Die Bußgeldzahlung infolge des Nacktbadens der Tochter des Erzählers in „Mario und der Zauberer“ beansprucht in Thomas Manns 1930 erschienener Novelle nicht allzu viel Platz, in Klaus Maria Brandauers gleichnamiger Filmadaption von 1994 erfährt sie aber eine ungleich größere Aufmerksamkeit, und kann gar als Schlüsselszene gesehen werden. Genau in der Mitte des Films wird nicht nur über Recht und Unrecht entschieden: In der Figur des Schriftstellers Fuhrmann, dem Pendant zu Manns homo- und intradiegetischem Erzähler, und dem Präfekten Angiolieri, dem „höhere[n] Beamten“ in der Novelle, treffen Demokratie und Faschismus aufeinander. Die folgende Analyse konzentriert sich auf Branauers Adaption der Szene bei Mann. Im Folgenden werden die Darstellung des beinahe neu erfundenen Präfekten, des Schriftstellers, und ihre denkwürdige Interaktion miteinander gedeutet.
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Die Bußgeldzahlung aus Thomas Manns Mario und der Zauberer in der Filmadaption von Klaus Maria von Brandauer
Das Nacktbaden der Tochter des Erzählers in Thomas Manns 1930 erschienener Novelle „Mario und der Zauberer“ löst einen Sturm der Entrüstung der einheimischen Badegäste aus, wird als Verstoß gegen die öffentliche Moral gewertet und mit 50 Lire Bußgeld geahndet. In Manns Novelle beansprucht diese Anekdote nicht allzu viel Platz und hat sehr wahrscheinlich, wie der gesamte erste Teil von Mario und der Zauberer, die Funktion, die nationalistische bis fremdenfeindliche Stimmung in Torre di Venere zu etablieren wie auch einen geeigneten Rahmen für die Ankunft des Zauberkünstlers Cipolla und dessen eigenen Anspielungen an italienischen und deutschen Faschismus zu schaffen (vgl. Bridges 502). Im Vergleich zum Höhepunkt der Erzählung, Cipollas Auftritt und seinem schrecklichen Ableben, ist die Bedeutung dieser Szene innerhalb des Werkes eher gering. In Klaus Maria von Brandauers gleichnamiger Filmadaption von 1994 erfährt sie aber eine ungleich größere Aufmerksamkeit, und kann gar als Schlüsselszene gesehen werden. Genau in der Mitte des Films wird nicht nur über Recht und Unrecht entschieden: In der Figur des Schriftstellers Fuhrmann, dem Pendant zu Manns homo- und intradiegetischem Erzähler, und dem Präfekten Angiolieri, dem „höhere[n] Beamten“ (29) in der Novelle, treffen Demokratie und Faschismus aufeinander. Aufgrund der Kürze dieses Essays können selbstverständlich nicht alle Unterschiede zwischen dieser Szene im Buch und im Film besprochen werden, weshalb sich die folgende Analyse eher auf Brandauers Filmadaption konzentriert. Im Folgenden werden die Darstellung des beinahe neu erfundenen Präfekten, des Schriftstellers, und ihre denkwürdige Interaktion miteinander gedeutet.
Präfekt Angiolieri, der innerhalb des Films als Personifikation eines faschistischen Politikverständnisses gilt, inszeniert sich als mitfühlenden und gesetzestreuen Kleinstadtpolitiker, wobei Brandauer gleichzeitig dessen korrupte Arbeitsweise und Aggressivität offenbart. Zu Beginn der Szene ist Angiolieri für einige Sekunden im Zentrum des Bildes wie in einem erdunkelten Ölgemälde dargestellt: Nachdenklich mit gerunzelter Stirn und gefalteten Händen, eine weiße Rose im Revers des beigen Jacketts und gedämpftem Licht von links oben gibt er den besorgten Stadtvater, der für die Sorgen des kleinen Mannes da ist, und scheinbar nachdenklich, den Kopf schräg und mit auf die Tischplatte gestützten Ellenbogen, nach einer Lösung für die „Ordnungswidrigkeit“ sucht. Fuhrmann, aus dessen Sicht diese Inszenierung aufgenommen ist, scheint die Ähnlichkeit zum glanzvollen Politikerportrait aufzufallen: „Das kommt auf die Perspektive an“, antwortet er mit starrem Blick auf Angiolieris Hinweis auf die Schwere des Vergehens. Fuhrmanns Einspruch „Ach kommen Sie, Präfekto!“ bringt diesen nicht aus der Fassung: Während sein Sekretär ihn auf der rechten Seite flankiert macht er eine Geste des Zugeständnisses, die Handflächen offen zu Fuhrmann zeigend erhoben vor sich, signalisiert er sein vollstes Verständnis für ihn („Ja, ich weiß, ich weiß, ich weiß“). In seiner Rolle als gesetzestreuer Beamter weist er aber alle Schuld von sich und macht auf seine scheinbare Gesetzestreue aufmerksam: „[D]ie Gesetzesmaschinerie“ laufe bereits, seufzt er, mit der linken Hand auf dem Herzen die Wahrhaftigkeit seiner Aussage bezeugend, und gleichzeitig auf seiner Forderung beharrend, die Hände seien ihm „gebunden“, die er dann auch promt zur Geste des Bittens zusammenführt. Ein Blick zum Sekretär wird für diesen zum Befehl, Zustimmung durch Kopfnicken zu heucheln.
Angiolieris Respekt vor dem Gesetz ist jedoch recht unglaubwürdig, da er nur wenige Szenen später sämtliche Funktionsträger der Stadt zu einem Fest zu seinen Ehren zusammentrommeln kann und sich dort selbstherrlich feiern lässt, und ihm den ganzen Film über der Verdacht anhängt, den Hotelleiter zum Schweigen gebracht zu haben. Korruption und totalitäres Leiten der Amtsgeschäfte werden in dieser Szene aber nicht nur durch seinen lakonischen Verweis auf einen Verzicht auf eine Quittung über Fuhrmanns Bußgeld deutlich. Das eher schummrige Licht im Büro des Präfekten, welches noch düsterer im Vergleich mit dem sonnigen Strand der vorherigen Szene erscheint, nutzt Brandauer um die Amtsstube Angiolieris zum rechtsfreien Hinterzimmer zu gestalten. Die Selbstdarstellung Angiolieris als mitfühlenden Politiker wird auch durch die Kameraeinstellung aus Fuhrmanns Perspektive, welche den Kampfhund des Präfekten direkt unter ihm, als Spiegelung unter der Tischplatte sitzend, in Zweifel gezogen. Während der Nüsse essende Präfekt oberhalb der Schreibtischplatte Verständnis heuchelt, und scheinbar widerwillig aber pragmatisch dem Gesetz dient, ist seine Dogge, die an einem blutigen Knochen nagt, eine Allegorie seiner Aggressivität und Kaltblütigkeit, die ihn letztlich auch des Mordes am Hoteldirektor verdächtig macht.
Professore Fuhrmann ist im Film zwar ein Vorbild des aufgeklärten Demokraten, der auch gegen einen erstarkenden Nationalismus und Faschismus mit Vorträgen ankämpft, lässt sich aber, trotz seiner Einwände gegen eine fremdenfeindlich motivierte Verwarnung, vom Präfekten vereinnahmen. Fuhrmann ist die Fokalisationsinstanz dieser Szene, da die Kamera zwar von hinten rechts auf ihn und den Präfekten oder auf Höhe seiner Augen unter die Tischplatte das Geschehen präsentiert, nicht aber aus der Perspektive des Präfekten. Im Unterschied zu Manns Erzähler äußert Fuhrmann einige Einwände gegen die Maßregelung seiner Tochter, und hat vor allem nichts mit der snobistischen Arroganz des mannschen Erzählers gemein. Im Gegenteil, Fuhrmann bleibt, abgesehen von den wenigen Einsprüchen, bemerkenswert neutral. Die Gesichtszüge und die im aufrechten Sitzen verharrende Körperhaltung (Beine parallel nebeneinander, Rücken gerade, Kopf aufrecht, Hände im Schoß) des Professore verraten keine Meinung zum Präfekten. Von der Schreibtischplatte, die als Grenze zwischen dem Vertreter des Rechts Angiolieri und des Bürgers Fuhrmann fungiert und auch nur durch die Kamera oder Angiolieris Sekretär überschritten wird, hält Fuhrmann demonstrativ Abstand. Gerade wegen jener scheinbaren Neutralität und Distanz und der pflichtbewussten, aber keineswegs mit Ernst verfolgten Einsprüche gegen offensichtliche Willkür ist der Professore ein vorbildlicher Demokrat. Jedoch lässt sich der Demokrat Fuhrmann, bewusst oder unbewusst, vom Faschisten Angiolieri umgarnen und zum Spiel nach dessen Regeln bringen. Nicht nur Angiolieri genehmigt sich ein Glas Rotwein, auch vor Fuhrmann steht ein bereits halbleerer Kelch, den er möglicherweise, die Uhr hinter ihm zeigt halb fünf an, schon eine Weile in Gesellschaft des Präfekten genießt.
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- Franz Kröber (Author), 2012, Machtspiel im Miniaturformat , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192000