Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“
2.1. Entstehung
2.2. Textvarianten und -ausgaben
2.3. Der Inhalt von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“
2.4. Arthur Schnitzler
3. Sigmund Freud und Arthur Schnitzler
3.1. Sigmund Freud und die Psychoanalyse
3.1.1. Das Persönlichkeitsmodell von Sigmund Freud
3.1.2. Der Traum, Traumbildung und Traumdeutung
3.2. Zwei Zeitgenossen in einer „Art von Doppelgängerscheu“
4. Das poetische Sein der Psychoanalyse: Motive und Erzählverhalten in der „Traumnovelle“
4.1. Verführbarkeit in Sprache und Erzählstruktur: Die Darstellung der Ehe
4.2. Der Tod und das Mädchen: Fridolin am Beginn seiner Reise
4.3. Fridolins Reise durch die erste Nacht
4.4. Die geheime Gesellschaft am Galitzinberg
4.5. Albertines Traum
5. Der Erzähler als „Therapeut“
6. Das jüdische Leben in Wien um die Jahrhundertwende
6.1. Die jüdische Ehe als Symbol
6.2. Das andere jüdische Leben: Nachtigall
6.3. Das Aufflackern des Deutschnationalen in der „Traumnovelle“
7. Standpunkte: Psychoanalyse und ihr Einfluss auf die „Traumnovelle“
8. Innerlichkeit erzeugt eine Diagnose der Lebenswelt: Eine Zusammenfassung
9. Literaturverzeichnis
9.1. Primärliteratur
9.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
In Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ wird die Ehe der beiden Protagonisten, Albertine und Fridolin, einer Prüfung unterzogen. Zentral sind dabei Fridolins Erlebnisse in der ersten Nacht und ihre Verarbeitung danach, in einer erzählten Zeit von knapp zwei Tagen sowie die Traumerzählung seiner Gattin.
Die Forschung weist vielfach darauf hin, dass zwischen den Zeitgenossen Sigmund Freud und Arthur Schnitzler eine „Doppelgängersituation“ besteht. Damit ist gemeint, dass Sigmund Freuds Entwicklungen und Forschungen im Werk von Arthur Schnitzler literarisch gespiegelt werden. Diese Verschränkung von Wissenschaft, konkret der Psychoanalyse, und Literatur wird in der Sekundärliteratur kritisch abgrenzend betrachtet und selten an konkreten Werken und ihrer Analyse bearbeitet.[1] Hartmut Scheible spricht einen Einfluss Freuds auf die „Traumnovelle“, vor allem aus der Schrift „Das Ich und das Es“, kurz an, wenn er Vorbewusstes in Wortvorstellungen entstehen sieht.[2] Es liegen auch Arbeiten vor, die die Trieblehre Freuds in der „Traumnovelle“ erzähltechnisch umgesetzt sehen. Sie sichern dies durch Aufzählungen von Metaphern und Symbolen ab.[3] Ähnlich liegt es beim Verständnis der „Traumnovelle“ als literarische Umsetzung von Freuds „Die Traumdeutung“.[4]
Die Grundlage für die Trieblehre, nämlich Freuds Instanzenmodell der Persönlichkeit, wird in der Sekundärliteratur nicht thematisiert. Die Thesen, die dieser Arbeit den roten Faden geben, lauten darum:
1.) Arthur Schnitzler schafft durch sein Erzählen an den Hauptfiguren der Novelle, dem Arzt Fridolin und seiner Gattin Albertine, eine Allegorese der Theorie von Sigmund Freud über den psychischen Apparat (Es, Ich und Über-Ich), wie sich dies in Freuds Schriften „Jenseits vom Lustprinzip“ (1920) und „Das Ich und das Es“ (1923) ausgeführt findet. Schnitzler „maskiert“ mit der Sprache seines Erzählens Freuds Instanzenmodell der Persönlichkeit und die Theorie der zwei Haupttriebe, Eros (Lebenstrieb) und Thanatos (Destruktionstrieb). Anhand einer Textstruktur- und Motivanalyse wird gezeigt, welchen Einfluss Freuds Denken auf die erzählerische Gestaltung der beiden Protagonisten hat.
2.) Der auktoriale Erzähler der Novelle tritt als „Therapeut“ auf, das Erzählverhalten zeigt Parallelen zum Handeln eines Analytikers. Schnitzler macht sich für sein Erzählen nutzbar, was Freud in seiner psychoanalytischen Praxis zugeschrieben wird: diese zeige Verwandtschaft zum Auslegen des Talmuds.
3.) Die Gestaltung der Hauptfiguren und des Erzählverhaltens verweisen auf ein jüdisches Verständnis von Ehe: Die rasch mögliche Brüchigkeit der Ehe, und wie Schnitzler von ihr erzählt, steht in der „Traumnovelle“ als Symbol für eine jüdische Lebenswelt, die unter Druck gerät. Dies wird in einzelne Motive eingebettet, die die wachsende Isolierung jüdischen Bürgertums und das Aufflackern einer deutschnationalen Haltung im Ausklang der Wiener Moderne darstellen.
2. Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“
Stanley Kubricks 1999 erschienener und zugleich letzter Film „Eyes Wide Shut“ hat Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ für einen breiteren Rezipientenkreis und auch für die Literatur-wissenschaft neu erschließen lassen.[5] Der Film hält sich sehr eng an die literarische Vorlage, die Figuren der Filmhandlung stehen in exakter Analogie zu Schnitzlers Erzählung. Der wesentliche Unterschied besteht im Transfer von Ort und Zeit der Handlung: spielt die Handlung bei Schnitzler im Wien der Jahrhundertwende um 1900, inszeniert Kubrick diese im Amerika der Gegenwart.
2.1. Entstehung
Arthur Schnitzlers Arbeitsweise macht es der Wissenschaft zugleich leicht und schwer, die Entstehung seiner Werke exakt zu datieren. Die Dokumentationslage ist umfangreich. Das ermöglicht, Zeitspannen von der Niederschrift einer ersten Idee im Tagebuch, von Notizen zu einzelnen Motiven bis zu ersten Ausarbeitungen und dem veröffentlichten Werk konkret zu bestimmen.[6] Reinhard Urbach verweist in seinem Schnitzler-Kommentar auf eine Skizze vom 20.6.1907, auf eine Zeitphase der Ausarbeitung zwischen 12.10.1921 und 3.10.1925. Schnitzler habe eine Fassung der „Traumnovelle“ am 19.3.1923 zu Ende diktiert, eine letzte Korrektur trägt als Datum den 26.7.1925.[7]
Dass Schnitzler die Idee zur Ehegeschichte der „Traumnovelle“, die ursprünglich den Titel „Doppelnovelle“ trug, schon viel früher aufgegriffen hat, argumentiert Hertha Krotkoff mit Einsicht in eine Arbeitsmappe bzw. einen Mikrofilm, auf dem sich auch die Seite 3 der Weihnachtsbeilage der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 25.12.1894 findet.[8] In dieser Beilage ist nicht nur Arthur Schnitzlers Erzählung „Der Witwer“ abgedruckt, sondern in der ersten Spalte auch ein Essay von Adolph Wilbrandt. Wilbrandt war von 1881 bis 1887 Direktor des Wiener Burgtheaters. 1899 veröffentlichte er in Stuttgart den Roman „Fridolins heimliche Ehe“. Wilbrandts Fridolin trägt, so Krotkoff, Wesenszüge von Schnitzlers Fridolin, auch stellt sie bei beiden Autoren „ähnliche Erkenntnis“[9] in ihren Erzählungen fest. Als motivische Parallele führt Krotkoff das in den Texten thematisierte wachsamere Geruchsempfinden der Protagonisten nur während der „traumähnlichen“ Nachtreise an.[10]
Im dramatischen Gedicht „Alkandis Lied“, das 1890 in der Literaturzeitschrift „An der schönen blauen Donau“ erschienen ist, wandelt Arthur Schnitzler auf Franz Grillparzers („Der Traum ein Leben“) Spuren des kathartischen Wirkens von Traumerleben. Krotkoff versteht in ihrer Spurensuche dies als Beleg, dass Schnitzler sich früher als in der ersten Skizze datiert mit dem Stoff zur „Traumnovelle“ zu beschäftigen begann.[11]
Verlass ist, wenn sich auch jüngere Buchausgaben nicht einig sind, auf den Erstdruck: Die „Traumnovelle“ erscheint als Erstdruck im 53. Jahrgang der in Berlin verlegten Zeitschrift „Die Dame“, als Text in Fortsetzungen vom sechsten Heft (1. Dezemberheft 1925) bis zum zwölften Heft (1. Märzheft 1926). Die erste Buchausgabe unternimmt der S. Fischer Verlag 1926.[12] Die Auflage ist erfolgreich: von der „Traumnovelle“ „muß Fischer zu 25000 Exemplaren von 1926 im darauffolgenden Jahr weitere 5000 nachdrucken.“[13]
2.2. Textvarianten und -ausgaben
Für die Editionsgeschichte der „Traumnovelle“ gibt Hans-Joachim Schrimpf den Hinweis, dass Arthur Schnitzler 1931 eine Sammlung einiger Novellen unter dem Titel „Traum und Schicksal“ herausgegeben hatte und die „Traumnovelle“ in diesem Band den Anfang machen ließ.[14] Die meisten heute verfügbaren Ausgaben der „Traumnovelle“ verwenden die Textvariante aus dem zweiten Band der erzählenden Schriften der 1961 erschienenen Schnitzler-Werkausgabe[15], so auch die Taschenbuchversion der gesammelten Werke aus 1987.[16] Die Zitationen dieser Arbeit folgen einer Ausgabe, die sich als ungekürzt und nach den ersten Buchausgaben durchgesehen qualifiziert und mit der Textvariante der Erstveröffentlichung 1925 datiert.[17] Der Umstand, dass Schnitzlers Werk mit dem Jahr 2002 frei vom Urheberrecht geworden ist (70 Jahre nach seinem Tod), leistete Vorschub, dass verschiedene Verlage die „Traumnovelle“ nachdrucken.[18]
2.3. Der Inhalt von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“
Die Handlung der „Traumnovelle“ spielt in Wien. Albertine und Fridolin sind ein Ehepaar, sie haben eine Tochter; Albertine ist Hausfrau, Fridolin Arzt. Fridolin ist 35 Jahre alt. Sie erzählen sich einen Abend nach dem Besuch einer Redoute, durch verführerischen Begegnungen bei dieser Ballveranstaltung inspiriert, Begebenheiten latenter Verführung, die sich im Urlaub der beiden im vergangenen Sommer in Dänemark zugetragen haben.
Fridolin wird zu einem Patienten, einem Hofrat, gerufen. Als er in dessen Wohnung eintrifft, ist der Hofrat bereits verstorben. Am Totenbett sitzt seine Tochter Marianne; in Fridolins Augen erscheint sie trotz ihres jungen Alters als verwelkendes Wesen. Roediger, Mariannes Verlobter, wird erwartet. Spontan fällt Marianne Fridolin zu Füßen, sie umarmt seine Knie und gesteht ihre Zuneigung. Fridolin wehrt die Avance ab, er fühlt sich vom Toten beobachtet, die nahe Ankunft des Verlobten verunsichert ihn zusätzlich. Er stellt den Totenschein aus und verlässt das Haus.
Er tritt nicht den Weg nach Hause an, sondern geht durch den Rathauspark und beobachtet in der Stunde vor Mitternacht liebende Paare unter den Bäumen. Er denkt angesichts eines Obdachlosen, der auf einer Bank liegt, über Möglichkeiten nach, diesem zu helfen. Sein Spazierweg in Richtung des Bezirks Josefstadt, in dem er wohnt, konfrontiert Fridolin mit einer Gruppe betrunkener Studenten, einer unter ihnen stößt ihn an. Kurz bedenkt Fridolin eine Forderung nach Genugtuung, im nächsten Moment verwirft er, bekümmert um die eigene Gesundheit, diese Idee. Er folgt der Prostituierten Mizzi in ihre Wohnung, schlägt ihr Angebot aber aus, will sie nur erzählen hören.
Noch immer nicht bemüßigt, den Heimweg anzutreten, kehrt Fridolin in ein Kaffeehaus ein, in dem er offenbar zufällig einen alten Bekannten, Nachtigall, trifft. Nachtigall ist ein gescheiterter Medizinstudent aus Polen, der sich und seine Familie mit den Verdiensten seiner viel besseren Begabung, nämlich des Klavierspiels, durchbringt. Nachtigall gibt Fridolin lange Jahre geschuldetes Geld zurück und über die reiche finanzielle Ausstattung kommt ins Gespräch, welche musikalischen Auftritte besonders einträglich sind. Nachtigall erwartet auch in dieser Nacht, dass er von einem Wagen abgeholt wird. Es geht um Auftritte in einer geheimen Gesellschaft, von der Nachtigall wenig weiß, denn er hat mit verbundenen Augen zu spielen. Er konnte aber einmal über den Rand der Binde und einen Spiegel erkennen, dass jede Menge nackter Frauen in dieser Gesellschaft aus Mönchen und Nonnen anwesend sind. Fridolin entscheidet, Nachtigall begleiten zu wollen. Die notwendige Verkleidung organisiert er sich bei einem Kostümverleih. Der Inhaber Gibiser zeigt sich wenig verwundert über das Bedürfnis des Arztes, sich mitten in der Nacht einen schwarzen Umhang, einen Pilgerhut und eine Maske zu leihen. Als er seinen Fundus erleuchtet, ertappt er seine Tochter mit zwei Herren, sie als Pierrette verkleidet, die männlichen Begleiter als Femrichter. Gibisers Empörung ist groß, er droht den Herren mit der Polizei und erklärt seine Tochter als Wahnsinnige, diese aber sucht Zuflucht in Fridolins Armen. Mit dem Kostüm ausgestattet trifft Fridolin noch einmal auf Nachtigall, er erfährt von ihm das entscheidene Losungswort, die Parole („Dänemark“), mit der er Zutritt zu jenem privaten Anwesen findet, das Nachtigalls und Fridolins Kutschen sowie auch die einiger anderer Gäste nach Fahrt in Richtung Galitzinberg ansteuern. Fridolin erregt in der Gesellschaft der Masken Aufsehen. Eine als Nonne verkleidete Frau wendet sich wiederholt an ihn, sie warnt ihn und rät ihm, er möge den Ort unverzüglich zu seiner eigenen Sicherheit verlassen. Wiederholt wehrt Fridolin die Warnung ab, er stellt zur Bedingung, die Frau solle ihn begleiten. Fridolin wird überführt, er soll sich zu erkennen geben. Die Warnerin wird zu seiner Retterin. Sie nimmt eine nicht näher definierte Strafe auf sich. Als Fridolin aus den Räumen befördert wird, beobachtet er, wie sich die Frau demaskiert. Er wird in eine Kutsche gesperrt, durch die Nacht gefahren und dann ausgesetzt. Noch irrt er eine Weile durch die Finsternis, bevor er eine andere Kutsche nimmt, die ihn nach Hause bringt.
Dort eingetroffen schleicht er sich ins Schlafzimmer und erlebt Albertine, wie sie im Schlaf seltsam lacht. Fridolin weckt sie auf, sie scheint orientierungslos. Es gelingt ihm, Albertine zu animieren, ihm ihren Traum zu erzählen. In diesem spiegeln sich die Ereignisse des vergangenen Urlaubs in Dänemark, als zentrales Motiv wirkt eine Treue-Prüfung Fridolins durch eine Fürstin. Im Traum hält Fridolin stand, er büßt dies mit körperlichen Qualen.
Am nächsten Morgen geht Fridolin zur Arbeit, er erstattet bei Gibiser das Kostüm zurück und macht sich auf die Suche nach Nachtigall. Dieser wurde in sein Hotel zurückgebracht, er stand dabei in Begleitung von zwei Herren, die nicht nur Nachtigalls Rechnung bezahlten, sondern den Klavierspieler auch zum Nordbahnhof begleiteten. Fridolin rekonstruiert seine Kutschenfahrt zur Villa der geheimnisvollen Veranstaltung der vergangenen Nacht, findet das Haus auch vor und erhält am Tor durch einen Diener einen persönlich an ihn adressierten Brief. In diesem wird Fridolin zum zweiten Mal gewarnt, sämtliche Nachforschungen einzustellen. Fridolin kehrt in den Schoß der Familie zurück, nimmt am Mittagessen teil, ordiniert am Nachmittag und besucht nochmals Marianne. Wiederum steht beider Zuneigung im Raum, erfüllt sich aber nicht. Er erinnert sich seiner Idee, die Prostituierte Mizzi mit Wein und Naschwerk zu verwöhnen; er findet sie selbst nicht vor, ein anderes Freudenmädchen erklärt ihm, Mizzi sei nun einige Wochen im Spital, sie werde die Geschenke verlässlich weiterleiten. Fridolin zieht weiter seinen eigenen Spuren aus der vorangegangenen Nacht hinterher; im Kaffeehaus bekommt er eine Zeitung in die Hand, in der er die Meldung über einen Selbstmordversuch einer Baronin D. liest. Die unbekannte Warnerin in der geheimen Gesellschaft berichtete ihm von einem dubiosen Todesfall nach ähnlicher Situation. Fridolin glaubt in der Baronin D. die begehrte Nonne zu identifizieren. Er sucht das Krankenhaus auf, sie ist aber am späteren Nachmittag verstorben. In der Totenkammer versucht er, den Leichnam der Frau mit den wenigen wahrgenommenen Merkmalen unter ihrer Maske zu vergleichen. Unschlüssig nähert er sich dem toten Körper an, er verschränkt die Finger seiner Hand mit denen der Toten. Doktor Adler, der fleißige Mediziner, der die Nächte nutzt, um ungestört seine wissenschaftlichen Untersuchungen durchführen zu können, setzt dieser Zärtlichkeit ein Ende.
Fridolin kehrt wiederum nach Hause zurück. Im Schlafzimmer findet er auf dem Bett die Maske vor; sie muss aus dem Paket gefallen sein, dass er Gibiser zurückgegeben hat. So wie er die Maske präsentiert findet, versteht er sie als Einladung, Albertine alles erzählen zu können. Er beginnt seine Erzählung, sie dauert fast die ganze Nacht. Das Ehepaar erklärt sich als erwacht aus den wirklichen und erträumten Abenteuern.
2.4. Arthur Schnitzler
Arthur Schnitzler wurde am 15. Mai 1862 in Wien geboren. Sein Vater, Johann Schnitzler, kam aus Groß-Kanizsa (heute: Nagykanizsa in Ungarn). Seine Laufbahn als Arzt verschaffte der Familie sozialen Aufstieg und Anerkennung. Die Mutter Louise, geborene Markbreiter, stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Wiener Familie. Die Familie Schnitzler gehörte somit zum großbürgerlichen und intellektuellen Milieu im Wien des späten 19. Jahrhunderts, in dem sich Liberalismus als gesellschaftliche Haltung von 1897 bis 1910 unter Bürgermeister Karl Lueger nur kurz entwickeln konnte.
Arthur Schnitzler erlebte die Sozialisation eines jungen Manns seiner Zeit. Er diente ein Jahr freiwillig und erreichte den Offiziersrang, der ihm nach Veröffentlichung von „Leutnant Gustl“ (1900) aberkannt wurde. Der akademische Bildungsweg war durch den Vater vorgezeichnet. Nach der Promotion 1885 wirkte er als Assistenzarzt an der Poliklinik, die sein Vater leitete. Dieser übertrug ihm 1887 die Redaktion der Zeitschrift „Internationale Klinische Rundschau“. In ihr veröffentlichte Schnitzler seinen einzigen wissenschaftlichen Text, er schrieb über Hysterie. Der Vater duldete das literarische Schreiben des Sohns. Doch erst nach dem Tod des Vaters 1893 setzte Schnitzler Beruf und Berufung parallel um, als Arzt und als Schriftsteller. Die Spannungen zwischen der Pflicht als Arzt und der Sehnsucht, als Schriftsteller und Künstler Anerkennung zu finden, bestimmten fortan sein Leben.
Bayerdörfer nennt Schnitzler den „ Inbegriff eines religiös ungebundenen jüdischen Intellektuellen und Literaten“[19], er kennt keine nostalgischen Gefühle für seine Familie, er sucht keine Rückbindung an religiöse Tradition. Nach der Jahrhundertwende boten sich ihm
drei typische Wege, die von der jungen Generation nach 1900 beschritten werden konnten: Assimilation, Zionismus, Sozialismus. [...] Schnitzler selbst stand dem Sozialismus fern und betrachtete den Zionismus bestenfalls als eine sozialtherapeutische Einrichtung zugunsten des gekränkten jüdischen Selbstbewußtseins.[20]
Schnitzlers Thema ist das deutsch-jüdische Miteinander in Österreich. Er bearbeitet dies mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit vor der Jahrhundertwende in Wien in seiner Autobiografie „Jugend in Wien“, die erstmals 1968 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Er widmet sich dem Thema in seinem 1908 veröffentlichten Roman „Der Weg ins Freie“ und in der 1918 am Volkstheater in Wien uraufgeführten Komödie „Professor Bernhardi“: „Ebenso penibel verzeichnet er die Varianten jüdischen Verhaltens in allen seinen Schattierungen, wobei ihm zeitlebens der Überläufer so unangenehm ist wie sich der erniedrigende Assimilant oder gar der dem sogenannten ‚jüdischen Selbsthaß’ Verfallene.“[21]
Bei Veröffentlichung der „Traumnovelle“ ist Schnitzler 63 Jahre alt. Die Zeit der großen Erfolge und Aufmerksamkeit für seine Werke, vor allem für die Dramen bis hin zum Skandal um den „Reigen“ (1920) ist Vergangenheit. Am 21. Oktober 1931 stirbt Arthur Schnitzler in Wien an einer Gehirnblutung.
3. Sigmund Freud und Arthur Schnitzler
3.1. Sigmund Freud und die Psychoanalyse
Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in Freiberg (heute: Přibor in der Tschechischen Republik) geboren. Sein Vater Jacob Freud war als Stoffhändler in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, darum übersiedelte die Familie 1860 nach Wien. Hier studierte Sigismund (mit 22 Jahren ändert er seinen Vornamen auf Sigmund) Schlomo Freud Medizin. Er promovierte 1881, als praktizierender Nervenarzt entwickelte er bald Interesse an psychisch bedingten Erkrankungen. In diesem Zusammenhang beschäftigte er sich intensiv mit der Hysterie. 1885 ging er als Privatdozent nach Frankreich, er lernte bei Jean-Martin Charcot Hypnose als Heilmethode kennen.
Nach Wien zurückgekehrt erarbeitete Freud gemeinsam mit dem Arzt Josef Breuer ein Verfahren zur Heilung von psychischen Störungen, parallel dazu schrieb er auch die eigenen Praxiserfahrungen nieder, um daraus die Theorienbildung der Psychoanalyse voranzutreiben. Nachdem es schon im Mai 1933 in Berlin zu Verbrennungen von Schriften von Sigmund Freud durch die Nationalsozialisten gekommen war, musste er in Folge des Anschlusses Österreichs ans Dritte Reich im Juni 1938 Wien verlassen. Etwas mehr als ein Jahr später, am 23. September 1939 starb Sigmund Freud im Exil in London.
3.1.1. Das Persönlichkeitsmodell von Sigmund Freud
Das Wesen des Individuums liegt nach Sigmund Freuds zentralem Denkansatz in seiner Kindheit begründet. Nur was den Menschen bis zu seinem sechsten Lebensjahr prägt, wirkt in die psychosexuelle Gestaltung seiner weiteren Entwicklung. Der psychische Apparat des Menschen zeigt sich in drei Instanzen, mittels denen die Erlebens- und Verhaltensweisen des Individuums beschrieben werden können. Freud unterscheidet das Es, das Ich und das Über-Ich (oder Ich-Ideal). Mit seiner Geburt ist dem Menschen das Es gegeben:
Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das Es; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier [im Es] einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden.[22]
Das Es ist die Instanz der Triebe, Wünsche und Bedürfnisse. Diese sind immer auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, das kann ein Objekt, eine Person, auch eine Personengruppe sein. In der Instanz des Es hat rationales Denken keinen Platz. Das Es strebt ausschließlich nach Befriedigung seiner Wünsche und Bedürfnisse, es gilt das Lustprinzip.
Das Ich bildet die Instanz der bewussten Auseinandersetzung in Denken und Handeln mit der Realität. Es ist die Ebene der kognitiven Fähigkeiten und Funktionen, die der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen dienen. Dazu gehören Intelligenz, Kreativität, Gedächtnis, Sprach- und Lernfähigkeit, Denken, Urteilen, Erkennen und Vorstellen. Die Instanz des Ich steht unter Kontrolle der Wertewelt einer Gesellschaft oder einer Gruppe, diese gebündelte Moralvorstellungen bezeichnet Freud als Über-Ich und in späteren Schriften dann als Ich-Ideal. Analog zum Lustprinzip für die Instanz Es steht das Ich für das Realitätsprinzip. An ihm richtet das Ich seine Ansprüche aus und entwickelt sich:
Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das Es, in dem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt.[23]
Sigmund Freud konnte das psychoanalytische Persönlichkeitsmodell aus analytischer Beobachtung konstruieren. Im posthum erschienenen „Abriß zur Psychoanalyse“ bleibt der Versuch einer umfassenden Zusammenschau der aus der Praxis gewonnenen Erkenntnisse Fragment. Schon viel früher schreibt Freud über die Spannungen zwischen der Trieb- und der realen Welt. Was er in der 1920 erschienenen Arbeit „Jenseits des Lustprinzips“ beginnt, führt er in der 1923 erschienenen Schrift „Das Ich und das Es“ fort. In ihr verwendet Freud zum besseren Verständnis der Ich-Es-Spannung das folgende Gleichnis:
Die funktionelle Wichtigkeit des Ichs kommt darin zum Ausdruck, daß ihm normalerweise die Herrschaft über die Zugänge zur Motilität eingeräumt ist. Es gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten. Dieses Gleichnis trägt ein Stück weiter. Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin er gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre.[24]
Freuds Erkenntnis kann so zusammengefasst werden: Die Realität des Ich kontrolliert mittels kognitiver Fähigkeit die Lust des Es, dies im Rahmen des Über-Ich.
Das Ich kann die Triebbedürfnisse des Es dergestalt steuern, dass die Wünsche und Bedürfnisse, obwohl vom Menschen in früherer Lebenszeit wahrgenommen und erlebt, nicht aus eigener Kraft erinnert werden können. In diesem Zustand nennt Freud diese Inhalte „unbewusst“, sie können in der Analyse und also mit Hilfe des Therapeuten aufgerufen werden. „Vorbewusst“ hingegen sind Inhalte gleicher Herkunft, wenn das Individuum sie selbst freilegen, aktivieren oder wieder entdecken kann.
Die Psychoanalyse geht von zwei Haupttrieben aus, die das menschliche Verhalten erzeugen: Der Lebenstrieb (Eros oder Libido) sorgt für die Selbsterhaltung, das Über- und Weiterleben, die Fortpflanzung. Der Todestrieb (Thanatos oder Destrudo) steht im Gegensatz dazu für Zerstörung und Vernichtung des Lebens, Hass und Aggression, die sich nach innen, was heißt: gegen die eigene Person, und nach außen richten können. Sigmund Freud nennt diese beiden Haupttriebe Repräsentanten der „körperlichen Anforderungen an das Seelenleben“[25]:
Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen, heißen wir Triebe. Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben […] Obwohl letzte Ursache jeder Aktivität, sind sie konservativer Natur; aus jedem Zustand, den ein Wesen erreicht hat, geht ein Bestreben hervor, diesen Zustand wieder herzustellen, sobald er verlassen worden ist. Man kann also eine unbestimmte Anzahl von Trieben unterscheiden, tut es auch in der gewöhnlichen Übung. Für uns ist die Möglichkeit bedeutsam, ob man nicht all diese vielfachen Triebe auf einige wenige Grundtriebe zurückführen könne. Wir haben erfahren, dass die Triebe ihr Ziel verändern können (durch Verschiebung), auch dass sie einander ersetzen können, indem die Energie des einen Triebs auf einen anderen übergeht. Der letztere Vorgang ist noch wenig gut verstanden. Nach langem Zögern und Schwanken haben wir uns entschlossen, nur zwei Grundtriebe anzunehmen, den Eros und den Destruktionstrieb. (Der Gegensatz von Selbsterhaltungs- und Arterhaltungstrieb sowie der andere von Ichliebe und Objektliebe fällt noch innerhalb des Eros.)[26]
3.1.2. Der Traum, Traumbildung und Traumdeutung
Der Traum gilt als Wächter des Schlafs und wird zur Verbindung zum Unbewussten. Der Traum lässt zu, unbewusste Gedanken kennen zu lernen, was eine theoretische Erschließung des Unbewussten zulässt.
Wir beginnen am besten mit der Feststellung, daß es zweierlei Anlässe zur Traumbildung gibt. Entweder hat während des Schlafes eine sonst unterdrückte Triebregung (ein unbewußter Wunsch) die Stärke gefunden, sich im Ich geltend zu machen, oder es hat eine vom Wachleben erübrigte Strebung, ein vorbewußter Gedankengang mit allen ihm anhängenden Konfliktregungen im Schlaf eine Verstärkung durch ein unbewußtes Element gefunden. Also Träume von Es her oder vom Ich her.[27]
[...]
[1] In der Forschungslage ist nur eine Arbeit von Silvia Kronberger zu finden, die als Buch unter dem Titel „Die unerhörten Töchter. Fräulein Else und Elektra und die gesellschaftliche Funktion der Hysterie“ im Studienverlag erschienen ist.
[2] Vgl. Hartmut Scheible: Liebe und Liberalismus. Über Arthur Schnitzler. Bielefeld 1996, S. 187-188.
[3] Als Beispiel sei hier dieser Aufsatz genannt: William H. Rey: Das Wagnis des Guten in Schnitzlers Traumnovelle. In: German Quarterly 35 (1962), H. 3, S. 254-264.
[4] Vgl. Michaela Perlmann: Der Traum in der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers. München 1987 (=Münchner germanistische Beiträge, 37), S. 180-201.
[5] Julia Freytag beschäftigt sich in ihrer Diplomarbeit „Scham und Maske“ mit der „Maske als Synonym der Scham“ (Hans-Thies Lehmann) und untersuchte dazu vergleichend Schnitzlers „Traumnovelle“ und Kubricks Film „Eyes Wide Shut“. Die Diplomarbeit erschien im transcript-Verlag unter dem Titel „Verhüllte Schaulust“.
[6] Als Beispiel dient eine Tagebucheintragung vom 27.11.1922: „Traum: In einem Eisenbahncoupé mit V. L. […] V. umarmt mich leicht, ich, in Gedanken an nebenan […] entwinde mich. Sie: Gewöhne dir endlich ab feig zu sein. (Novelle: Fridolin, der sich Feigheit vorwirft) Ich: wärs dir recht, wenn er es bemerkte? Sie: Ja, er reist nächtens mit mir und einem andern, von dem man auch sagt, er sei mein Flirt, nach Berlin – nur um den Leuten zu beweisen, es sei nichts dran. – […]“. Zitiert nach: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1920-1922. Hrsg. von Werner Welzig. Bd. 7. Wien 1993, S. 383.
[7] Vgl. Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974, S. 132-133.
[8] Vgl. Hertha Krotkoff: Auf den Spuren von Arthur Schnitzlers Traumnovelle. In: Modern Austrian Literature 4 (1971), H. 4, S. 37-41.
[9] Ebd., S. 38.
[10] Ebd., S. 39.
[11] Ebd.
[12] Vgl. Nachwort und bibliographisches Verzeichnis in: Arthur Schnitzler: Die Erzählenden Schriften. Bd 2. Frankfurt 1961; vgl. bibliographischer Nachweis in: Arthur Schnitzler: Traumnovelle. 1925. 17. Aufl., Frankfurt 2003 (=Fischer Taschenbuch 9410), S. 89.
[13] Renate Wagner: Arthur Schnitzler. Eine Biographie. Mit neun Schwarzweißabb. Wien 1981, S. 362.
[14] Vgl. Hans-Joachim Schrimpf: Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 82 (1963), H. 2, S. 172-173.
[15] Arthur Schnitzler: Traumnovelle. In: ders.: Die Erzählenden Schriften. Bd. 2, S. 434-504.
[16] Arthur Schnitzler: Traumnovelle. In: ders.: Traumnovelle und andere Erzählungen. Das erzählerische Werk. Bd. 6. Frankfurt 1987 (=Fischer Taschenbuch, 1965), S. 59-129.
[17] Arthur Schnitzler: Traumnovelle. 1925. 17. Aufl., Frankfurt 2003. (=Fischer Taschenbuch, 9410). Alle Zitate der Primärquelle in dieser Arbeit werden nach dieser Ausgabe direkt und unmittelbar im Fließtext mit der Angabe der Seitenzahl in runden Klammern zitiert.
[18] Als Beispiele werden genannt: Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Die Braut. Stuttgart 2003 (=Reclams Universalbibliothek, 18159); Arthur Schnitzler: Traumnovelle. München 2004 (=SZ-Bibliothek, Bd. 12).
[19] Hans-Peter Bayerdörfer: Schnitzler, Arthur. In: Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autoren und Autorinnen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. von Andreas Kilcher. Stuttgart: Metzler 2000, S. 520.
[20] Gert Mattenklott: Jettchen Gebert und das Schtetl. In: Jüdische Lebenswelten. Essays. Hrsg. von Andreas Nachama, Julius H. Schoeps, Edward van Vaden. Frankfurt/Main 1992, S. 226.
[21] Bayerdörfer (wie Anm. 19), S. 520.
[22] Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen. Einleitung von F.-W. Eickhoff. 10. unveränderte Aufl., Frankfurt 2004 (=Fischer Taschenbuch, 10434), S. 42; Hervorhebung und Einfügung im Original.
[23] Ebd., S. 42-43.
[24] Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Einleitung von Alex Holder. 10. unveränderte Aufl., Frankfurt 2003 (=Fischer Taschenbuch, 10442), S. 265.
[25] Freud: Abriß (wie Anm. 22), S. 44.
[26] Ebd., S. 44-45, Hervorhebungen im Original.
[27] Ebd., S. 61.