darunter neben der philosophischen Strömung v.a. auch dieses neuzeitliche kulturelle Klima!

Im Bereich der Ethik zeigen sich dieselben geschichtlichen Ver-änderungen, indem die theologische Vorstellung eines gemeinsamen Guten und letztendlich auch die Vorstellung einer möglichen rationalen Begründbarkeit von Werten oder von Moral im allgemeinen bestritten wurde (vgl. dazu MacIntyre 1984 und 1995 und Marx 2007). Glucksmann spricht in diesem Kontext von einer 'Zerstreuung der Werte' (Glucksmann 2008, 110).

Objektive Menschenbilder und Werte gelten für die neuzeitliche Meta-physikkritik als nicht existent oder zumindest als nicht erkennbar . In der pädagogischen und heilpädagogischen Literatur wird implizit oder explizit von dieser erkenntnistheoretischen Voraussetzung ausgegangen. Im Gegensatz dazu soll in diesem Beitrag gefragt werden, ob es nicht doch eine objektive, d.h. ontologisch-erkenntnistheoretische Begründung von Menschenbildern geben kann (und welche Folgerungen sich damit für die Heilpädagogik ergeben würden). Konkreter könnte man formulieren: Ist Personalit ät als Wirklichkeit des Menschen erkennbar ? Zuvor muss aber gefragt werden, wie in der Heilpädagogik mit dem Dilemma zwischen dem Postulat einer wissenschaftlichen Wertfreiheit und einer gleichzeitig ge-forderten Orientierung an Werten umgegangen wird.

1.2 Auswege oder Aporien?

Auch eine Heilpädagogik, die sich nach Bleidicks grundlegendem Buch 'Die Pädagogik der Behinderten' (1984) in weiten Teilen einer empirisch-kri-tischen Wissenschaftstheorie und deren Wertfreiheit verschrieben hat, kann und will einer Antwort auf die ethischen Herausforderungen und Gefahren unserer Zeit nicht ausweichen. In diesem Sinne findet sie sich zusehens in einem Dilemma zwischen einerseits wertfreier Wissenschaft und andererseits normativer Orientierung vor, welche von einer wertgeleiteten Heilpädagogik angesichts der gesellschaftlichen Missachtung der Würde behinderter Menschen gefordert wird (vgl. oben Kapitel 1.1). Im folgenden sollen zwei verschiedene theoretische Ansätze beschrieben und kritisch beleuchtet werden, die sich als Auswege aus dieser Zwickmühle verstehen. Zum ersten soll Bleidicks eigener Antwortversuch dargestellt werden.

Bleidick (1984) bezeichnet sich selbst als Vertreter einer kritisch-em-pirischen Heilpädagogik, die sich als Gegensatz zu einer eher theologisch orientierten Heilpädagogik bei Bopp und Montalta und einer eher geistes-geschichtlich orientierten bei Hanselmann und Moor versteht. Als vor-rangiges Prinzip einer solchen Pädagogik sieht er die Werturteilsfreiheit. Das bedeutet, "dass in erfahrungswissenschaftlich gewonnene(n) Daten und Erkennntnisse(n) keine Werturteile einfliessen dürfen" (Faust 2007, 52). Der heilpädagogische Wissenschaftler darf zwar Werturteile abgeben, aber nicht in seiner Funktion als Wissenschaftler. Exakte Wissenschaft muss wertfrei bleiben und hat auch bezüglich einer pädagogischen Anthropologie nichts beizutragen. Hier steht Bleidick in der Nachfolge von Max Weber. Andererseits ist er sich natürlich der Bedeutung von Werten und Menschenbildern, besonders für die Heilpädagogik, bewusst. Diesen Gegensatz löst er, in Anlehnung an den empirischen Erziehungs-wissenschaftler Brezinka, durch die Differenzierung in eine Er-ziehungs wissenschaft und in eine Erziehungs philosophie auf: "Pädagogik ... findet ihre Ausrichtung in Erziehungswissenschaft und Erziehungsphilo-sophie. In der sich empirisch verstehenden Erziehungswissenschaft sind Wertvermischungen zu vermeiden. Erziehungsphilosophie als Wertaus-sagesystem hat die Aufgabe der Normenreflexion und Zielableitung. In der praktischen Pädagogik fliessen beide Betrachtungsweisen wieder zu-sammen" (Bleidick zitiert nach Faust 2007, 53). Aussagen zur Ethik und Anthropologie werden so ausschliesslich der (Erziehungs)philosophie zugeordnet (Jakobs 1997, 27).

Es stellt sich jedoch die Frage, ob Bleidicks Ausweg aus dem Dilemma von (empirisch-wissenschaftlicher) Wertfreiheit und (philosophischer) Wert-orientierung in dieser Form gangbar ist. Es muss nämlich darauf hinge-wiesen werden, dass sich auch der Philosophie selbst die gleichen Fragen und Probleme bezüglich werthaften Aussagen stellen wie der Pädagogik. Denn das "philosophische Denken der Neuzeit ist bei allen Gegensätzen ... doch von einer gemeinsamen Grundtendenz geleitet: von dem Bemühen, Philosophie zur exakten Wissenschaft zu machen" (Ratzinger 1970b, 81, Hervorh. A. A.). In der modernen Philosophie ist heute, vor allem im Gefolge der Anstösse von Wittgenstein, in weiten Teilen die 'Analytische Philo-sophie' mit einem wertfreien Positivismus zum Siege gekommen. Durch die Transponierung der normativen Fragen auf eine (erziehungs)philo-sophische Ebene wird die Frage nach der Legitimität von werthaften Aussagen in diesem Sinne also keinesfalls gelöst, sondern das zugrundeliegende Problem wird lediglich verschoben. Der Ausweg von Bleidick erweist sich somit als Aporie.

Haeberlin vertritt im Dilemma zwischen Wissenschaftlichkeit und Wertorientierung einen etwas anderen Standpunkt. Bereits in seiner Antrittsvorlesung (Haeberlin 1980) plädierte er für eine kritisch geläuterte Rückbesinnung auf die philosophisch-anthropologische und christliche Tradition der Schweizer Heilpädagogik, insbesondere bei Hanselmann und Moor (Jakobs 1997, 126). Er spricht in der Folge von einer wertgeleiteten Heilpädagogik (vgl. Haeberlin 2005). Diese muss von Werten wie der "Unverletzlichkeit von jeglichem menschlichen Leben, vom Wert der Gleich-wertigkeit aller Menschen bei extremster individueller Verschiedenartigkeit und vom Wert der unverlierbaren Würde jedes Menschen" geleitet sein (ebd. 33; vgl. auch ders. 1990). Dabei handelt es sich aber nach Haeberlin um Wertentscheidungen, die einer rationalen Begründung nicht zugänglich sind (ders. 1990, 11). Er übernimmt hier (unhinterfragt), wie auch Bleidick, die Perspektive der neuzeitlichen Metaphysik-Skepsis. Wertentscheidungen fordern dagegen beim Menschen so etwas wie eine religiöse Haltung, eine Religiösität, die Haeberlin als Möglichkeit einer wertgeleiteten Emotionalität versteht (ebd. 68). An anderer Stelle beruft er sich für wertgeleitetes Handeln und Denken auf einen "ausserrationalen Kern" (ders. 2005, 33).

Hier wird also normatives Handeln und Denken ganz im Sinne von Hume, der Romantik und auch des Positivismus von der Vernunft des Menschen gelöst und einer subjektiven, ausserrationalen oder emotionalen Ebene zugeordnet. Diese subjektive Wertentscheidung muss der Wissenschaftler (und auch der Praktiker) nach Haeberlin aber immer offenlegen. In dieser Forderung nach einer transparenten 'wertgeleiteten Forschung' kommt Haeberlin in der modernen Heilpädagogik sicherlich ein sehr grosses Verdienst zu. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass sich mit einer solchen Verschiebung des Normativen von einer objektiven, rationalen auf eine subjektive, emotionale Ebene, wie es für die Neuzeit allgemein typisch ist, auch Gefahren verbinden. Denn muss nicht befürchtet werden, dass subjektive Werte als blosse Äusserungen von privaten Gefühlen und Einstellungen im Sinne des Emotivismus missverstanden werden könnten. Der Emotivismus leugnet eine rationale Basis von Werten, denn "über Werte schweigt sich die Vernunft aus" (MacIntyre 1995, 44). Alle Überzeugungen und Werturteile werden hier nur als subjektive An-weisungen an Empfindung und Gefühl verstanden (ebd. 45; vgl. unten Kapitel 5.5). Und werden die Werte, die die Heilpädagogik vertritt, in diesem Sinne nur als Gefühle gedeutet, so verliert sie m.E. im öffentlichen oder wissenschaftlich-rationalen Diskurs jede Möglichkeit einer vernünftigen und argumentativen Verteidigung eben dieser Werte (ganz im Gegensatz zur Intention Haeberlins). So erweist sich auch Haeberlins Weg als Aporie, als Ausweglosigkeit aus dem Dilemma zwischen wertfreier Wissenschaftlichkeit und normativer Orientierung in der Heilpädagogik.

Im Gegensatz zu den beiden beschriebenen wissenschaftstheoretischen Versuchen soll im folgenden, in Anlehnung jedoch an die von Haeberlin geforderte Rückbesinnung auf die christliche Tradition, ein alternativer Weg beschritten werden, indem die Möglichkeit einer ontologisch-erkenntnis-theoretischen Begründung eines normativen Menschenbildes thematisiert wird. Bevor ich mich mit dieser Möglichkeit in Kapitel 4.2 theoretisch auseinandersetzen werde, soll anhand der Entwicklung des Personen-begriffs konkret die Bedeutung einer ontologischen Perspektive für die Anthropologie aufgezeigt werden. Denn die Personalität eines jeden Menschen kann als normatives Menschenbild gedeutet werden. Es wird sich herausstellen, dass die Relevanz unseres Personenbegriffs, im Sinne eines nomen dignitatis, nur auf seinem metaphysischen Hintergrund verstehbar ist. Dazu muss zuerst die christliche Herkunft des Begriffs der Person näher betrachtet werden. Das wird unter den Aspekten der Bezogenheit und der Existenz geschehen, deren Verbundenheit sich aber zeigen wird. Hierbei wird auch deutlich werden, wie ontologische Vor-stellungen der griechischen Metaphysik innerhalb der christlichen Theo-logiegeschichte in zweifacher Weise transformiert worden sind.

2. Personalit ät als Bezogenheit

2.1 Das Neue des christlichen Personenbegriffs

In einem Artikel, der für den vom Philosophen Josef Speck heraus-gegebenen Sammelband 'Das Personenverständnis in der Pädagogik und ihren Nachbarwissenschaften' (1966) konzipiert worden ist, schreibt der Theologe Joseph Ratzinger: „Der Begriff der Person und die hinter diesem Begriff stehende Idee ist ein Produkt der christlichen Theologie ... (Er) ist aus der Auseinandersetzung des menschlichen Geistes mit den Gegebenheiten des christlichen Glaubens überhaupt erst gewachsen und auf diesem Weg in die Geistesgeschichte eingetreten“ (Ratzinger 1973b, 205, hier zitiert nach einer späteren Publikation dieses Artikels). Der Religionsphilosoph Romano Guardini bemerkt im gleichen Sinne, dass der antike Mensch den Begriff der Person noch nicht gehabt hat, ja dass er "ausserhalb des Offenbarungsbereiches überhaupt nicht zu finden" sei (Guardini 1988, 123).

Was ist nun das konkret Neue des christlichen Personenbegriffs, von dem hier die Rede ist? In der Antike war der lateinische Begriff 'persona' (griechisch: prosopon) im Theater beheimatet. Er bezeichnete die Rolle, die ein Schauspieler innehatte. Im Laufe der Theologiegeschichte der ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten kam es nun im Rahmen der Entfaltung des Trinit ätsdogmas (Dreifaltigkeitslehre) zu einer bedeutenden Ent-wicklung. Das junge Christentum fühlte sich dem eindeutigen Mono-theismus Israels verpflichtet. Dass es nur einen Gott gibt, war sowohl dem gläubigen Bewusstsein wie der theologischen Reflexion absolut klar. Dennoch nahm man im Umgang mit der Bibel auch etwas anderes wahr: Gott scheint im Gespräch mit sich selbst zu stehen (z.B.: Gen 1,26: ‚Lasst uns den Menschen machen‘). Es gibt somit ein 'Wir' und ein 'Du' in Gott, wie es ebenfalls in den Psalmen und in den Reden Jesu mit dem Vater wahrgenommen wurde. „Die Entdeckung des Dialogs im Inneren Gottes führte dazu, in Gott ein Ich und ein Du anzunehmen, ein Element der Bezogenheit, der Unterschiedenheit und der Zugewandtheit aufeinander hin, für das sich der Begriff 'Persona' förmlich aufdrängte" (Ratzinger 1998, 142). In Gott, der substantiell gesehen einer bleibt, gibt es das Phänomen der Bezogenheit, das mit dem Begriff 'Personen' umschrieben wird. Dabei ist „Person als Relation zu verstehen: Die drei Personen, die es in Gott gibt, sind ihrem Wesen nach - so Augustin und die spätpatristische Theologie - Relationen, Beziehungen“ (ders. 1973b, 211).

Es war Tertullian (160-220), der im Abendland den Begriff Person in seinen theologischen Schriften als erster übernahm, bevor er von den grossen christlichen Konzilien mit der Formel ‚una essentia tres personae‘ (ein Wesen in drei Personen) für Gott verwendet wurde. Neben der Trinitätstheologie spielten auch die Reflexionen im Rahmen der Christologie bei der Entwicklung des Personenbegriffs eine wichtige Rolle, d.h. bei der Frage, wer Jesus von Nazareth wirklich sei. Nach Spaemann "diente der Personenbegriff ein zweites Mal (nach der Trinitätstheologie, Anm. A. A.) dazu, eine Paradoxie aufzulösen, die dem Denken durch das gläubige Bewusstsein aufgegeben wurde, nämlich durch das Bewusstsein, Jesus Christus als Inkarnation des ewigen göttlichen Logos und zugleich als Menschen im wahren und eigentlichen Sinne zu denken, also nicht etwa als ein Mischwesen" (Spaemann 2006, 36). Dieses Problem wurde auf dem Konzil in Chalkedon so gelöst, dass gesagt wurde, Jesus habe zwei Naturen (eine göttliche und eine menschliche), er sei aber nur eine Person. Die individuelle Vereinigung dieser beiden Naturen beruhe aber "nicht auf ihrer Vermischung, sondern bestehe darin, dass sie beide 'gehabt' würden durch eine Person" d.h. durch die göttliche Person des Sohnes/Logos (ebd. 36). In dieser christologischen Definition wurden dabei dieselben Begriffe wir im Trinitätsdogma verwendet, wobei der zum Personenbegriff komplementäre Begriff des Wesens (ousia) hier dem der Natur (physis) entsprach.

Der theologisch geprägte Personbegriff wurde dann auch auf den Menschen übertragen. Dies geschah einmal im Kontext der Schöpfungs-theologie. Ebenfalls vom Menschen wurde nun diese Bezogenheit, die das christliche Gottesbild prägt, ausgesagt. Die Personalität des Menschen wird dabei folgendermassen verstanden: Sie wird "im Anruf geschaffen. Gott spricht ‚Du‘ und der Mensch erwidert mit der Antwort des Wirklichwerdens. Die Person des Menschen ist ihrem tiefsten Sinne nach die Antwort auf den Du-Ruf Gottes“ (Guardini 1976, 475). Auf diese Bedeutung des Personseins als 'Angesprochensein' wies schon Thomas von Aquin (1225-1274) hin, indem er 'Person' nicht als einen Begriff, sondern als einen Namen verstand (Spaemann 2006, 41). Hiermit ist auch die ontologische Ordnung umschrieben, in der der Mensch lebt (Guardini 1976, 476); darin ist ebenfalls seine Würde begründet. Das menschliche Sein zeigt sich in diesem Sinne als "ein über sich hinaus zu Gott hin geöffnetes Sein" (Balthasar 1985, 53). In dieser Offenheit ist die Transzendenz des Menschen grundgelegt, das Überschreitenkönnen seiner selbst (hier synonym zu Bezogenheit verwendet). Man kann diesen Sachverhalt auch so ausdrücken, "dass der Mensch wesentlich im Dialog steht" (Guardini 1988, 137), er "ist von Wesen bestimmt, Ich eines Du zu werden. Die grundsätzlich einsame Person gibt es nicht" (ebd. 142). Ob aber die menschliche Person diese prinzipielle Fähigkeit zum Dialog mit Gott verwirklicht oder nicht, tut nichts zur Tatsache, dass es sich dabei eben um ein ontologisches Wesensmerkmal handelt, das jedem Menschen zukommt. Aus dieser in der frühchristlichen Tradition erfolgten Übertragung des personalistischen Gottesbildes auf den Menschen lässt sich mit den Worte Guardinis prägnant folgern: "Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiss" (Guardini 2008).

Auch der biblische Begriff der 'Gottebenbildlichkeit' lässt sich als Bezogenheit auslegen. Ratzinger formuliert in Anlehnung an Augustinus (354-430): "Der Mensch ist eben dadurch Bild Gottes, dass er gottesfähig ist und mit Gott in Gemeinschaft treten kann. Gottebenbildlichkeit bedeutet Gottfähigkeit" (Ratzinger 2008, 42). Der Begriff der Gottebenbildlichkeit wird dabei "nicht als ein Substanzbegriff definiert, so dass man sagen würde, die Substanz des Menschen ist etwas ähnliches wie die Substanz Gottes, sondern er wird als Relationsbegriff verstanden" (ebd. 42). Des Menschen „Bildsein beruht also in einer Relativität, nicht in dem, was es in sich ist, sondern in dem Verweis über sich hinaus auf ein Abgebildetes“ (ebd. 42), d.h. auf Gott. Ähnlich sieht auch Steinbüchel die richtige Deutung des 'Ebenbildes' Gottes im Sein des Menschen gegeben, "wenn ... (sie) in der Personalität des Menschen gefunden wird", denn die Person (d.h. der Mensch) kann "allein von allen Geschöpfen Gott vernehmen und ihm antworten " (Steinbüchel 1951a, 183).

Im weiteren legte sich auch von den christologischen Reflexionen eine Übertragung des Personenbegriffs auf den Menschen nahe. Jesus Christus wird in der Bibel der 'letzte Adam' oder der 'zweite Mensch' genannt (1. Kor 15,45-47). "Sie kennzeichnet ihn damit als die eigentliche Erfüllung der Idee Mensch, in der der Richtungssinn des Wesens Mensch erst voll zum Vorschein kommt. Wenn es aber so steht, dass Christus nicht die ontologische Ausnahme, sondern von seiner Ausnahmestellung her die Enthüllung des ganzen Wesens Mensch ist, dann ist auch der christologische Personenbegiff ... der Index dafür, wie Person überhaupt verstanden werden muss" (Ratzinger 1973b, 218f). In diesem Sinne war es für die christliche Theologie konsequent, den Menschen in Anlehnung nicht nur an die Gotteslehre, sondern auch an die Christologie, mit dem Begriff 'Person' zu bezeichnen.

Zusammenfassend findet sich also die Behauptung, dass der Begriff der Person ein 'Produkt der christlichen Theologie' (Ratzinger) ist, vollauf bestätigt. Auch der damit verbundene Inhalt, nämlich die Vorstellung einer fundamentalen Bezogenheit des Menschen, ist nur im Kontext der Theologiegeschichte verstehbar. Aber genau ein solches Verständis des Menschen als Beziehungswesen hat sich im Verlaufe der weiteren Entwicklung der Philosophiegeschichte nicht immer durchgehalten.

2.2 Die Definition von Boethius und die weitere Entwicklung

Verfolgt man die weitere Entwicklung des Personenbegriffs, so lässt sich an der bekannten Definition von Boethius (480-524) nochmals das unter-scheidend Christliche verdeutlichen. Er definiert Person als „unteilbare Substanz eines vernünftigen Wesens - persona est naturae rationalis substantia“ (zitiert nach Kobi 1985, 276). Seit dieser Definition wurde der Begriff der 'Person' als nomen dignitatis, also als ein Begriff mit werthaften Konnotationen, verstanden (Spaemann 2006, 10). Kobi sieht in dieser Formel (mit ihrem impliziten Gedanken der Ganzheitlichkeit) die biblische Imago-Dei-Lehre bewahrt (Kobi 1985, 1985, 276). Im Gegensatz zu dieser Meinung Kobis muss jedoch nach Ratzinger der Personenbegriff des Boethius "als gänzlich unzulänglich kritisiert werden“, er verbleibt „auf der Ebene des griechischen Geistes“ und steht "gänzlich auf der Sub-stanzebene“ (Ratzinger 1973b, 216f). Das Unteilbare (Individuelle) werde betont, ganz im Gegensatz eines christlichen Verständnisses der Person als Bezogenheit und als Angewiesenheit auf den anderen. Boethius blieb somit dem Substanzdenken des Aristotoles verpflichtet. Im Gegensatz dazu wurde innerhalb der oben skizzierten Entwicklung im Christentum die Beziehung (Relatio), die bisher als Zufälliges (Akzidens) galt, als eine gleichermassen ursprüngliche Form des Seins neben der Substanz an-gesehen (ders. 1998, 143). Damit wurde im Personenbegriff der eine Aspekt des aristotelischen Substanzverständnisses (vgl. oben Kapitel 1.1) aufgesprengt und so innerhalb der christlichen Theologiegeschichte ein erstes mal verändert: das Selbständige als das 'In-sich-Stehende' wurde nun als Bezogenheit gedeutet (vgl. Vollrath 1983, 101ff). Zusammenfassend lässt sich mit Ratzinger sagen: „Der Christ sieht im Menschen nicht ein Individuum, sondern eine Person - mir scheint, dass in diesem Überschritt von Individuum zu Person die ganze Spanne des Übergangs von Antike zu Christentum ... liegt" (Ratzinger 1998, 123).

In der abendländischen Philosophiegeschichte hat sich aber der Per-sonenbegriff des Boethius durchgesetzt (ders. 1973b, 216). In der Auseinandersetzung, ob es mehr das 'In-sich-Stehen' (Substanz, Selbständigkeit) oder das 'In-Beziehung-Stehen' (Relatio, Bezogenheit) ist, das das menschliche Wesen zur Person macht, bestimmte die auf-kommende Neuzeit Personalität eher im Sinne des ersteren durch Selbst-besitz und Selbstbestimmung (Langemeyer 1997, 413). Die Dimension des Individuellen trat anstelle der Relatio in den Mittelpunkt des Geisteslebens. Der Begriff des 'Individuums' dominierte beispielsweise das Denken so unterschiedlicher Männer wie Machiavelli (1469-1527) oder Luther (1483-1546) (MacIntyre 1984, 117). Auch bei Descartes (1596-1650) wurde das Ich in extremer Weise in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt, das als Subjekt (res cogitans) dem Objekt (res extensa) gegenübersteht. Descartes begründete damit das neuzeitliche Subjekt-Objekt-Denken. Mit seiner monologisch-anthropologischen Formel 'cogito, ergo sum' (ich denke, also bin ich) vertrat er eine einseitig monologische Deutung des Menschseins, die das Geschaffensein des Menschen zugungsten eines schrankenlosen Ichs ausklammert (Läpple 2009, 29). Läpple sieht darin gar den Versuch einer 'geistigen Selbstverstümmelung' (ebd. 29). Der Mensch versteht sich nicht mehr als Beziehungswesen, sondern als autonomes Selbst, als Subjekt (vgl. dazu Guardini 1988, 15-36). Hier beginnt in der Neuzeit die Idee des ‚Sujektes‘, das die folgende Philosophie stark prägen wird. Philosophie kann fortan als ‚Ich-Philosophie‘ gekennzeichnet werden: Nicht mehr aus der lebendigen Beziehung, aus dem Ich-Du-Verhältnis wird die Wirklichkeit verstanden, sondern aus dem in sich selbst eingeschlossenen Subjekt (Steinbüchel 1936, 103).

Die neuzeitliche Geistesentwicklung neigt nach Guardini dazu, den Begriff der Person aufzulösen und ihn mit dem der Individualität oder dem der Persönlichkeit gleichzusetzen (Guardini 1988, 123). Spaemann spricht in diesem Kontext von der Krise, ja sogar von der Destruktion des Personenbegriffs (Spaemann 2006, 146)! Von einer psychoanalytischen Sichtweise her hat auch Richter diese Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und ihrer Philosophie beschrieben. Die 'egozentrische, gottgleiche Allmacht' des Menschen, die sich dieser nach dem Mittelalter (das eher durch Behütung und gleichzeitig erfahrener Ohnmacht geprägt war) in der Neuzeit nun erkämpfen will, wird von Richter als 'Gotteskomplex' des Menschen beschrieben (Richter 1979).

Der Begriff des Subjekts bleibt in der Folge auch für Philosophen wie Kant (1724-1804), Fichte (1762-1814) und Hegel (1770-1831) wichtig. Bei Kant bleibt der Personenbegriff im wesentlichen gekennzeichnet durch die Beziehung der Person zu sich selbst (Rotter 1993, 17). Fichte redet vom 'Absoluten Ich‘ und die Welt erscheint ihm als Entwurf des eigenen Ichs in seiner Freiheit. "Denn wahrhaft seiend ist nur das Ich in seiner Freiheit; um dieser Freiheit willen ist es das absolute Ich. ... Hier ist die Macht des Menschen über die Wirklichkeit, die zu erringen das grosse Bemühen der Neuzeit ist, in ihr Extrem gelangt" (Weischedel 1984, 196f). Demgegenüber spielt in Fichtes Philosophie aber auch das Moment der Beziehung eine bedeutende Rolle. So ebenfalls bei Hegel, der „sehr nachdrücklich die dialektische Bezogenheit der menschlichen Person auf den Mitmenschen hervor(hebt)“ (Rotter 1993, 17). Doch ist bei Hegel dieser Gedanke und mit ihm auch die Personaliät des Menschen in einem übergreifenden, vernünftigen Allgemeinen wieder aufgehoben (Spaemann 2006, 10). Der Idealismus Hegels sieht „weder das Ich noch das Du, sondern lediglich das überpersönliche Allgemeine" (Steinbüchel 1936, 140; eine Vorstellung, die dann später in der Kritischen Theorie angegriffen wurde). Das Subjekt wird bei ihm als das „in sich verschlossene, sich selbst genügende Ich“ verstanden; dieses Ich kenne nicht das andere und so könne es keine echte Beziehung geben (ders. 1938, 356). So erklärt sich die Gegenbewegung, die sich in der Gestalt des ‚dialogischen Personalismus‘ gegen diese Philosophie erhob.

2.3 Der dialogische Personalismus

Der Moralphilosoph Theodor Steinbüchel betrachtet den dialogischen Personalismus als Gegenbewegung zum Deutschen Idealismus, vorallem in der Gestalt Hegels. Diese neue philosophische Strömung des dialogischen Personalismus bricht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei verschiedenen Denkern fast gleichzeitig auf. Kurz zuvor war die Frag-würdigkeit einer selbstsicheren bürgerlichen Welt mit ihrem selbst-zufriedenen, individualistischen Menschenbild durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges sichtbar geworden (Steinbüchel 1936, 42). Zu nennen sind als wesentliche Begründer des dialogischen Personalismus die jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig sowie die christlichen Denker Ferdinand Ebner und Gabriel Marcel. Diese fragten mit einer „konsequent durchgeführten phänomenologischen Methode ... nach der Wirklichkeit selbst, wie sie sich zeigt. Sie fragen nach dem Sein zurück, wie es sich dem schauenden und besinnlichen Denken aus der Wirklichkeit heraus zur Erscheinung bringt“ (Nachtwei 1986, 183; Hervorh. A. A.). Man kann diese Grundabsicht des dialogischen Personalismus im Sinne einer Neubelebung der Ontologie durchaus als eine Gegenbewegung zur metaphysikkritischen, eingeschränkten Erkenntnistheorie von Hume und Kant deuten und sie mit den Worten des Philosophen Wust als eine 'Auferstehung der Metaphysik' deuten (Wust 2010). Der selber dem Personalismus zuzurechnende Steinbüchel beschrieb deshalb diesen philosophischen Neuaufbruch als 'Wende des Denkens' (Steinbüchel 1936).

Hier geschah also nach den neuzeitlichen Philosophien von Descartes und dem Deutschen Idealismus wieder ein Durchbruch zu einem ursprünglichen Verständnis der Person, wie es oben als Bezogenheit beschrieben wurde. Das Gemeinsame der verschiedenen dialogisch-personalen Denkern kann dabei wie folgt umschrieben werden: „Die versch üttete Ebene des Personalen wird neu entdeckt. Der Mensch wird nicht als Fall einer allgemeinen Gattung betrachtet. Er ist konkrete einzelne Existenz, ein Ich, eine Person. Dieses Ich ist aber nur Ich als auf das Du bezogen, von ihm her und auf es hin. ... Person kann allein dialogisch verstanden werden“ (Nachtwei 1986, 185; Hervorh. A. A.). Das Menschsein wird hier also im Gegensatz zu Descartes nicht mehr rein monologisch gedeutet, sondern prinzipiell dialogisch. Der Mensch wird auch nicht mehr, wie im Deutschen Idealismus, als Fall einer allgemeinen Gattung betrachtet (in dieser Kritik am Deutschen Idealismus trifft sich die Intention des Personalismus mit der der Frankfurter Schule). Er ist der konkret Einzelne, eine Person, aber bezogen auf ein Du. Es gibt "ebensowenig ein absolut duloses Ich als ein ichloses Du" (Ebner 2009, 19).

Vor der philosophischen Strömung des dialogischen Personalismus im 20. Jahrhundert hat es schon im 19. Jahrhundert Anregungen zu einer solchen Geisteshaltung gegeben. Neben Sören Kierkegaard (1813-1855) und John Henry Newman (1801-1090) ist auf den katholischen Philosophen Franz von Baader (1765-1841) hinzuweisen. Dieser stellte der These von Descartes (cogito, ergo sum) seine Antithese 'Cogitor (a Deo), ergo sum' (Ich bin von Gott gedacht, also bin ich) entgegen. Ratzinger bemerkt zur Philosophie von Baader: "Hier wird mit Schärfe der Denkansatz Descartes' abgelehnt, dessen Gründung der Philosophie im Selbstbewusstsein ... bis in die gegenwärtigen Formen der Transzendentalphilosophie das Schicksal des neuzeitlichen Geistes entscheidend bestimmt hat" (Ratzinger 1998, 200).

Im folgenden soll kurz auf zwei Vertreter des Personalismus unseres Jahrhunderts (Buber und Ebner) eingegangen werden. Martin Buber (1878-1965) geht in seinem Hauptwerk "Ich und Du" primär von der zwischen-menschlichen Beziehung aus. Dabei beschreibt er diese als das Grundwort 'Ich-Du' und grenzt es vom Grundwort 'Ich-Es' ab (Buber 2009a, 7). Jedes Ich steht in einer gegenwärtigen Beziehung zu einem Du oder aber in einer gegenständlichen Erfahrung eines Es, eines Etwas (ebd. 8). An diesem Gegensatz hängt die gesamte Philosophie Bubers: "Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung" (ebd. 8). Dabei erweist sich vorallem die Beziehung, nicht die Erfahrung, als das für den Menschen Wesentliche: "Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung" (ebd. 15). Hinter dieser zwischen-menschlichen Ich-Du-Beziehung wird für Buber aber auch die Beziehung zu Gott sichtbar: "Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm" (ebd. 76). Diese Tendenz, Gott als Du nur innerhalb der Ich-Du-Beziehung zwischen Menschen begegnen zu lassen, ist für den vom jüdischen Chassidismus kommenden Buber charakteristisch (Balthasar 2009, 596). Wesentlich bei Buber ist ausserdem, dass er in seiner Ich-Du-Philosophie von der Voraussetzung von zwei - potentiell - gleichstarken Kommunikations-partnern ausgeht, d.h. dass es sich dabei um eine reziproke, symmetrische Relation handelt (vgl. dazu Gröschke 1997, 57 und Kleinbach 1994, 71). Der ebenfalls aus dem Judentum stammende Philosoph Lévinas wird in diesem Kontext ein anderes, ein asymmetrisches Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehung entwickeln und vom 'Anlitz des Anderen' reden, das mir grundsätzlich fremd ist und fremd bleibt (Lévinas 1983 und Gröschke 1997, 57).

Weniger bekannt als Buber ist in der pädagogischen Literatur der katholische österreichische Philosoph Ferdinand Ebner (1882-1931), auf den Buber aber in seinen Anmerkungen zur Geschichte des dialogischen Prinzips eingeht (Buber 2009d, 305f). Ebner beschreitet in seinem Hauptwerk "Die geistigen Realitäten und das Wort“ entschlossen den umgekehrten Weg zu Buber. Während dieser vom zwischenmenschlichen Ich-Du zum göttlichen Du aufsteigt, wurzelt bei Ebner alles im Gottesverhältnis (Balthasar 2009, 602). Ebner spricht vom "geistigen Grund seiner (des Menschen; Anm. A. A.) Existenz und deren Angelegtsein auf ein persönliches Verhältnis zu diesem Grund" (Ebner 2009, 21). Und weiter: "Gott ist dieser Grund und er ist auch das wahre Du des wahren Ich im Menschen" (ebd. 21). Verschliesst sich das Ich gegenüber dem Du, so wird es dadurch aus seinem Lebens- und Wirklichkeitszusammenhang mit dem Du gerissen. Das führt nach Ebner zur 'Icheinsamkeit' und zur 'Dulosigkeit'. Damit will er auch die existentielle Situation des modernen Menschen beschreiben (Steinbüchel 1936, 97). In der pädagogischen und heil-pädagogischen Literatur ist m.W. das Werk von Ebner, im Gegensatz zum Denken von Buber, leider noch kaum rezipiert worden.

Nach dieser ersten Phase des personalistischen Denkens u.a. bei Buber und Ebner, das einen vorherrschend theologischen Charakter hatte, wurde diese Periode Jahre später von einer eher philosophischen Strömung abgelöst (beispielsweise bei Löwith, Binswanger, Grisebach, Jaspers, Scheler u.a.; vgl. dazu Balthasar 2009, 589; zum dialogischen Per-sonalismus insgesamt vgl. Balthasar 2009, Buber 2009d, Nachtwei 1986 und Rotter 1993).

3. Personalit ät als Existenz

3.1 Die geschichtliche Entwicklung

Nachdem wir in der Bezogenheit einen ersten Aspekt des Personenbegriffs beleuchtet haben, können wir uns nun einem zweiten zuwenden, dem der Existenz. Denn in Beziehung stehen kann nur jemand, der selber existiert.

Der Begriff 'persona' bezeichnete in der Antike die (soziale) Rolle, die ein Schauspieler (Mensch) innehatte (s.o.). Was hinter dieser Rolle lag, war die Natur (physis), die als Voraussetzung oder Träger der Rolle verstanden wurde. Die Antike kannte allgemein keinen Rückgang des Menschen hinter seine Natur (Spaemann 2006, 31f), sondern dieser wurde mit ihr identifiziert. Auch Boethius verwendete in seiner Definition den Begriff der Natur in diesem Sinne. Es handelt sich hierbei um einen idealisierten Naturbegriff, der sich später in der Renaissance in Anlehnung an die Antike wiederfindet und der sich auch in der Romantik fortsetzen wird (Guardini 1988, 15-24). Guardini beschreibt dieses antike Naturverständnis wie folgt: Natur drückt hier "etwas Letztes aus. Hinter sie kann nicht mehr zurückgegriffen werden. ... Sofern der Mensch eine leib-seelische Wirklichkeit ist, gehört er selbst zu dieser Natur" (ebd. 16f).

In der Geschichte des Christentums löste sich aber die Gleichsetzung des Menschen mit seiner Natur zusehens auf (Ratzinger 1973a). Nun gilt: Menschen "sind nicht einfach ihre Natur, ihre Natur ist etwas, das sie haben" (Spaemann 2006, 40). Dieses Merkmal des Menschen, seine Natur zu haben, sie nicht zu sein, wird bei Spaemann als Personalität definiert. Schon in der christologischen Formel von Chalkedon wurde ja ausgesagt, dass Christus als göttliche Person zwei Naturen habe (vgl. oben Kapitel 2.1). Es hat sich hier offenbar im Gegensatz zum Verständnis der Antike ein 'Perspektivenwechsel' vollzogen (Spaemann 2006, 32): Während in der Antike die Natur (des Menschen) die Trägerin einer sozialen Rolle (Person) war, ist nun in einem christlichen Verständnis umgekehrt die Person die Trägerin ihrer Natur oder ihrer Eigenschaften. Die Person hat und prägt ihre Natur. Die Natur wird dabei als das 'Was' des Menschen verstanden, "und wer wir sind ist offenbar nicht einfachhin identisch mit dem, was wir sind" (ebd. 19). Mit dem Wer wird dabei ein 'jemand' umschrieben, mit dem Was ein 'etwas'. Es zeigt sich hier die bedeutsame Differenz zwischen dem Dasein (jemand) und dem Sosein (etwas), wobei mit dem Dasein die Existenz des Menschen gemeint ist und mit dem Sosein sein Was, seine Eigenschaften oder seine Natur (ebd. 23). Balthasar spricht in diesem Zusammenhang vom Dasein und vom Sosein als den beiden Polen des Seins (Balthasar 1985, 207).

Es ist diese innere Differenz zwischen dem Dasein und dem Sosein, die der Person zugrunde liegt (Spaemann 2006, 23). Diese Differenz wird uns in der Reflexion bewusst, wobei "die Reflexion nur eine ihrer Er-scheinungsformen" ist. Denn die Differenz zwischen Dasein und Sosein "bestimmt unser Dasein, auch wenn wir nicht reflektieren" (ebd. 23; diese Aussage ist in Bezug auf schwer geistig behinderte Menschen von grosser Bedeutung). Der Unterschied zwischen Dasein und Sosein lässt sich ebenfalls im Sinne eines 'Aus-sich-Heraustreten', als 'ex-zentrische Position' (Plessner) deuten (ebd. 23).

Im Nichtfestgelegtsein des Daseins durch sein Sosein zeigt sich auch die Freiheit des Menschen. Die Freiheit des Menschen wird in einer solchen Anthropologie also nicht in Frage gestellt, wie es von der Anthropologiekritik der 'Kritischen Theorie' im Anschluss an Horkheimer und Adorno befürchtet worden ist (vgl. Jakobs 1997). Der Mensch erscheint hier vielmehr als ein Wesen, das für sein Sosein selber Verantwortung trägt. (Die Ausrede des Menschen: 'Ich bin nun mal so', kann in dieser Perspektive nicht vorgebracht werden: Spaemann 2006). Der Mensch kann sich gerade auch in einer solchen Anthropologie als 'offene Frage' (Plessner) verstehen.

Für Balthasar erscheint das Sosein primär als das Fassbare und Beschreibbare, während das Dasein über dieses Sosein hinausgeht und den Menschen zu einer "durch nichts anderes aufzuwiegenden und zu ersetzenden Kostbarkeit macht" (Balthasar 1985, 211f). In einer solchen Sichtweise gibt es nicht nur die Be wunderung darüber, wie Welt und Mensch geschaffen sind, sondern vorallem auch die Ver wunderung darüber, dass sie überhaupt erschaffen sind (ders. 1965, 943). Das Menschsein zeigt sich hier als Geheimnis und mit diesem Geheimnis verbindet sich in der christlich-abendländischen Tradition auch die Idee der 'Heiligkeit des menschlichen Lebens'. Diese Vorstellung der Heilgkeit des Lebens wird hingegen von Präferenz-Utilitaristen wie Singer und Kuhse mit Vehemenz bestritten (vgl. Kuhse/Singer 1993, 160-187).

Ein ähnliches Personenverständnis lässt sich schon beim mittelalterlichen Theologen Richard von St.Viktor (1110-1173) beobachten. Dieser übte Kritik an der Definition des Boethius. Für Richard konnte im Gegensatz zu Boethius 'Person' nicht eine Substanz sein, sondern nur Tr äger einer Substanz. Substanz bezeichne ein 'Etwas', ein 'So-und-so'. Person ist bei Richard vielmehr eine Existenzweise, ein Vollzug; prägnant augedrückt: Person ist Existenz, nicht Essenz (Richard von St. Viktor 2002, 140f: vgl. dazu Spaemann 2006, 39). Zudem hat Richard einen weiteren bedeutenden Beitrag geleistet: Im Kontext der Übertragung des Personengedankens von Gott auf den Menschen hat Augustinus im Zusammenhang mit der Trinität Gottes beim Menschen von einer 'innerpsychologischen Dreiheit' (Verstand, Gedächtnis und Wille) gesprochen (vgl. dazu Körner 1983). Man kann diesen Gedanken von Augustinus als 'individualistisches Trinitätsbild in der Seele' des Menschen deuten (Balthasar 1976, 298). Augustinus hat damit den ursprünglichen dialogischen Inhalt des Personenbegriffs ins individual-psychologische eingegrenzt. Richard hat nun dieses Verständnis von der Personalität beim Menschen wieder "ins Interpersonale aufgesprengt" (ebd. 298). Die trinitarische Bezogenheit zwischen den göttlichen Personen wurde von Richard auf der anthropologischen Ebene nicht mehr wie bei Augustinus rein innerpsychologisch, sondern interpersonal gedeutet. Damit steht Richard einerseits innerhalb der Tradition des ursprünglichen patristischen Personenbegriffs (s.o. Kapitel 2.1) und nähert sich anderer-seits dem zwischenmenschlichen Verständnis von Person, wie es später auch im dialogischen Personalismus des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist.

Philosophiegeschichtlich betrachtet steht im Hintergrund der Differenz von Dasein und Sosein die Unterscheidung von Existenz und Wesen, die in der mittelalterlichen Philosophie als ontologische Differenz (auch Real-distinktion) bezeichnet wurde, so beim Aristotoles-Interpreten Thomas von Aquin (1225-1274) (vgl. Spaemann 2006, 39; eine gute Einführung in das Werk von Thomas von Aquin findet sich bei Berger 2002 und Schönberger 2006 sowie in den älteren Werken von Chenu 1960 und Grabmann 1926). Damit wird eine weitere Veränderung des aristotelischen Substanzbegriffs (vgl. oben Kapitel 1.1) innerhalb der Theologiegeschichte sichtbar. Im Denken der Antike war es der platonische Weltbildner (Demiurg), der das Seiende aus einer schon vorhandenen Ur-Materie in sein Sosein formte. Der Gedanke einer Schöpfung aus dem Nichts gab es erst seit dem biblischen Glauben und war dem Aristotoles unbekannt; darum war ihm auch die Vorstellung der 'Kontingenz' (die Nicht-Notwendigkeit der Existenz des Seienden) fremd (ebd. 79f). Damit ändert sich aber grundlegend die Perspektive auf das menschliche Sein: Für Aristotoles war die ontologische Frage eine Frage nach dem Wesen, nach dem 'substantiellen Wassein' (vgl. Vollrath 1983, 101, 117). Nun aber wird hinter der Selbstheit, hinter dem Wassein (Sosein) das Dasein, die Existenz des Menschen sichtbar. Dass der Mensch überhaupt existiert ist das Wesentliche, nicht sein Sosein. Im Rahmen dieser ontologischen Differenz innerhalb der mittelalterlichen Philosophie erhält das griechische klassisch-ontologische Denken somit eine explizit 'existenzphilosophische' Konnotation.

Fin de l'extrait de 152 pages

Résumé des informations

Titre
Der behinderte Mensch als Person
Sous-titre
Theologische und philosophische Reflexionen zur Grundlegung einer wertgeleiteten Heilpädagogik
Cours
-
Auteur
Année
2012
Pages
152
N° de catalogue
V191393
ISBN (ebook)
9783656161769
ISBN (Livre)
9783656161936
Taille d'un fichier
949 KB
Langue
allemand
Mots clés
Schwangerschaftsabbruch, Menschenbild, Ratzinger, Spaemann, Haeberlin, Bleidick, MacIntyre, Heilpädagogik, Präferenz-Utilitarismus, Person, Anthropologie, Ethik, Theologie
Citation du texte
Adrian Ambord (Auteur), 2012, Der behinderte Mensch als Person, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191393

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