Helmut Kraussers „Schmerznovelle“ aus gattungstheoretischer Sicht


Seminararbeit, 2008

16 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gattungsabgleich
2.1 Situative Bedingungen der Novelle
2.2 Form
2.3 Aufbau
2.4 Sprache
2.5 Inhalt

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Schon mit dem Titel „Schmerznovelle“ gibt der Autor Helmut Krausser einen deutlichen Hinweis auf die Gattungszugehörigkeit seines Textes. Auf der einen Seite baut der Autor damit einen gezielten Erwartungshorizont beim Leser auf und setzt sich auf der anderen Seite selbst enge Grenzen, da die von ihm gewählte Gattung strenge Vorschriften hat.

Doch ist der vorliegende Text tatsächlich eine Novelle? Also bleibt der Autor wirklich innerhalb dieses engen Korsetts? Mit dieser Fragestellung befasst sich diese Arbeit. Eine Schwierigkeit ist dabei, dass man die literarische Gattung der Novelle nicht vollständig klar definieren, höchstens grob eingrenzen kann. Oder mit den Worten von Wolfgang Rath formuliert, der die Novelle als „[…] nie formal erstarrt, im immer wieder neuen Spiel mit ihrer Form bis heute lebendig geblieben […]“1 beschreibt.

Dennoch gibt es einige wichtige Novellentheorien, die bis heute nicht an Wichtigkeit für die Gattungsbestimmung verloren haben. Diese bilden das Gerüst dieser Arbeit und anhand von ihnen wird die Gattungszugehörigkeit der Schmerznovelle erörtert werden. Dies geschieht in dem Schema, dass immer eine Theorie vorgestellt wird und dann der Vergleich mit der Schmerznovelle gezogen wird.

2. Gattungsabgleich

2.1 Situative Bedingungen der Novelle

Die erste Eigenschaft dieser Textsorte ist ihr enges Verhältnis zum Gespräch. „Grundsätzlich, auf der Ebene der Sprachverwendung, geht jede Novellenproduktion […] aus dem Gespräch hervor […]“2 und bildet somit den situativen Rahmen dieser Textgattung. Die Situation des Gesprächs hat zwei Grundvoraussetzungen: Geselligkeit und Mündlichkeit. Ersteres meint hier, dass eine Novelle eine Neuigkeit aus dem Lebensalltag wiedergibt und „[…] dies in der Geste eines Erzählers in Gesellschaft.“3

Dieser Gestus des Erzählens trifft auch auf Kraussers Schmerznovelle zu: Der Leser bekommt hier den Eindruck vermittelt, dass der Erzähler, ein Psychologe spezialisiert auf sexuelle Aberrationen (Vgl. Sn. S. 11)4, im Nachhinein, einer interessierten, wenn auch unbeteiligten Person, den Hergang der Geschichte darlegt. Also wie sich alles aus der Sicht des Erzählers zugetragen hat und wie es schließlich dazukommen konnte, dass Johanna Palm Selbstmord begeht. Es muss jedoch angemerkt werden, dass Erzählen hier nicht unbedingt Erzählen im kommunikativen Sinn meinen muss, sondern eher einem „sich erinnern“ ähnelt. Auf diesen autobiografischen Tagebuchcharakter des Erzählten verweist deutlich die Textstelle in der es heißt: „Wenn ich dies jetzt niederschreibe […]“ (Sn. 39).

Die Absicht des Erzählens ist hier jedoch nicht die einer Beichte oder eines Geständnisses: Die Frage nach Schuld ist nicht von Wichtigkeit und wird auch nicht gestellt. Der Psychologe kommt ohne Rechtfertigungen aus und zielt auch nicht auf ein Verständnis für seine Handlungen beim Zuhörer ab. Er streut höchstens ab und zu eine kurze und ehrliche Erklärung ein, ohne jedoch eine affirmative Wirkung erzielen zu wollen.

Da dies alles in einem neutralen und nüchternen Ton wiedergegeben wird, entsteht der Eindruck, dass der Erzähler Distanz zum Erzählten hat. Durch den Vorgang des Erzählens und des dadurch nochmaligen Erlebens ruft sich der Erzähler die Ereignisse wieder ins Bewusstsein und kann sie durch den zeitlichen Abstand objektiver beurteilen. Ein weiterer Effekt des Erzählens ist hier, dass der Psychologe die Erlebnisse verarbeiten kann und somit bei ihm eine nachträgliche Katharsis einsetzt.

2.2 Form

Die Gattung Novelle wird sowohl anhand von inhaltlichen als auch anhand von formellen Gesichtspunkten definiert. Dies bedeutet, dass man eine Novelle bereits an ihrem Umfang erkennen kann. Dieser entspricht laut Definition einer Erzählung mittlerer Länge5, auch wenn ein solcher Norm-Komparativ, bei der Novelle nur im Verhältnis zu ihren epischen Nachbargattungen wie zum Beispiel dem Roman angewendet werden kann. Dennoch wurde der Umfang auf 75 bis 150 Seiten eingegrenzt, den Helmut Krausser bei der 143-seitigen Schmerznovelle fast komplett ausreizt.

Lesepsychologisch lässt sich die Novelle also in einem „Rutsch“ und in kurzer Zeit lesen. Diese Länge hat die Novelle zum einen aus ihrem Verwendungszusammenhang6, zum anderen muss aber diese mittlere Länge auch „[…] als äußere Folge innerer Komposition angesehen […]“7 werden. Denn die Novelle ist Epik in konzentrierter Form und „mit dieser ›kürzeren‹ Erzählform hängt auch die Einzahl der Begebenheit zusammen.“8 Diese Kennzeichnung, die Christoph Martin Wieland die „[…] Simplicität [sic!] des Plans […]“9 genannt hat, ergibt sich vor allem aus der Abgrenzung zum Roman. Simplizität oder Schlichtheit darf in diesem Zusammenhang jedoch nicht mit Einfältigkeit des Erzählten verwechselt werden. Vielmehr verweist sie auf den kleineren Umfang und auf die klassische Forderung nach der Einheit der Handlung.10 Simplizität meint dabei auch nicht unbedingt eine Singularität der Ereignisse, sondern eher ein Ganzes, das im Gegensatz zu Ereignissplittern, in sich gegliedert ist. Des Weiteren ist die Novelle nicht offen, sondern in sich geschlossen.

Auch bei der Schmerznovelle liegt diese in sich geschlossene Handlung mit der Konzentration auf einen Erzählstrang vor. Der Text beginnt mit dem Eintreffen des Psychologen in dem Badeort, der den Schauplatz der Handlung darstellt. Die Geschichte entwickelt sich, gelangt zu ihrem Höhepunkt und endet mit dem Suizid von Johanna Palm und der darauffolgenden Abreise des Erzählers. Die Erzählzeit liegt schätzungsweise bei knapp zwei Wochen.

Abgerundet wird dieser zeitlich begrenzte Erzählrahmen durch zwei Naturphänomene, die Krausser einsetzt, um die Geschlossenheit der Novelle zu unterstreichen: Zum einen der Wechsel der Jahreszeiten von Spätsommer hin zu Herbst (Vgl. Sn. S. 7, S. 143). Zum anderen indem der Autor einen Sonnen- untergang beim ersten Treffen des Erzählers mit Johanna Palm chiastisch mit einem Sonnenaufgang nach Johanna Palms Selbstmord gegenüberstellt (Vgl. Sn. S. 19, S. 139).

Geschlossenheit zeigt sich in der Schmerznovelle auch darin, dass kaum auf das Vorher und das Nachher eingegangen wird. Die Vorgeschichte der Figuren wird nur insoweit beschrieben, wie es für die Geschichte Relevanz hat. Ebenso findet die Zukunft der Figuren keine Erwähnung. Lediglich über die in der Schmerznovelle eher unwichtige Figur Sylvia, die Freundin von Fritz Kappler, wird gesagt, dass sie im Folgenden ihren Freund verlassen hat.

[...]


1 Rath: Die Novelle, S. 12.

2 Aust: Novelle, S. 2.

3 Rath: Die Novelle, S. 12.

4 Die „Schmerznovelle“ (=Sn.) wird im Folgenden zitiert nach: Krausser, Helmut: Schmerznovelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2006.

5 Vgl. Aust: Novelle, S. 8.

6 Vgl. Meyer: Novelle und Journal, S. 63-64.

7 Aust: Novelle, S. 8.

8 Ebd., S. 11.

9 Karthaus: Novelle, S. 8.

10 Vgl. Ebd., S. 8.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Helmut Kraussers „Schmerznovelle“ aus gattungstheoretischer Sicht
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung)
Veranstaltung
PS: Helmut Krausser
Note
2,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
16
Katalognummer
V192726
ISBN (eBook)
9783656177036
ISBN (Buch)
9783656178378
Dateigröße
521 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Helmut Krausser, Schmerznovelle, Novellentheorie, Novelle, Gattungstheorie
Arbeit zitieren
Dipl. Germ. Florian Wenz (Autor:in), 2008, Helmut Kraussers „Schmerznovelle“ aus gattungstheoretischer Sicht , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192726

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