Leseprobe
Inhalt
1. Vorwort
2. Die Verfahrensweisen, in denen die geistige Welt gegeben ist
2.1 Die Linie der Repräsentationen vom Erlebnis aus
2.2 Das Erlebnis gegenseitiger Abhängigkeit im Verstehen
2.3 Die allmähliche Aufklärung der Lebensäusserungen durch die beständige Wechselwirkung der beiden Wissenschaften
3. Die Objektivation des Lebens
4. Zusammenfassung
1. Vorwort
Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) verfasste im Verlauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit u.a. Beiträge zu Metaphysik, Moralphilosophie und Erkenntnistheorie sowie Werke über Renaissance, Reformation, die Philosophie der deutschen Aufklärung und über die Entwicklung des deutschen Idealismus, sein Hauptanliegen war jedoch die Entwicklung einer philosophisch – erkenntnistheoretische Fundierung der Geisteswissenschaften und ihrer Methodik in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen zu dieser Thematik und auch in dem hier in einzelnen Kapiteln vorgestellten Spätwerk, der Abhandlung „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ von 1910, hebt Dilthey immer wieder hervor, dass der Geisteswissenschaftler (im Gegensatz zu den lediglich erklärenden Naturwissenschaftlern) nacherlebend/verstehend in seinen Gegenstand , die menschlichen Lebensäusserungen hineinversetzen muss. Die hier vorgestellten Kapitel nehmen sicherlich eine wichtige Stellung für das Verständnis dieser Thematik ein, es ist dabei aber jederzeit zu bedenken, dass sie im Gesamtlebenswerk Diltheys zu diesem Thema nur einen Bruchteil, einen kleines Fenster zum Ganzen des Verständnisses Diltheys und seines Anliegens darstellen können.
Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf den Textauszug aus Diltheys Schrift in Lessing,H.U., Hrsg., Philosophische Hermeneutik, 1.Aufl., Freiburg/München 1998, S.62 –74. Da es keinesfalls das Ziel dieser Arbeit ist, ein Lesen des Primärtextes zu ersetzen, wurde auf längere wörtliche Zitate verzichtet, in der Regel ebenso auf die Kenntlichmachung einzelner von Dilthey übernommener Begriffe, wegen der Kürze des bearbeiteten Textes auch auf einzelne Seitenangaben.
2. Die Verfahrensweisen, in denen die geistige Welt gegeben ist
Bereits die Wortwahl der Kapitelüberschrift weist auf den fundamentalen, von Dilthey immer wieder dargestellten Unterschied der Geistenswissenschaften(GW) zu den Naturwissenschaften(NW) hin:
Die GW hat es eben (anders als die NW) nicht einfach mit Sachverhalten zu tun, die beim Betrachter jeweils ein „optisches Bild“ hervorrufen, und die allenfalls durch den Gesichtspunkt und die Bedingungen der Aufnahme unterschieden werden und lediglich durch Hinzugedachtes und Hinzuvorgestelltes (z.B. angenommene Kausalzusammenhänge) zu einer Totalvorstellung, einem System innerer Beziehungen zusammengestellt werden können, sondern sie ist uns nur gegeben und erschliessbar quasi im Vollzug ihrer selbst, als eine Weise unseres Verfahrens in und mit ihr.
Grundlage der GW können daher nicht blosse Sachverhalte sein, sondern eben Verfahrensweisen, nämlich Erleben und Verstehen.
2.1. Die Linie der Repräsentation vom Erlebnis aus
Die verschiedenen Erlebnisse des Einzelnen (und um diesen geht in diesem Abschnitt) stellen sich insgesamt als eine Reihe von Einzelerlebnissen dar, deren Reihencharakter vor allem durch die Kategorie Zeit determiniert wird, wobei das Zeiterlebnis Produkt einer elementaren Denkleistung des Individuums ist, das durch Erinnerung in der Lage ist, die Einzelerlebnisse zueinander in Beziehung zu setzen und auf diese Weise als Lebenseinheit zu reflektieren. Das Erlebnis wird zum Tatbestand. Dieses In-Beziehung-Setzen vollzieht sich sowohl in Richtung Vergangenheit (das Einzelerlebnis wird quasi von Erlebnissen der Vergangenheit des Ichs durch Gefühlsmacht zurückgezogen) als auch von der Vergangenheit Richtung Gegenwart (früher Erlebtes wird durch Interesse, Wiedererkennung, Gefühle etc. quasi in die Gegenwart zurückgeholt, wobei dieser Vorgang aber keine Volition, kein abstraktes Wissenwollen im Sinne Schleiermachers ist) und insgesamt auch Richtung Zukunft, insofern bereits Erlebtes auch zu Schlüssen hinsichtlich zukünftiger Erlebnisse als Möglichkeiten herangezogen wird.
Im Unterschied zur NW liegt aber hierbei das einzelne Erlebnis innerhalb dieses Denkprozesses nicht einfach sozusagen losgelöst vom Betrachter als blosses Objekt auf dem Seziertisch, sondern die Aneignung des Erlebnisses ist selbst Erlebnis mit allen darin enthaltenen Gegebenheiten, wird mit anderen Erlebnissen zusammen wiederum Teil einer Lebenseinheit, ist also letztlich niemals reines Objekt, sondern strukturelle Einheit, aus der zusammen mit anderen Erlebnissen das Seelenleben konstituiert wird. Inhalt und Bewusstsein des Erlebnisses stellen einen untrennbaren inneren Zusammenhang dar.
So ist der Lebensverlauf des Individuums keinesfalls die blosse Summe der Einzelerlebnisse, auch nicht einfach eine Reihe zeitlich aufeinanderfolgender Momente, sondern die Bestandteile der Gesamtheit des ganzen Lebensverlaufs wie Beziehungen, Regelmässigkeiten etc. sind in ihm jederzeit vollständig enthalten und verleihen so dem Wissen vom Lebensverlauf die gleiche Realität wie dem Erlebnis selbst.
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