I. Einleitung
Eine 600 Kilometer lange Menschenkette von Tallinn nach Vilnius, Massendemonstrationen in Tiflis, Pogrom in Baku – das Ende der Sowjetunion hatte viele Gesichter. Bis heute – 20 Jahre danach – besteht immer noch keine Einigkeit darüber, welches der Hauptgrund für den Zusammenbruch war. Diskutiert werden die marode Wirtschaft, die Unfähigkeit der marxistisch-leninistischen Ideologie zur Reform, das Versagen der Partei bei der Mobilisierung der Sowjetbürger, aber auch das Aufkommen nationalistischer und separatistischer Bewegungen. Auch wenn letztere schließlich zum Zusammenbruch geführt haben, können sie kaum zu dessen genuinen Ursachen gezählt werden, da die nationalistischen Strömungen erst ab 1988 an Massenwirksamkeit gewannen und auch erst in dieser Phase Forderungen nach Separation laut wurden. So erscheinen die nationalen Bestrebungen eher als späte Katalysatoren, welche der Auflösung ihre Form gaben und sie beschleunigten.
Zu den einzelnen Nationalismen und ihren historischen Entwicklungen existieren vielfältige Forschungsarbeiten im deutsch- wie englischsprachigen Raum. Vor allem die baltischen wie die kaukasischen nationalistischen Strömungen haben besondere Aufmerksamkeit von der Forschungsgemeinde erhalten. Der russische Nationalismus fand weit weniger Beachtung. In den allgemeinen sozialen Prämissen seiner Entwicklung gleicht er durchaus den Nationalismen der anderen Republiken. In der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) kam es, wie in den anderen Republiken, in den 1960er und 1970er Jahren zu einem Aufblühen nationalen Denkens vor allem unter den Eliten. Nach Ende des Stalinschen Terrors erholten sich diese nach und nach, die Entstalinisierung Chruščevs bot wieder mehr kulturelle Freiheit, die sie nutzten, um sich verstärkt mit ihren nationalen Geschichten und Kulturen zu beschäftigen. Zugleich entstanden im Zuge der allgemeinen Steigerung des Bildungs- und Lebensstandards besonders in den westlichen Republiken breite Mittelschichten, welche in den 1980er Jahren zu Trägern des nationalen Bewusstseins werden konnten und aus den Nationalismen lokaler Eliten Massenbewegungen entstehen ließen. Doch genau diese Massenmobilisierung war dem russischen Nationalismus versagt...
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Chruščev bahnt den Weg
- Entstalinisierung
- Reformen und Kampagnen in Landwirtschaft, Religion, Nation und Umwelt
- Formen des russischen Nationalismus in den 1960er und 1970er Jahren
- Ideologische Differenzierung
- Praktische Differenzierung
- Brežnev zwischen Unterdrückung und Politik der Inklusion
- Praktiken und Diskurse
- Gründe
- Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Entstehung und Entwicklung des russischen Nationalismus in der Sowjetunion der 1960er und 1970er Jahre. Sie analysiert die Bedingungen, die zur Entstehung des russischen Nationalismus führten, beleuchtet verschiedene Strömungen und ihre Protagonisten sowie deren Inhalte und behandelt Brežnevs Umgang mit nationalistischem Gedankengut. Die Arbeit soll dazu beitragen, die Ursachen für die mangelnde Massenfähigkeit des russischen Nationalismus im Vergleich zu anderen Nationalismen in der Sowjetunion zu verstehen.
- Die Rolle der Entstalinisierung und der Modernisierung im Aufstieg des russischen Nationalismus
- Die Entstehung und Entwicklung unterschiedlicher Strömungen des russischen Nationalismus
- Die Politik Brežnevs gegenüber dem russischen Nationalismus
- Die Gründe für die mangelnde Massenfähigkeit des russischen Nationalismus
- Die Relevanz des russischen Nationalismus für den Zerfall der Sowjetunion
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung stellt die Problematik des russischen Nationalismus in der Sowjetunion dar und betont dessen vergleichsweise geringe Bedeutung im Vergleich zu anderen Nationalismen. Sie führt in die Forschungslücke ein, die die Arbeit adressiert, und legt die Ziele und den Aufbau der Arbeit dar.
Chruščev bahnt den Weg
Dieses Kapitel beleuchtet die Rolle Chruščevs bei der Entstehung des russischen Nationalismus. Es untersucht die Entstalinisierung und die damit einhergehende Verbesserung des Lebensstandards und des Bildungsniveaus als wesentliche Voraussetzungen für den Aufstieg des russischen Nationalismus.
Formen des russischen Nationalismus in den 1960er und 1970er Jahren
Dieses Kapitel beschreibt verschiedene Strömungen des russischen Nationalismus in den 1960er und 1970er Jahren. Es analysiert die ideologischen und praktischen Unterschiede zwischen diesen Strömungen.
Brežnev zwischen Unterdrückung und Politik der Inklusion
Dieses Kapitel untersucht die Politik Brežnevs gegenüber dem russischen Nationalismus. Es beleuchtet die Praktiken und Diskurse, die die Regierung unter Brežnev einsetzte, um dem russischen Nationalismus zu begegnen, und diskutiert die Gründe für Brežnevs Vorgehen.
Schlüsselwörter
Russischer Nationalismus, Sowjetunion, Entstalinisierung, Modernisierung, Chruščev, Brežnev, Nationalismusforschung, Ideologische Differenzierung, Praktische Differenzierung, Massenmobilisierung, Politik der Inklusion, invented traditions, Nation, „vorgestellte politische Gemeinschaft“, „konstruktivistische Basis“
- Citar trabajo
- Anna-Maria Damalis (Autor), 2010, Russischer Nationalismus der 1960er und 1970er Jahre, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191792