Begründete Vorsicht oder Antisemitismus

Schweizer Flüchtlingspolitik zur Zeit des Nationalsozialismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

32 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historisches Umfeld

3. Antisemitische Schweiz ?
3.1 Bevölkerung
3.2 Politische Entscheidungsträger und Institutionen

4. Die Flüchtlinge
4.1 Ausmaße der Flüchtlingswellen
4.2 Aufenthaltsbedingungen für Flüchtlinge in der Schweiz
4.3 Finanzierung der Flüchtlingspolitik

5. Ausnahme oder Normalfall?
5.1 Schweizer Hilfsaktionen
5.2 Flüchtlingspolitik anderer Nationen

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland begann eine Verfolgungswelle, welche letztlich im schrecklichen und historisch einzigartigen Ereignis des Holocaust mündete. Diese Verfolgungen und später gezielten Massentötungen führten dazu, dass große Flüchtlingsströme entstanden, welche in anderen Nationen Zuflucht suchten. Anfangs strömten die Flüchtlinge – oftmals Juden – aus dem Deutschen Reich selbst, dann aus „angeschlossenen“ Gebieten, wie etwa Österreich, und im Zweiten Weltkrieg von den einzelnen Fronten, speziell der Ostfront, Hilfe suchend in andere Staaten. Dies konnten sowohl angrenzende Staaten des Deutschen Reiches, andere europäische Nationen oder gar Länder auf anderen Kontinenten sein. Die Frage um die Aufnahme der Flüchtlinge stellte sich also weltweit und jedes der betroffenen Länder sah sich vor eine Belastungsprobe gestellt.

Eine besondere Stellung unter diesen betroffenen Ländern nahm die Schweiz ein. Seit langem bekannt für ihre humanitäre Tradition und geographisch für viele Fliehende relativ günstig gelegen, sah sie sich schnell mit den Flüchtlingen konfrontiert und musste eine eigene Politik gegenüber diesen entwickeln. Diese Flüchtlingspolitik soll in der vorliegenden Hausarbeit thematisiert werden. Es soll veranschaulicht werden, welche Faktoren bei der Aufnahme oder Abweisung von Flüchtlingen eine Rolle spielten. Dabei geht es vor allem um eine Bewertung der Bedeutung fremdenfeindlicher und antisemitischer Einflüsse. Wie offen war die Schweiz für Menschen, die vor dem NS-Regime flüchteten? Wurde die damalige Flüchtlingspolitik der Schweiz durch antisemitische Tendenzen beeinflusst? Gab es auch rationale Faktoren, welche die Schweiz zu ihrer Haltung berechtigten? Handelten andere Staaten besser als die Eidgenossenschaft?

Dabei wird der Blick zuerst auf die damalige politische Situation der Schweiz und das historische Umfeld gerichtet, um ein Grundverständnis für den weiteren Argumentationsgang zu schaffen. Anschließend werden die fremdenfeindlichen und antisemitischen Tendenzen in der Schweiz näher beleuchtet, um ein Verständnis dafür zu schaffen, inwiefern solches Gedankengut in der Schweiz überhaupt vorhanden war. Dabei wird zuerst die Schweizer Bevölkerung, danach die politischen Entscheidungsträger näher beleuchtet.

Im nächsten Kapitel wird die Flüchtlingsproblematik in verschiedenen Facetten dargestellt. Nacheinander werden die quantitativen Ausmaße der Flüchtlingsströme, die Umstände des Aufenthalts und dessen Finanzierung dargestellt. Dies soll zum einen veranschaulichen, wie die Schweizer mit den Exilsuchenden umgingen, zum anderen aber auch Auskunft darüber geben, inwiefern die kleine Eidgenossenschaft durch die Heere an Flüchtlingen belastet wurde.

Das letzte Kapitel stellt die Frage nach Ausnahmen und dem Normalfall. Dies ist gleich auf zwei verschiedene Themenbereiche innerhalb der Thematik zu verstehen. Zum einen soll dargestellt werden, welche Institutionen und Personen Hilfe für Flüchtlinge leisteten und inwiefern sie damit von der Staatsräson abwichen. Zum anderen wird der Blick auch auf andere Staaten innerhalb und außerhalb Europas gelenkt, um zu zeigen, welche Rolle die Schweiz mit ihrer Flüchtlingspolitik im internationalen Vergleich einnimmt. Waren andere Länder offener oder war die Schweiz das liberalste Land für Asylsuchende? Abschließend werden die Erkenntnisse in einem Fazit zusammengefasst.

Die Literaturlage für die Thematik ist durchaus reichhaltig. Neben wenigen Werken, welche sich auf die Flüchtlingspolitik der Schweiz spezialisieren[1] finden sich vor allem komplexe Darstellungen über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die verschiedene Themenkomplexe von Asyl- über Wirtschafts- bis zur Innenpolitik und internationalen Beziehungen behandeln.[2] Die Thematik „Schweiz im Zweiten Weltkrieg“ ist heute aktueller denn je, was sich auch in der Forschung bemerkbar macht. Zu vielen Teilaspekten findet sich aktuelle bis wenige Jahre alte Literatur. Zur Diskussion über die historische Rolle der Schweiz hat vor allem der sog. „Bergier-Bericht“[3] beigetragen, welcher seit Mitte der 1990er Jahre im Auftrag des Bundesrates der Schweiz von einer Unabhängigen Expertenkommission (UEK) erstellt wurde. Vor allem die Bewertung der schweizerischen Flüchtlingspolitik geriet ins Kreuzfeuer der Kritik. Sowohl der Bergier-Bericht, als auch jene Schriften, die ihn kritisieren, stellten wichtige Literatur für diese Hausarbeit dar. Weiterhin wird durch diese Debatte deutlich, wie spannungsgeladen das Themengebiet auch heute noch ist und dass die Meinungen in der Forschung zum Teil deutlich divergieren.

2. Historisches Umfeld

Wie alle Bereiche der Staatspolitik, kann auch die Flüchtlingspolitik nur als Reaktion auf und in Verbindung mit der historischen Situation des Staates verstanden werden. Bei der Schweiz springt dabei für die 1930er Jahre zuerst die wirtschaftliche Abhängigkeit ins Auge.

Wenngleich kein Staat der Welt in den 1930er/40er Jahren wirtschaftlich völlig autark war, so war die Abhängigkeit der Schweiz vom Außenhandel doch besonders gravierend. Jeder einzelne ihrer Wirtschaftssektoren war auf Importe angewiesen. Besonders hart traf dies für Nahrung und Rohstoffe zu, welche zu 45% bzw. nahezu 100% importiert werden mussten.[4] Dabei bildeten Deutschland und Frankreich die wichtigsten Handelspartner. Die Schweiz hatte während der 1930er Jahre den drittgrößten Außenhandelsumsatz pro Kopf weltweit.[5] Die Situation, sowohl mit Alliierten als auch Achsenmächten intensiv Handel zu treiben, musste bei Ausbruch des Krieges 1939 zwangsläufig zum Konflikt führen. Während Deutschland schon vor dem Krieg als größter Abnehmer der Schweizer Exporte fungierte, so steigerte sich dies in den ersten Kriegsjahren noch weiter. Insgesamt gingen ca. zwei Drittel aller Schweizer Exporte an die Achsenmächte. An Deutschland wurde kriegsrelevantes Material im Wert von 600 Mio., an Italien von 150 Mio. Franken geliefert. Dies war etwa zehnmal mehr als an die Alliierten geliefert wurde. Auch diente die Eidgenossenschaft für das „Dritte Reich“ als Umschlagplatz für Gold, obwohl die Nationalbank der Schweiz wusste, dass Teile davon aus niederländischen und belgischen Beständen geklaut waren. Laut Maissen hat die Schweiz vom Handel mit den Achsenmächten besonders profitiert, da sie eine positive Handelsbilanz mit ihnen hatte.[6] Weiterhin vergab die Schweiz bis 1942 den sog. „Clearingkredit“ an Deutschland in Höhe von insgesamt 850 Mio. Franken, wodurch sie im Gegenzug vor allem Rohstoffe erhielt. Zimmermann beurteilt den wirtschaftlichen Nutzen der Schweiz für Deutschland dabei sehr hoch wenn er schreibt: „Die traumatische Angst der Schweiz, vom Großdeutschen Reich militärisch besetzt oder ihm gar politisch einverleibt zu werden, hätte sich bei nüchterner Betrachtung der wirtschaftlichen Tatsachen von selbst widerlegt“[7]. Gemessen an den historischen Verhältnissen eine durchdachte Einschätzung.

Hat die Schweiz also die Achsenmächte wirtschaftlich deutlich bevorzugt und sich politisch auf ihre Seite geschlagen? Diese Frage zu bejahen würde den Sachverhalt simplifizieren. Zu Bedenken sind hierbei u.a. die geografischen Umstände, vor allem nach 1940, als die Schweiz komplett von den Achsenmächten umschlossen war und ein Export in alliierte Nationen nicht ohne Komplikationen abgelaufen sein dürfte. Gleiches gilt für Importe, von denen die Schweiz, wie oben erwähnt, besonders abhängig war. Allein durch die geografischen Begebenheiten waren diese am besten durch das Deutsche Reich zu organisieren. So sieht es auch Halbrook: „Without German exports, the Swiss situation [...] would be grim“[8]. Außerdem waren Deutschland und Italien schon vor der Machtergreifung Hitlers und selbst Mussolinis eine der wichtigsten Handelspartner.

Was hat aber die Wirtschaft mit der Flüchtlingspolitik zu tun? Die Auswirkungen sind eher indirekt. Durch die enge wirtschaftliche Kooperation mit Deutschland, welche stellenweise in eine wirtschaftliche Abhängigkeit ausartete, konnte es nicht im Interesse der Schweiz sein, die diplomatischen Beziehungen zum nördlichen Nachbarn zu beschädigen. Dies und die Tatsache, dass in der Flüchtlingspolitik auch wirtschaftlich argumentiert wurde, machen eine Auseinandersetzung mit der Schweizer Wirtschaft vor und im Krieg unerlässlich.

Abgesehen von den wirtschaftlichen Faktoren, bildeten auch politische Ereignisse wichtige Faktoren für den Umgang der Eidgenossenschaft mit den Flüchtlingen. Eines der wichtigsten davon war die Konferenz von Evian, welche vom 6. bis 15. Juli 1938 auf Initiative Roosevelts stattfand. Auf ihr sollten die 32 teilnehmenden Staaten regeln, wie viele Flüchtlinge jedes Land aufzunehmen bereit war. Sie muss im Kontext der enormen Flüchtlingswelle gesehen werden, welche nach der Annexion Österreichs im März 1938 einen neuen Höhepunkt darstellte. Zuvor hatte es bereits große Auswanderungswellen gegeben, etwa nach der „Machtergreifung“ 1933 oder nach dem Erlass der „Nürnberger Gesetze“ 1935. Trotz internationaler Beteiligung und der Kenntnis über die Diskriminierung der Juden in Deutschland kamen die Konferenzteilnehmer zu keinen nennenswerten Ergebnissen. Außer der Dominikanischen Republik, ein politisches Leichtgewicht auf internationaler Bühne, war kein Land bereit Flüchtlinge aufzunehmen.[9] Die Schweiz bot sich als reines Transitland an, was sich durch die generelle Ablehnung der Flüchtlinge durch die restlichen Staaten jedoch erübrigte. Der schweizerische Arbeitskreis Gelebte Geschichte (AGG) bewertet den Vorschlage der Schweiz positiv und sieht die Schuld des Scheiterns bei den anderen Ländern, welche mit mehr Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge die Schweiz als Transitland hätten kontaktieren können. Somit sei die Chance vertan worden, mehr Menschenleben zu retten.[10] Es ist zwar richtig, dass die anderen Länder mehr hätten tun können, andererseits kann auch argumentiert werden, dass die Schweiz mehr hätte tun können. Sich selbst als Transitland zur Verfügung zu stellen bedeutet zwar einerseits die Annahme von Verantwortung, begrenzt diese aber auch gleichzeitig, da sicher gestellt ist, keinerlei dauerhafte Aufnahmen von Fremden zu dulden und diese größere Verantwortung auf andere Nationen abzuwälzen. Bourgeois betrachtet das Verhalten der Schweiz als identisch mit der Mehrheit der Teilnehmer, da sie ebenso wenig bereit war Flüchtlinge aufzunehmen. Den Grund dafür sieht er in dem Willen der Schweiz, das Verhältnis zu Deutschland nicht zu belasten.[11]

Wie ernst es der Schweiz mit ihrem Vorschlag war, die Stellung als Transitland einzunehmen, ist schwer zu beurteilen. Einerseits könnte es sein, dass der Vorschlag nur gemacht wurde, weil ohnehin schon abzusehen war, dass fast kein Land Flüchtlinge aufnehmen würde. Die Schweiz hätte somit in humanitärer Hinsicht ihren traditionell guten Ruf bewahrt, Initiative vorgetäuscht und die Hauptverantwortung anderen Staaten aufgelegt. Andererseits könnte es auch sein, dass man sich in der Schweiz bewusst war, dass die Zahl der Flüchtlinge in Zukunft enorm steigen könnte. Es dürfte Kreise gegeben haben, die einen Krieg für wahrscheinlich hielten. Hätte die Schweiz es dann vorzeitig geschafft, sich lediglich in der Rolle des Durchreisestaates zu befinden, so wäre dies zumindest eine Position, welche weniger wirtschaftliche und politische Belastung mit sich gebracht hätte. Auch bleibt die Frage offen, inwiefern sich das berühmte humanitäre Erbe und die Neutralität der Schweiz in diesem Sachverhalt mitwirkten. In jedem Fall war die Schweiz, wie fast jede andere Nation auf der Konferenz, nicht bereit, Schutzsuchende über einen längeren Zeitraum aufzunehmen.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz waren am Vorabend des Zweiten Weltkriegs keinesfalls unbelastet. Wenngleich man auf wirtschaftlicher Seite zu gegenseitigen Vorteil kooperierte und die Schweiz weit davon entfernt war, eine judenfreundliche Politik zu betreiben, gab es Reibungspunkte. So entfaltete sich in der Schweiz nie eine politisch landesweit bedeutende rechtsextremistische Partei, was auch daran lag, dass die Mehrheit der Behörden und politischen Parteien der Schweiz sich stets gegen diese wanden. Stellenweise wurden bereits vor Kriegsausbruch rechtsradikale Parteien und Gruppierungen verboten. Weiterhin führten einzelne Vorfälle, wie etwa die Ermordung Wilhelm Gustloffs in Davos zu Spannungen zwischen den beiden Staaten.[12]

Aufgewertet wurde die internationale Stellung der Schweiz durch ihre Neutralitätserklärung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Dies ließ die Eidgenossenschaft zur Schutzmacht für 43 Staaten werden. Das Mandat galt vor allem für Kriegsgefangene des betroffenen Staates. Auch vermittelte die Schweiz vereinzelt diplomatisch zwischen einzelnen Nationen.[13]

3. Antisemitische Schweiz?

3.1 Bevölkerung

Wie bereits erwähnt, hatten rechtsextremistische politische Parteien in der Schweiz in den 1930er und -40er Jahren kaum politische Macht. So scheiterte bereits 1935 eine von rechtsradikalen Parteien eingebrachte Volksabstimmung, welche die Totalrevision der Bundesverfassung als Ziel hatte. Konkret hätte dies bedeutet, dass sich die Schweiz eine neue, an dem „Führerprinzip“ angelehnte Verfassung gegeben hätte. Es stimmten lediglich 28% für den Antrag. Maissen sieht den deutlichen Misserfolg vor allem darin, dass die Blut-und-Boden Politik der Nazis im völligen Gegensatz zum Schweizer Föderalismus stand.[14] Ebenso wenig erfolgreich agierte die größte rechtsradikale Gruppierung „Nationale Bewegung“, welche am 18.11.1940 verboten wurde. Letztlich gab es ab dem 10.06.1941 keine legalen rechtsradikalen Organisationen mehr in der Schweiz. Auch scheiterte die Gründung einer Schweizer SS, lediglich einige Hundert Schweizer traten der deutschen (Waffen-)SS bei.[15]

Aus diesen Ereignissen abzuleiten, dass antisemitische und fremdenfeindliche Tendenzen in der Schweiz kaum vorhanden waren wäre jedoch zu einfach. Denn wie Bourgeois belegt, war die Zugehörigkeit zur „Jüdischen Rasse“ schon lange vor dem Ersten Weltkrieg und damit lange vor der nationalsozialistischen Herrschaft ein Auslesekriterium bei der Vergabe von Visa.[16] Maissen bewertet dies ebenso und merkt zusätzlich an, dass vor allem Juden aus Osteuropa und dem Balkan sich mit massiven Vorurteilen konfrontiert sahen, so galten sie z.B. als nicht assimilierbar in die Schweizer Gesellschaft.[17] Weiterhin sieht Maissen fließende Übergänge zwischen einem tradierten katholischen Antijudaismus und einem konfessionsunabhängigen, eher politischen Antisemitismus. Während in der Bevölkerung typische Vorurteile dominierten, argumentierten Behörden eher auf einer kulturellen Ebene und Übernahmen teilweise gar das nationalsozialistische Vokabular, indem sie etwa bei Passkontrollen einen „Arier-Ausweis“ verlangten.[18] Maissen sieht dieses Gedankengut auch im Zusammenhang mit der zunehmenden Betonung des Nationalen in der Schweiz, welche durch die wahrgenommene Bedrohung durch Deutschland deutlichen Aufwind erhielt. Als Beispiele führt er hierfür die Aufnahme des Rätoromanischen als vierte offizielle Landessprache 1938 sowie die Landesausstellung 1939 in Zürich an. Zu dieser erschienen ca. 10 Mio. Besucher, was insofern beeindruckend ist, als dass die Schweiz zum damaligen Zeitpunkt gerade einmal 4,3 Mio. Einwohner hatte.[19]

Der Zusammenhang zwischen Rückbesinnung auf Nationales und der Aus- bzw. Weiterbildung fremdenfeindlicher Tendenzen ist in der Tat wichtig. Warum eine Sprache wie das Rätoromanische, damals von etwa 1% der Bevölkerung gesprochen, als zusätzliche Landessprache aufgenommen wurde, lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass man sich der Einzigartigkeit dieses nationalen Guts bewusst wurde und ihre Bedeutung steigern wollte.[20] Natürlich führt die Aufnahme einer neuen Sprache oder eine Landesausstellung nicht automatisch zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Die darin verborgene Steigerung des Nationalbewusstseins kann jedoch auch den Nährboden für zunehmende Fremdenfeindlichkeit bilden. Es ist ein historisch wiederkehrendes Phänomen, dass dort, wo man sich auf nationale Wurzeln besinnt, in Teilen auch eine Abwertung von Ausländern und kulturell Andersartigen stattfindet.

Die UEK bescheinigt den Schweizern gar eine deutlich fremdenfeindliche Haltung: „Nun waren [...] antisemitische Vorurteile und christlich geprägte Judenfeindschaft auch in der Schweizer Bevölkerung allgemein üblich“[21]. Gleichzeitig entpolitisiert sie diesen Antisemitismus, in dem sie davon ausgeht, dass die Bevölkerung eine offenere Flüchtlingspolitik mitgetragen hätte.[22]

Insgesamt ist es jedoch schwer nachzuweisen, inwiefern antisemitische Tendenzen in der schweizerischen Bevölkerung verbreitet waren. Was fehlt ist ein demoskopisches Meinungsbild der damaligen Zeit. Es können nur Vermutungen angestellt werden, welche jedoch durch eine Auswertung privater Quellen, etwa Briefe oder Tagebücher noch zu bekräftigen wären.

3.2 Politische Entscheidungsträger und Institutionen

Besser nachweisbar als für die Bevölkerung sind rassistische Tendenzen bei politischen Entscheidungsträgern und Institutionen.

Ein Beispiel hierfür ist Heinrich Rothmund. Dieser war von 1919 bis 1955 Chef der Schweizer „Fremdenpolizei“ und somit eine „Schlüsselfigur der Schweizer Ausländerpolitik“[23]. Seit seinem Amtsantritt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges sprach Rothmund immer wieder von der Gefahr der „Verjudung“ der Schweiz. Besonders offen tat er dies in Gesprächen mit Nazi-Größen.[24] Zumeist kursierten seine antisemitischen Ansichten jedoch nur in kleinen Kreisen. So heißt es in einer internen Notiz von 1935: „Mir geht die Sache aber wider den Strich. Der Handel mit gebrauchten Maschinen, mit Besuch der Kundschaft auf dem Lande, durch einen Juden, ist unsympathisch. Es sind gerade diese Juden, die Händler, deren Auftreten nach der Abneigung der Bevölkerung ruft. Ich verstehe die Konkurrenz, die sich dagegen wehrt. Ich bin für Ablehnung“[25]. Hier vereinigt sich nicht nur antisemitisches Klischee, sondern auch der offene Wille, Juden in der Schweiz nicht aufnehmen zu wollen. Als Oberhaupt jener Institution, welche maßgeblich am Schicksal der Flüchtlinge[26] beteiligt war und oft direkt darüber entschied, sind dies verheerende Ansichten.

Nach dem Krieg wurde Rothmund zum Symbol und Sündenbock für die antisemitischen Tendenzen in der Schweizer Politik während des Zweiten Weltkrieges.[27] Dabei reichten die Auswüchse solchen Gedankengutes noch wesentlich weiter. So gab es auch im Außenministerium antisemitische Strömungen, welche soweit reichten, dass man die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ als ernsthafte Quellen heranzog und ihnen Glauben schenkte. Aus der Schweizer Botschaft in Berlin hieß es nach Erlass der Nürnberger Gesetze und der darauf folgenden Flüchtlingswelle: „Von Berlin aus betrachtet scheint jedenfalls dieser Andrang etwas beängstigend, wollen wir uns nicht der Gefahr aussetzen, in einem Jahrzehnt auch in der Schweiz ein Judenproblem zu haben“[28]. Des weiteren existierte 1938 ein Rundschreiben unter den Konsulaten, in welchem es hieß: „Wie schon für die Flüchtlinge aus Deutschland kann die Schweiz aus den Ihnen bekannten Gründen der Überfremdung und des Arbeitsmarktes auch für die Flüchtlinge aus Deutsch-Österreich nur Transitland sein“[29].

Hierbei sind mehrere Sachverhalte markant. Man billigt den Status als Transitland zu, lehnt Flüchtlinge also nicht generell ab. Auch ist keine Rede von Juden, was die Frage aufwirft, ob man die Juden als gleichberechtigte, oder nicht unter den Flüchtlingsbegriff fallende Individuen sieht. Begründet wird die Haltung mit einer Überfremdung des Arbeitsmarktes, wodurch zum fremdenfeindlichen noch ein wirtschaftliches Motiv hinzugefügt wird.

[...]


[1] Vgl. Jean Bieri: ...der werfe den ersten Stein. Für ein besseres Verständnis der schweizerischen Flüchtlingspolitik von 1933 bis 1945. Eine kritische Stellungnahme zum Bericht der UEK („Die Schweiz und der die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus“, Bd. 17), Schaffhausen 2002.

[2] Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002. oder: Horst Zimmermann: Die Schweiz und Großdeutschland. Das Verhältnis zwischen der Eidgenossenschaft, Österreich und Deutschland 1933 – 1945, München 1980.

[3] Damit ist der Bericht der Unabhängigen Expertenkommission gemeint (siehe oben).

[4] Horst Zimmermann: Die Schweiz und Großdeutschland. Das Verhältnis zwischen der Eidgenossenschaft, Österreich und Deutschland 1933 – 1945, München 1980, S. 417.

[5] Herbert R. Reginbogin: Der Vergleich. Die Politik der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs im internationalen Umfeld, Stäfa 2006, S. 71.

[6] Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz, Baden 2010, S. 267-269.

[7] Horst Zimmermann: Die Schweiz und Großdeutschland. Das Verhältnis zwischen der Eidgenossenschaft, Österreich und Deutschland 1933 – 1945, München 1980, S. 424.

[8] Stephen P. Halbrook: The Swiss and the Nazis. How the Alpine Republic Survived in the Shadow of the Third Reich, Philadelphia 2006, S. 204.

[9] ebd., S. 206.

[10] Arbeitskreis Gelebte Geschichte (AGG): Erpresste Schweiz. Zur Auseinandersetzung um die Haltung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und um die Berichte der Bergier-Kommission. Eindrücke und Wertungen von Zeitzeugen, Stäfa 2002, S. 108.

[11] Daniel Bourgeois: Das Geschäft mit Hitlerdeutschland. Schweizer Wirtschaft und Drittes Reich, Zürich 2000, S. 193.

[12] Stephen P. Halbrook: The Swiss and the Nazis. How the Alpine Republic Survived in the Shadow of the Third Reich, Philadelphia 2006, S. 207.

[13] Markus Heininger: Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde, Zürich ²1989.

[14] Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz, Baden 2010, S. 255/256.

[15] Alice Meyer: Anpassung oder Widerstand. Die Schweiz zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus, Wien 2010,

S. 164-174 u. 218.

[16] Daniel Bourgeois: Das Geschäft mit Hitlerdeutschland. Schweizer Wirtschaft und Drittes Reich, Zürich 2000,

S. 180.

[17] Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz, Baden 2010, S. 250.

[18] ebd., S. 270.

[19] Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz, Baden 2010, S. 261.

[20] Rätoromanisch wird in wahrnehmbaren Ausmaß nur in der Schweiz gesprochen.

[21] Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002 oder Horst Zimmermann: Die Schweiz und Großdeutschland. Das Verhältnis zwischen der Eidgenossenschaft, Österreich und Deutschland 1933 – 1945, München 1980, S. 150.

[22] ebd.

[23] Daniel Bourgeois: Das Geschäft mit Hitlerdeutschland. Schweizer Wirtschaft und Drittes Reich, Zürich 2000,

S. 186.

[24] ebd.

[25] Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002 oder Horst Zimmermann: Die Schweiz und Großdeutschland. Das Verhältnis zwischen der Eidgenossenschaft, Österreich und Deutschland 1933 – 1945, München 1980, S. 128.

[26] Es sei hier noch einmal erwähnt, dass ein großer Teil der Flüchtlinge Juden waren. Dies muss bei allen Betrachtungen in dieser Hausarbeit unbedingt im Hinterkopf behalten werden.

[27] Daniel Bourgeois: Das Geschäft mit Hitlerdeutschland. Schweizer Wirtschaft und Drittes Reich, Zürich 2000,

S. 186.

[28] ebd., S. 188/189.

[29] ebd., S. 191/192.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Begründete Vorsicht oder Antisemitismus
Untertitel
Schweizer Flüchtlingspolitik zur Zeit des Nationalsozialismus
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
32
Katalognummer
V192389
ISBN (eBook)
9783656173472
ISBN (Buch)
9783656173175
Dateigröße
491 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
begründete, vorsicht, antisemitismus, schweizer, flüchtlingspolitik, zeit, nationalsozialismus
Arbeit zitieren
B.A. Christian Rödig (Autor:in), 2011, Begründete Vorsicht oder Antisemitismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192389

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