Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
(I) Einleitung
(II) Bedeutung von Reliquien und Verwendung von Reliquiaren
(III) Der Evangelist Markus und seine sterblichen Überreste
III.1. Zur Person des heiligen Evangelisten Markus
III.2. Die Übertragung der Markusreliquien auf die Reichenau
(IV) Beschreibung und Analyse des Schreins
IV.1 Maße, Materialien und Techniken
IV.2. Struktur des Schreins und inhaltliche Darstellungen
IV.3. Verzierungen und bildkünstlerische Elemente
(V) Schluss: Wirkung und Aussage des Markusschreins auf den Betrachter
(VI) Abbildung: Der schematische Aufbau des Markusschreins
(VII) Literaturverzeichnis
(I) Einleitung
Seit dem frühen Mittelalter bis heute nehmen Christen weite Reisen auf sich, um berühmte körperliche Überreste von Heiligen zu verehren. Sie sprechen den Reliquien heilende Kräfte zu und glauben an diesen teilhaben zu können, wenn sie sich in ihrer Nähe aufhalten.
Im Laufe des Mittelalters entwickelte sich ein wahrer Kult um die Reliquien und die Nachfrage stieg beständig.[1] So wurden nicht nur heilige Gebeine oder Gegenstände in Altären, in Krypten oder als Teil von Kirchenschätzen aufbewahrt, sondern auch kleine Knochenteile oder Stofffetzen von Gläubigen in Amuletten getragen.[2] Um der hohen Nachfrage gerecht zu werden, entstand ein reger Handel in Europa, sodass die Authentizität vieler Reliquien mehr als fragwürdig wurde. Die Faszination an heiligen Überresten ist dennoch nicht verloren gegangen. Inwieweit spielt also die Echtheit von Reliquien bei der Verehrung überhaupt eine Rolle? Was haben heilige Gebeine oder Gegenstände Besonderes an sich, dass man ihnen vor allem im Mittelalter Wunderwirkungen zuschrieb?
Mit Beginn zunehmender Anbetung erfuhren die Aufbewahrungsorte der Reliquien eine prachtvolle Ausgestaltung, um den spirituellen Wert ihres Inhalts durch irdische Kostbarkeiten sichtbar zu machen. Es entstanden unterschiedliche Formen und Größen je nach Art der Reliquie, wobei der kastenförmige Schrein sehr häufig als Präsentationsmittel gewählt wurde.[3] So auch bei den körperlichen Überresten des heiligen Evangelisten Markus, die sich heute in der Schatzkammer des Reichenauer Münsters befinden. Anhand einer Beschreibung und Analyse des gotischen Schreins aus dem 14. Jahrhundert soll seine Aussage und die Botschaft der Markusreliquien in seinem Inneren für den (gläubigen) Betrachter ermittelt werden. Diese werden vor allem durch die dargestellte Bildthematik kommuniziert.
(II) Bedeutung von Reliquien und Verwendung von Reliquiaren
Das Wort Reliquie leitet sich vom lateinischen Wort reliquiae ab , was „Zurückgebliebenes“ bedeutet. Gemeint sind die Überreste von „kraftgeladenen“ Menschen wie zum Beispiel Heroen, Propheten oder Heiligen. Neben körperlichen Überresten wie Blut, Knochen, Haaren oder Fingernägeln, die man primäre Reliquien nennt, kann es sich auch um Kleidungsstücke, Gebrauchsgegenstände oder (Folter-)Werkzeuge handeln, welche als Sekundär- oder auch Kontaktreliquien bezeichnet werden.[4]
Im zweiten und dritten Jahrhundert sahen die Anhänger der Gnosis alle Leibhaftigkeit als „ungeistig“ und verderblich an. Die Orthodoxie hingegen bekräftigte die irdische Körperlichkeit beim Auferstehungsleib, womit die Basis für die Reliquienverehrung geschaffen wurde, da man glaubte, die körperlichen Überreste gingen mit in die Ewigkeit ein.[5] Aufgrund dieser Doppelexistenz im Dies- und Jenseits gewann das Grab oder der Aufbewahrungsort von heiligen Reliquien schnell an Bedeutung, da sie den Gläubigen Nähe zur himmlischen Ewigkeit vermittelten. Man erinnerte sich nicht nur im Angesicht der sterblichen Überreste an den Toten, sondern glaubte, dass in ihnen die heilige Kraft (lat. v irtus) des Heiligen weiterwirkte. Daher hofften Gläubige, indem sie sich in der Nähe der Reliquien aufhielten, an der Kraft des Heiligen teilhaben zu können und seinen Segen zu erhalten. Aus diesem Grund sprach man den Reliquien eine Wunderwirkung zu, für welche Menschen bis heute lange Wallfahrten auf sich nehmen.[6]
In der Forschung gibt es einen weiteren Ansatz für die Gründe der Verehrung. Laut Theodor Klüppel wird „Glaubensgeschichte immer im Konkreten sichtbar und fassbar (…). [Sie] geschieht nie im luftleeren Raum.“[7] Es sind also Menschen, die als Vorbilder und Wegweiser des Glaubens dienen. Heilige werden als Fürsprecher Gottes angerufen, da sie als Zeugen und Boten der Lehre und des Lebens Jesu gelten. Sie vermitteln anderen Menschen durch ihre Person - oder auch durch ihre sterblichen Überreste - Nähe zum Glauben. Entscheidend ist daher nicht unbedingt die Echtheit der Gebeine, sondern
inwieweit sie Gläubigen Christus verkünden. Durch ihre „irdische Materialität“ geben sie dem Glauben einen gewissen Anhaltspunkt. Dieser wird zum Beispiel heute noch am Markustag deutlich: Der Reliquienschrein auf der Reichenau wird vor das Lesepult gestellt und der Diakon liest aus dem Markusevangelium vor. Während er mit drei Fingern seiner rechten Hand auf den Schrein zeigt, beginnt er mit den Worten: „Lesung aus dem heiligen Evangelium nach diesem hier.“[8]
Die erste Übertragung von Gebeinen in eine Kirche fand 397 statt. Im Laufe der Zeit wurden in vielen Altären Reliquien platziert, da man sie mit der Eucharistiefeier verband. Während oben das Opfer Christi dargebracht wurde, lag unten das Opfer des Märtyrers. Bis ins 9. Jh. bestand die Vorstellung von der Unvergänglichkeit des Leibes, sodass man den Toten außer Haaren, Nägeln und Zähnen, von denen man glaubte, sie seien für eine Auferstehung nicht notwendig, keine anderen Teile entnahm. Ein corpus incorruptum, ein ganzer Leib, galt als Voraussetzung für das Jenseits.[9] Die Gebeinteilung aufgrund zunehmender Verehrung und Nachfrage setzte sich daher nur langsam durch, förderte aber maßgeblich die Herstellung und Produktion von Reliquienschreinen.[10] Da sie einen sakralen Mittelpunkt der Kirchen darstellten, wurden sie prachtvoll ausgestattet, zum einen, um dem wertvollen Inhalt gerecht zu werden, zum anderen, weil ihnen große Aufmerksamkeit zukam wie zum Beispiel bei den späteren Heiltumsweisungen, bei denen die Reliquien der Öffentlichkeit präsentiert wurden.[11] Durch die Teilungen entstanden Reliquiare in unterschiedlichsten Formaten, wobei der hausförmige Schrein vorherrschend blieb, welchen wir auch beim Markusschrein auf der Reichenau vorfinden. Gemeinsam war den Reliquiaren des Frühmittelalters, dass sie ihren Inhalt durch ihre kostbare Hülle vor den Gläubigen verbargen.
Erst im 12. Jahrhundert entstanden die „sprechenden Reliquiare“, welche den Blick auf die Überreste freigaben und auf ihre ursprünglich lebendige Form hinwiesen, so zum Beispiel Reliquiare in Form eines Kopfes oder Arms.[12] Oft besaßen Gotteshäuser mehrere dieser
Kostbarkeiten, die dann Teil des Kirchenschatzes wurden. Zwar scheinen Reliquien bis heute ihre religiöse Aura nicht verloren zu haben, doch gilt das Interesse heutzutage eher dem künstlerischen Wert der kostbaren Hüllen, sodass viele Reliquiare zu musealen Zwecken ausgestellt werden.
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1 Vgl. Bock, U.: Reliquiar, in: Betz, H., et al. (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 7,
Tübingen 42004, S. 414-416, hier: S. 415.
2 Vgl. Richter, T.: Reliquiar, in: Kasper, W., et al. (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Band 8, Freiburg/Basel/Rom/Wien 31999, S. 1088-1091, hier: S. 1088.
3 Vgl. Bock 2004, S. 415-416.
4 Vgl. Bock 2004, S. 415-417.
5 Vgl. Berschin, W., Klüppel, T.: Der Evangelist Markus auf der Reichenau, Sigmaringen 1994, S. 10.
6 Vgl. Angenendt, A.: Reliquien, in: Kasper, W., et al. (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Band 8,
Freiburg/Basel/Rom/Wien 31999, S. 1091-1094, hier: S. 1091-1092.
7 Berschin 1994, S. 25.
8 Vgl. Berschin 1994, S. 25-27.
9 Vgl. Legner, A. (Hrsg.): Reliquien. Verehrung und Verklärung, Köln 1989, S. 10-11.
10 Vgl. Bock 2004, S. 415.
11 Vgl. Diedrichs, C.: Reliquientheater. Die Weisung der Reichskleinodien in Nürnberg, oder: Performative Patina mittelalterlicher Kunst, in: Fischer-Lichte, E., et al. (Hrsg.): Diskurse des Theatralen (= Theatralität 5), Tübingen-Basel 2005, S. 211-229.
12 Vgl. Bock 2004, S. 415-416.