Leseprobe
Schadet die „Frauenschule" den Jungen?
„Jungen zählen heute weitaus häufiger zu den Bildungsverlierern und Schulverweigerern"[1] äußerte sich die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Ute Erdsiek-Raven, anlässlich einer Fachtagung zur geschlechtergerechten Schule. In diesem Zusammenhang wies sie darauf hin, dass die Pädagogik- und Erziehungsberufe immer mehr verweiblichen[2] und „mehr männliche Kompetenzen wünschenswert"[3] wären. Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin sieht zwischen diesen beiden Entwicklungen einen Zusammenhang, jedoch lehnt sie eine „Männerquote für Kindergärten und Schulen"[4] ab.
Hintergründe
Für öffentliches Aufsehen haben vor allem Statistiken und Studien gesorgt, in denen belegt wurde, dass Jungen schlechtere Schulbiographien und geringere schulische Leistungen als Mädchen aufweisen. Nach Gründen und Ursachen sowie nach Lösungsansätzen wird gesucht. Jungenförderprogramme wurden, wie einige Jahre zuvor die Mädchenförderprogramme, ins Leben gerufen. Jetzt sind es nicht mehr die Mädchen, die durch das System benachteiligt werden, sondern die Jungen. Zahlenmäßig besuchen mehr Mädchen das Gymnasium, wohingegen der größere Anteil an den Haupt- und Sonderschulen von Jungen vertreten wird. Zudem bleiben mehr Jungen als Mädchen sitzen und verlassen die Schule häufiger ohne Abschluss.[5]
Wie kommt es zu so einer Entwicklung?
Aus Studien, wie Iglu[6] und PISA[7], kristallisierten sich insbesondere die Leseschwäche der Jungen heraus. Terhart begründet anhand dieser Schwäche den hohen Anteil der Jungen in leistungsschwachen Schulformen: „Am Lesen und Lesenkönnen hängt alles - von da aus ergibt sich alles: Schulerfolg wie schließlich auch ein kompetentes Sich- Bewegen-Können in der modernen Welt."[8] Aus schlechten Leistungen in der Grundschule folgt natürlich nicht die Empfehlung für das Gymnasium - eine logische Schlussfolgerung in unserem dreigliedrigem Schulsystem. Es muss also schon in der frühen Kindheit Ursachen geben, die die Schulkarrieren der Jungen prägen. Erklärungsmuster auf der biologischen Ebene, z. B. mit Hilfe des Gehirnhälftenmodells, oder auf der kognitiven Ebene, z. B. dass Jungen anders lernen als Mädchen, geben zwar wertvolle Hinweise, sind aber nicht ausschlaggebend für die schulische Entwicklung der Jungen.
Ob tatsächlich ein Zusammenhang zwischen dem hohen Anteil an Lehrerinnen und den immer schlechter werdenden Leistungen der Jungen in der Schule besteht, gilt zu klären.
Die Medien sind sich jedenfalls einig. So werden derzeit Berichte mit Titeln wie „Jungs am kürzeren Hebel"[9] (31. August 2006), „Hallo, Herr Lehrerin!"[10] (22. Juni 2006) oder „Männer, bitte melden"[11] (Juli/August 2006) geschmückt. Jedoch darf man nicht erst in der Schule anfangen nach Gründen zu suchen: „Eine schulische Überlegenheit der Mädchen wird schon deutlich, bevor die Schultüten verteilt sind: 30 % mehr Jungen als Mädchen besuchen wegen mangelnder Schulreife einen Schulkindergarten."[12] Jungen weisen somit schon vor dem Besuch der Grundschule Schwächen auf.
Ursachen für das spätere Schulversagen sind somit schon in den ersten Lebensjahren der Jungen zu suchen.
Die Biologie legt unser Geschlecht fest: Männlich oder weiblich. Jedoch entwickelt die Kultur unsere Geschlechtsrollen. „Ein Mann oder eine Frau zu werden ist ein sozialer Prozess (engl. doing gender)."[13] Es ist ein soziales Konstrukt - die Kultur akzentuiert was die Biologie initiiert hat. „Psychologisch und biologisch sind Frauen und Männer einander [...] sehr ähnlich."[14]
Somit ist der Fokus auf die Sozialisation und die Geschlechteridentität zu legen. Eine Reihe von Normen definiert die in unserer Kultur geltenden Geschlechtsrollen, also Erwartungen über die Art und Weise, wie Frauen und Männer sich verhalten sollen. Gesellschaftliche Vorstellungen über Frau- bzw. Mannsein werden unreflektiert übernommen.[15] Jedes Kind wird somit, basierend auf dem biologischen Geschlecht, der sozialen Kategorie männlich oder weiblich zugewiesen. Kinder lernen geschlechtsspezifisches Verhalten, indem sie beobachten und imitieren und dafür belohnt oder bestraft werden. Neben dem sozialen Lernen entwickeln Kinder Schemata, um die Welt zu verstehen. Durch Sprache, Kleidung und Spielzeuge trägt das soziale Lernen zur weiteren Entwicklung von Geschlechtsschemata bei.[16] Basierend auf der Kultur passen sich die Kinder diesem Geschlechterkonzept an. Kinder versuchen sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu identifizieren. Sie imitieren deren Verhaltensweisen und übernehmen deren Wertvorstellungen. „Menschen haben die Tendenz, das Verhalten anderer nachzuahmen."[17]
Bei Kindern stellt das Annehmen einer Geschlechterrolle einen wichtigen Entwicklungsschritt dar.
Da jedoch in den meisten Familien die traditionelle Rollenverteilung vorherrscht (der Vater ist der Ernährer, die Mutter ist für die Erziehung und den Haushalt zuständig) bzw. viele Mütter alleinerziehend sind, haben die Jungen keine gleichgeschlechtliche Identifikationsfigur. Die Väter sind meist nur im Hintergrund oder halten sich gänzlich aus der Erziehung heraus. Schon Freud nahm in seiner psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie an, „dass sich die Persönlichkeit unter dem Einfluss der psychosexuellen Entwicklung in der Kindheit [...] entwickelt"[18]. Im Alter von ein bis zwei Jahren, wenn das Kind beginnt, sich aus der Abhängigkeit der Mutter-Kind-Beziehung zu lösen, bietet ein einfühlsamer Vater eine stabile Beziehungsalternative zur Mutter. In der phallischen Phase (drei bis sechs Jahre) ist der Vater als männliche Identifikationsfigur und als Liebespartner der Mutter von prägender Bedeutung.[19] Der Ödipuskomplex[20] hilft den Jungen eine stabile, selbstbewusste sexuelle Identität zu entwickeln. Durch das Fehlen des Vaters bleibt vielen Jungen dieser Entwicklungsschritt vorenthalten und es kann nicht zur Ausbildung einer sicheren männlichen Identität und Gewissensbildung kommen.[21]
[...]
[1] http://www.handelsblatt.com/news/Technologie/Forschung-Innovation/_pv/_p/203116/_t/ft/_b/ 1129061/default.aspx/-kmk-praesidentin-jungen-in-den-schulen-besser-foerdern.html
[2] Vgl. ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Vgl. http://www.sueddeutsche.de/wissen/ticker/iptc-bdt-20060831-67-dpa_12531700/
[6] Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung
[7] Program for International Student Assessment
[8] Terhart, 2002, S. 39
[9] http://focus.msn.de/schule/eltem/schule/bildung/schule_nid_34614.html
[10] http://www.zeit.de/2006/26/C-Grundschullehrer?page=all
[11] Mens, 4/2006, S. 120
[12] Schnack/Neutzling, 1990, S. 142
[13] Kreienbaum/Urbaniak, 2006, S. 39
[14] Myers, 2005, S. 51 f.
[15] Vgl. Keuneke, 2000, S. 17
[16] Vgl. Myers, 2005, S. 136 f.
[17] ebd., S. 623
[18] ebd., S. 566
[19] Vgl. Franz, 3/2004, S. 23
[20] Freud bezeichnete damit die sexuellen Wünsche von Söhnen gegenüber der Mutter und die damit verbundenen Gefühle von Hass und Eifersucht gegenüber dem Vater, der als Rivale erlebt wird.
[21] Vgl. Krone, 1997, S. 71
- Arbeit zitieren
- Christina Müller (Autor), 2006, Schadet die "Frauenschule" den Jungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192669
Kostenlos Autor werden
Kommentare