Emotionalität im TV-Duell Merkel - Schröder

Kommunikative Techniken der Emotionsregulation aus sprechhandlungstheoretischer und psycholinguistischer Perspektive


Magisterarbeit, 2006

98 Seiten, Note: 1,3 (sehr gut)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1.0 Einleitung
1.1 Forschungsinteresse und Zielsetzung
1.2 Aufbau der Arbeit

2.0 Theoretische Grundlagen
2.1 Emotionspsychologische Grundlagen
2.1.1 Das funktionalistische Paradigma
2.1.2 Das sozio-kulturelle Paradigma
2.1.3 (Arbeits-)Definition von Emotionen
2.1.4 Zur Struktur von Emotionen
2.1.5 Appraisal-Theorien und medial vermittelte Emotionen
2.2 Emotionalität und Sprache
2.3 Sprechhandlungstheoretische Grundlagen
2.3.1 Zur Beschreibung und Interpretation von Sprechhandlungen
2.3.2 Erwartbare Sprechhandlungen im TV-Duell
2.4 ‚Interaktiv-phänomenologisches Emotionskonzept’ (nach Drescher)
2.4.1 Emotionen als diskursive Praxis
2.4.2 Darstellungsformen emotionaler Beteiligung
2.4.3 Interaktionssemantische Dimensionen

3.0 Politische Sprache und Kommunikation unter den Bedingungen des Massenmediums Fernsehen
3.1 Politiker in der ‚Leistungsrolle’ als Kommunikator
3.2 Inszenierte Unterhaltsamkeit und Formen der Selbstdarstellung im Rahmen von Wahlkampfstrategien

4.0 Emotionalität im TV-Duell Merkel - Schröder: Exemplarische Analysen des emotiven Sprachhandelns
4.1 Das TV-Duell als Korpus und Untersuchungsgegenstand
4.2 Methodisches Vorgehen
4.3 Analyse
4.3.1 Ausschnitt I
4.3.2 Ausschnitt II
4.3.3 Ausschnitt III
4.4 Kommunikative Techniken der Emotionsregulation

5.0 Schlussbetrachtungen

6.0 Literaturverzeichnis

Anhang: DVD-ROM (Inhalt: Videodateien der untersuchten Ausschnitte I-III (AVI-Format), Basistranskription des TV-Duells nach GAT-Konventionen)

1.0 Einleitung

„[...] ich sags noch einmal, (-) sie LE:bt das (-) was sie sa:gt, (-) UND (.) ich füg hin´ZU:- (-) dass is nicht der zuletzt der grund (-) warum ich sie `LIEbe.“ (Bundeskanzler Schröder im TV-Duell, 04.09.2005)

Was aus Sicht der damaligen Opposition zunächst medienwirksam als „geschmacklos, plumper Wahlkampftrick und Instrumentalisierung“ (Spiegel Online, 06.09.2005) diskutiert wird, soll in dieser Arbeit als ein ungewöhnliches Beispiel emotiven Sprachhandelns aufgefasst werden. Die Liebeserklärung des Kanzlers im TV-Duell kann aus linguistischer Sicht als Emotionsmanifestation interpretiert werden, die als „öffentliches Phänomen in einer sozialen Situation interpersoneller Interaktion“ interessiert (Fiehler 1990, 1). Schröder wählt ein „kommunikatives Verfahren der Erlebensthematisierung“ (ebd., 98), das vom Publikum als authentischer Ausdruck eines Gefühls wahrgenommen werden soll. Er ist bemüht, „emotionale Glaubwürdigkeit“ (vgl. Roth 2004, 194) zu vermitteln. Doch auch Spitzen- politiker haben zuweilen nur wenig Erfolg bei der Darstellung von Emotionen: Wie ein Autor der Tageszeitung Die Welt resümiert, haben führende CDU-Politiker vor allem eine „emotionale Ansprache der Wählerinnen und Wähler“ im Wahlkampf von Angela Merkel vermisst.1 Der bayrische Ministerpräsident, Edmund Stoiber, kommentierte den Wahlausgang sogar mit dem Hinweis auf „eine glänzend gesetzte Finte von Bundeskanzler Gerhard Schröder“ - das Magazin Spiegel zitiert:

„Die Liebeserklärung Schröders an seine Frau Doris im Fernsehduell mit CDU-Chefin Angela Merkel habe den Wahlkampf gekippt, sagte Stoiber [...]. In den Medien und unter vielen Politikern sei das Bekenntnis des Kanzlers zwar als peinlich oder gar geschmacklos kritisiert worden; ‚Heute wissen wir, dass diese Aussage eine Schneise geschlagen hat in der Zustimmung zu Gerhard Schröder und zur SPD.’ Aus dem positiven Echo der Bevölkerung auf die Liebeserklärung muss die Union nach Überzeugung Stoibers die entsprechenden Schlüsse ziehen“ (Spiegel Online, 22.10.2005).

Doch warum spielen Emotionen eine so große Rolle im politischen Sprachgebrauch? Roth (2004, 195) erklärt, dass Gefühle eine „besonders intensive Orientierungsleistung“ bieten, nach denen sich die Zuschauer „das Anliegen des Kommunikators affektiv zu Eigen machen und so für die Akzeptanz der argumentativen Überzeugungsmittel besonders disponiert sind.“ Auch kommunikationswissenschaftliche Arbeiten bestätigen diese Annahme mit dem Hinweis auf psychische Prozesse bei der Medienrezeption, die als ‚Emotionsinduktion, emotionale Ansteckung oder Empathie’ beschrieben werden können (vgl. Scherer 1998). Das emotionale Ausdrucksverhalten eines Politikers wird so zu einem wichtigen Faktor im Rahmen von persuasiven Strategien - es darf daher angenommen werden, dass auch der Sprachgebrauch der Kanzlerkandidaten im TV-Duell die folgende Frage reflektiert:

„Unter welchen Bedingungen schreibt der Rezipient dem - immer emotiven - Gefühlsausdruck des Kommunikators das Prädikat der - emotionalen - ‚Echtheit’ zu, da er doch auf die Quelle der Emotion, den inneren Seelenzustand seines Gegenübers, keinen unmittelbaren Zugriff hat?“ (Roth 2004, 229).

In einer sprachwissenschaftlichen Annäherung an das komplexe Thema ‚Emotionalität im TV-Duell Merkel - Schröder’ soll in dieser Arbeit das emotive Sprachhandeln der Kandidaten exemplarisch untersucht werden.2 Dabei kann die Frage nach der Authentizität eines Gefühls- ausdrucks nicht beantwortet werden. Es erscheint jedoch möglich, sprachliche Indikatoren aufzudecken, die überlicherweise in Verbindung mit emotionalen Prozessen auftreten. Beispielsweise geht Fiehler (1990, 3) davon aus, dass der Ausdruck von Emotionen in Alltagsgesprächen im Wesentlichen zwei Funktionen3 erfüllt: die „Übermittlung von bewertenden Stellungnahmen“ und die „spezifische Vorstrukturierung von Handlungs- möglichkeiten“. Er setzt voraus, dass es erkennbare „kommunikative Verfahren und Muster“ gibt, mit denen Emotionen in einer Interaktion „manifestiert, gedeutet und prozessiert“ (ebd., 2) werden. Inszenierte Streitgespräche zwischen Politikern scheinen davon nicht aus- genommen - Rezipienten müssen Anzeichen für Gefühle schließlich erkennen und deuten können.

1.1 Forschungsinteresse und Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit widmet sich der ‚Emotionalität im TV-Duell Merkel - Schröder’ mit einem pragmatischen Interesse. Untersucht wird das emotive Sprachhandeln in der verbalen Interaktion der Kanzlerkandidaten. Dabei wird Sprache als Medium verstanden, das die beiden Politiker zur Vermittlung von subjektiven Emotionen verwenden, weil sie diesem kommunikativen Vorgang wichtige Funktionen zuschreiben. Ein solcher Sprachgebrauch wird hier als eine Form von „Emotionsregulation“4 aufgefasst, bei der „die Evozierung von Manifestationen eines Gefühls“ angestrebt wird (vgl. Fiehler 1990, 88). Den Kandidaten wird somit unterstellt, dass sie „entweder ein nicht existentes Erleben manifestieren oder ein existierendes Erleben [einer Emotion] reguliert manifestieren“ (ebd., 89). Ihr Emotions- ausdruck wird mit anderen Worten als „Stilisierung von Gefühlen“ und „Verwendung emotionaler Masken“ interpretiert (vgl. Drescher 2003, 77). Merkel und Schröder sind zu diesem Ausdrucksverhalten mehr oder weniger in der Lage, weil sie als routinierte Sprecher mit festen persuasiven Absichten und Strategien im Duell auftreten - auf Kritik und eine „sachunabhängige personale Konfrontation“ (Roth 2004, 161) vorbereitet sind. Es wird angenommen, dass sie kommunikative Techniken der Emotionsregulation anwenden, die in erster Linie den Rezipienten das Erkennen und Deuten von Gefühlen erleichtern sollen.

Zur Analyse dieser Techniken werden im Folgenden zwei Betrachtungsebenen unterschieden: Auf einer inhaltlichen und binnenstrukturellen Ebene realisieren die Kandidaten einen sprachlichen Gefühlsausdruck, der als solcher entweder explizit thematisiert wird, oder aber als „indexikalische Emotionsmanifestation“ in Erscheinung tritt (vgl. Drescher 2003, 4).5 Die sprachliche Ausgestaltung der Manifestationen erfolgt in beiden Fällen vermutlich „unter Rekurs auf komplexe Formulierungsroutinen“ (ebd.). Auf einer relationalen und strukturellen Ebene nutzen die Kandidaten gleichzeitig größere Einheiten der Interaktion zur Vermittlung ihres subjektiven emotionalen Erlebens. Ihr Emotionsausdruck ist dabei beispielsweise in Interaktionsschemata wie Sprechhandlungen - etwa einen VORWURF - oder auch in ganze Sprechhandlungskomplexe eingebunden, wo er spezifische zum Teil sogar konstitutive Funktionen erfüllt.

Ziel dieser Arbeit ist es, theoretische Grundlagen zu erarbeiten, die es ermöglichen, Emotionalität im politischen Sprachgebrauch zu erfassen. Darauf aufbauend soll das emotive Sprachhandeln im TV-Duell exemplarisch untersucht und linguistisch beschrieben werden. Es interessiert die Art und Weise, wie ein Gefühlsausdruck in der massenmedial vermittelten Kommunikationssituation sprachlich organisiert werden kann - was einem begrenzten Einblick in das „affektive Register“ (Drescher 2003, 91) der Kanzlerkandidaten gleichkommt. Dazu werden Sprechhandlungen interpretiert, die den jeweiligen Gesprächskontext aufzeigen sollen, in dem es zu einem mehr oder weniger offensichtlichen Ausdruck von Gefühlen kommt. Günthner (2000) und Drescher (2003) folgend wird angenommen, dass sprachliche Bedeutungen nicht allein aus Sprecheräußerungen abgeleitet werden können, sondern auch interaktiv zwischen Gesprächsteilnehmern ausgehandelt werden (vgl. Günthner 2000, 152). Um sprachliche Mittel, kommunikative Verfahren und Muster aufzudecken, die zum Aus- druck von Emotionen verwendet werden, erscheint es notwendig, auch außersprachliche Faktoren heranzuziehen - das mediale Image der Kandidaten, bereits emotional aufgeladene Wahlkampfthemen und „soziale Normen bezüglich der gebotenen Expressivität“ (Brosda 2002, 380) prägen das emotive Sprachhandeln und werden aus Rezipientensicht mehr oder weniger ‚mitgedacht’.

Zur Beschreibung des Sprachgebrauchs der Kandidaten werden zudem „interaktions- semantische Dimensionen“ genutzt: Drescher (2003, 96-101) definiert diese als „Evaluieren, Intensivieren, Subjektivieren und Veranschaulichen“, die als wesentliche Teilaktivitäten bei jeder „Darstellung emotionaler Beteiligung“ genutzt werden. Bei der Analyse der sprachlich- kommunikativen Verfahren, die Merkel und Schröder dabei anwenden, sollen syntaktische, lexikalisch-semantische, prosodische und rhetorisch-stilistische Aspekte berücksichtigt werden. Darüber hinaus interessieren inhaltliche Verfestigungen, Interaktionsmodalität und Rahmungen6 (vgl. Günthner 2000, 16) der Äußerungen. Die exemplarischen Ergebnisse der Mikroanalysen werden den genannten interaktionssemantischen Dimensionen nach jedem Sprecherbeitrag zugeordnet. Die Beschäftigung mit ‚Rahmen’ erlaubt es, dabei in Ansätzen auch interaktionssoziologische Aspekte aufzuzeigen, die im Sprachhandeln eines Politikers eine wichtige Bezugsgröße sind. Es handelt sich um normative Größen, die unter anderem mit ihrem Ausdrucksverhalten und ihrer sozialen Rolle assoziiert werden. „Affektive Gesprächs- rahmen“ hinterlassen nach Drescher (2003, 185) ihre Spuren auf beiden Betrachtungsebenen und können bei der Beschreibung als verbindendes Element genutzt werden.

Auf Grundlage der exemplarischen Beschreibungen sollen schließlich Funktion und Stellen- wert der aufgezeigten sprachlichen Mittel und kommunikativen Verfahren interpretiert werden. Es interessiert, ob Regelmäßigkeiten, spezifische Zusammenhänge zwischen Mikro- und Makroebene beobachtet werden können, die möglicherweise sprechertypisch sind. Zur Präzisierung der aufgezeigten Emotionsmanifestationen wird eine Klassifizierung nach „Ereignis-fundierten Emotionen, Attributionsemotionen und Beziehungsemotionen“ (Mees 1991, 44) genutzt. Theoretische Grundlage dieser Arbeit ist ein interaktives, auf die verbale Ausdrucksseite konzentriertes Emotionskonzept nach Drescher (2003, 79ff) das auf kognitivphänomenologischen und konstruktivistischen Emotionstheorien aufbaut. Darüber hinaus erscheinen zwei Annahmen besonders relevant:

1. Merkmale (Manifestationen) eines sprachlichen Gefühlsausdrucks können identifiziert, zumindest annähernd erfasst werden, weil aus psycholinguistischer Sicht nicht Emotionen, sondern stets Reaktionen auf Emotionen kommuniziert werden. Durch sein Alltagswissen verfügt ein Rezipient deshalb über die Fähigkeit, die „Stimmigkeit der Signale“, die einen Emotionsausdruck auf verschiedenen sprachlichen Ebenen für gewöhnlich begleiten, zu interpretieren (vgl. Roth 2004, 230). In der Betrachtung darf somit eine oberflächliche Rekonstruktion der Rezipientenperspektive anklingen, die eine subjektive Einschätzung des „emotionalen Wirkungspotenzials“ (Büscher 1995, 2) der untersuchten Ausschnitte ermöglicht.
2. Organisationsformen des emotiven Sprachhandelns und Prozesse der Emotionalisierung im TV-Duell können effektiv im Rahmen einer Gesprächsanalyse mit Schwerpunkt auf einer pragmatischen Sprechhandlungsanalyse beschrieben werden - Begründung: „Politische Sprache gewinnt ihre Bedeutung immer aus ihrem Handlungsaspekt“ (Roth 2004, 19).

1.2 Aufbau der Arbeit

In Kapitel 2 dieser Arbeit sollen die theoretischen Grundlagen für eine oberflächenorientierte Betrachtung von Emotionalität im TV-Duell erarbeitet werden. Mit Blick auf das Sprach- handeln der Kanzlerkandidaten wird die Frage erörtert: „Wie lässt sich das, was im kommunikativen Zusammenhang als ‚Emotion’ zu fassen ist, genau[er] definieren?“ (Roth 2003, 227). Unter 2.1 werden zunächst relevante emotionspsychologische Grundlagen vorgestellt, indem Prämissen des funktionalistischen Paradigmas (2.1.1) und des sozio- kulturellen Paradigmas (2.1.2) erläutert werden. Abschnitt 2.1.3 resümiert zumindest eine (Arbeits-)Definition von Emotionen. Abschnitt 2.1.4 gibt Überlegungen zur Struktur von Emotionen nach Mees (1991) wieder. Mit den ‚Appraisal-Theorien’ werden (unter 2.1.5) neuere Erklärungsansätze zu emotionalen Prozessen bei der Medienrezeption angesprochen. Teilkapitel 2.2 befasst sich mit linguistischen Konzepten zum Verhältnis von Sprache und Emotion. Dabei interessiert die Frage, wie eine Kommunikation von Emotionen und Bewertungen auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen ermittelt werden kann. Es soll ersichtlich werden, dass es viele ungelöste Fragen gibt - beispielsweise „welche emotionalen Aspekte aufgrund welcher sprachsystematischen Kodierprinzipien konstatiert werden können, [...] wie das Zusammenspiel emotional-affektiver Komponenten der Bedeutung sprachlicher Äußerungen mit erstens die Denotation von Sachverhalten betreffenden (propositionalen), zweitens die Handlungsziele betreffenden (illokutiven) und drittens die Thema-Rhema-Gliederung (informationsgliedernden) Aspekten systematisch erfasst werden kann“ (Fries 1996, 2).

Teilkapitel 2.3 thematisiert sprechhandlungstheoretische Grundlagen, die eine Interpretation und Beschreibung des Sprachverhaltens der Kanzlerkandidaten ermöglichen sollen. Es interessiert, inwiefern Intentionen und antizipierte Wirkungen von Sprechhandlungen unter- stellt werden dürfen und welche Handlungen im TV-Duell insbesondere zu erwarten sind. Teilkapitel 2.4 gibt in Grundzügen ein ‚interaktiv-phänomenologisches Emotionskonzept’ nach Drescher (2003) wieder, das zentrale Aspekte bei der Darstellung emotionaler Beteiligung im Gespräch erörtert.

Kapitel 3 stellt neuere Befunde zur politischen Kommunikation über Massenmedien vor. Das Kapitel beleuchtet, welche strategischen ‚Auflagen’ das Sprachhandeln eines Politikers möglicherweise prägen. Es soll ein genaueres Bild vom „Status von Emotionen und ihrem (strategischen) Einsatz hinsichtlich persuasiver Kommunikationsaufgaben“ (vgl. Roth 2003, 227) und vom TV-Duell als Medienereignis ermöglicht werden.

Kapitel 4 beinhaltet schließlich exemplarische Analysen des emotiven Sprachhandelns im TV-Duell. Auf Basis der linguistischen Beschreibungen sollen Zusammenhänge zwischen Form und Funktion (Organisationsformen des emotiven Sprachhandelns) dargestellt und Rückschlüsse auf kommunikative Techniken der Emotionsregulation gezogen werden.

2.0 Theoretische Grundlagen

Emotionen werden grundsätzlich als ein Gegenstand der Psychologie betrachtet. Das Erleben einer Emotion kann als ein „komplexes multidimensionales Phänomen“ aufgefasst werden, dessen Beschreibung die analytische Unterscheidung zwischen mehreren Komponenten erfordert (vgl. Drescher 2003, 74). Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive interessiert vor allem die Ausdruckskomponente des emotionalen Erlebens - hier genauer: der sprachliche Gefühlsausdruck in der verbalen Interaktion. Es wird angenommen, dass subjektiv erlebte Emotionen ihre Spuren (Manifestationen) in der Sprache hinterlassen, die bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar interpretiert und linguistisch beschrieben werden können.

Rückschlüsse von einem sprachlichen Gefühlsausdruck auf das tatsächliche emotionale Erleben eines Sprechers sind jedoch problematisch. Klärungsbedarf besteht vor allem in der Frage, nach welchen Kriterien Zuordnungen vorgenommen werden können - zwischen beobachtbaren sprachlichen Merkmalen, kommunikativen Mustern und Verfahren auf der einen Seite und spezifischen Emotionen, die ein Sprecher in diesem Augenblick erleben mag, sowie der Intensität des unterstellten Erlebens auf der anderen Seite. Eine Interpretation des sprachlichen Ausdrucksverhaltens scheint kaum auszureichen, um Verlässliches über die innere Befindlichkeit eines Sprechers aussagen zu können. In gesprächsanalytischer Hinsicht kommt erschwerend hinzu, dass nicht jede Begegnung von einer besonders „auffälligen, nicht normal-psychologischen Situation“, beispielsweise einer „akuten psychotischen Episode“ (Käsermann 1995, 56), geprägt ist, die die Identifikation von emotionalen Merkmalen im Sprachgebrauch möglicherweise erleichtert. Versuche einer Beschreibung von Emotions- manifestationen müssen stattdessen auch mit eher unauffälligen, indexikalischen Formen eines sprachlichen Ausdrucks rechnen, die für sich betrachtet noch wenig aussagekräftig scheinen.

Es darf also eingangs festgehalten werden, dass Emotionen auch in der Linguistik einen schwer zu fassenden Untersuchungsgegenstand darstellen, der „gemeinhin über seine Innerlichkeit definiert und daher v.a. introspektiv erforscht wird“ (Drescher 2003, 4).7 Um so komplexer gestalten sich Beschreibungsversuche, wenn es „nicht mehr um Emotionen, sondern um nicht präzise benennbare Emotionalisierungen geht“ (Käsermann 1995, 56). Dies trifft nach Käsermann vor allem auf Arbeiten zu, die sich mit dem Phänomen der Persuasion beschäftigen und dabei nicht von „prägnanten emotionalen Produkten“ (ebd.) ausgehen, sondern nach interaktiven und kommunikativen Bedingungen suchen, die zum Prozess einer Emotionalisierung beitragen. Ein solcher Ansatz soll auch für die vorliegende Arbeit gelten - besonders ‚prägnante emotionale Produkte’ scheinen im TV-Duell nicht vorzuliegen.

Dazu soll in diesem Kapitel ein theoretisches Verständnis erarbeitet werden, nach dem akzeptiert werden kann, dass Emotionen eine „soziale und diskursive Realität“ (Drescher 2003, 63) besitzen, die unabhängig vom Innenleben eines Sprechers zu betrachten ist. Ein gezielter Sprachgebrauch kann danach den Eindruck einer „aktuellen Emotion“ erwecken, bzw. dazu führen, „dass Emotionen attributiert werden“ (Käsermann 1995, 41). Es soll somit ersichtlich werden, dass ein Sprecher „Stimmungen und Emotionen bei sich selber und bei anderen durch [...] sprachliche Mittel beeinflussen kann“ (ebd., 42). Die nachfolgenden Überlegungen gehen deshalb zunächst allgemein der Frage nach, in welchen Gesprächs- kontexten am wahrscheinlichsten der Eindruck von emotionalen Prozessen entsteht - unabhängig davon, ob tatsächlich ein aktualisiertes Erlebnis beim Sprecher vorliegt. In diesen Kontexten sollten auch linguistische Beschreibungsversuche ergiebig sein.

„Als Auslöser von Emotionalisierungen gelten inhaltliche und strukturelle Eigenschaften von Äußerungen, die auch dann, wenn sie primär inhaltlich bestimmt scheinen [...] im Verhältnis zu einem (angenommenen) Standard zumindest im Prinzip als unerwartet oder abweichend identifiziert werden können“ (Käsermann 1995, 56).

Diesem „Diskrepanz-Prinzip“ (ebd.) kommt nach Käsermann bei der Suche nach emotionalen Äußerungen ein hoher methodischer Stellenwert zu. Sprechern mit vermutlich persuasiven Absichten kann danach unterstellt werden, dass sie - analytisch gesprochen - durch eine „aktuelle subjektive Bewertung/ Interpretation [auf eine] Abweichung von einem Standard“ (ebd., 56f) hinweisen. Sprachliche Indikatoren für emotionale Prozesse sind nach dieser Auffassung vor allem in wertenden Aussagen zu finden, die als Ergebnis von bewussten kognitiven Operationen verstanden werden können.8 Fiehler (1993, 153) beschreibt die „Kommunikation von Emotion“ sogar als spezifische Form einer Bewertung: „Ein Teil der Bewertungen, die kommuniziert werden, wird als Kommunikation von Emotionen realisiert“. An anderer Stelle spricht er von „Bewertungsaufgaben“, die sich im Gesprächsverlauf stellen und zum Teil auf emotionaler Ebene gelöst werden (vgl. Fiehler 1990, 48). Käsermann merkt in diesem Zusammenhang an: „Eine Emotionalisierung scheint subjektiv dann umgangen werden zu können, wenn ein Ereignis (Umdeutung, Unterbrechung) im konkreten Kontext mehrdeutig ist und eine neutrale oder positive Interpretation (als Nicht-Diskrepanz) zulässt“ (1995, 58).

Beschreibungsversuche von sprachlichen Mitteln, die zum Prozess einer Emotionalisierung beitragen, können sich somit grundsätzlich auf Gesprächspassagen konzentrieren, in denen Hinweise auf ‚Standardabweichungen’ kommuniziert werden, die die Teilnehmer zu mehr oder weniger offensichtlichen Bewertungen veranlassen. Eine Bewertung darf dabei als konstitutiver Bestandteil einer Emotion verstanden werden, was allerdings nicht bedeuten kann, dass jede Bewertung auf eine Emotion verweist. Für die Analyse scheint es deshalb noch von Bedeutung, ob ein Sprecher die ‚Standardabweichung’, die Ursache der Bewertung präzisiert - oder sich die Diskrepanz nur aus dem Kontext des Gesprächs erschließen lässt. Herbig u. Sandig (1994, 63) formulieren:

„Die Tatsache, dass die einzelnen Bewertungsmaßstäbe eines Bewertungssubjekts immer auch Ausdruck einer zugrundeliegenden Überzeugung, Ideologie, Weltanschauung etc. sind, erklärt, warum auch Emotionalität vielfach im Umfeld argumentativ organisierter Bewertung ihren Ausdruck findet: bei emotionaler Bewertung wird die Bewertung aktuell erlebt [...] und für den Rezipienten durch das emotionale Ausdrücken der Bewertung erlebbar gemacht.“

Argumentationen bieten folglich einen weiteren geeigneten Ansatzpunkt, um nach emotionalen Merkmalen im Sprachgebrauch zu suchen. Ein ‚Standard’ ist in diesem Kontext vermutlich inhaltlich definiert und kann aus einer thematisierten ‚Überzeugung, Ideologie, Weltanschauung etc.’ bestehen, wobei ein Sprecher eine Abweichung negativ bewertet. Die Suche nach besonders relevanten Emotionsmanifestationen eines Gesprächs kann sich dennoch nicht auf Bewertungen in argumentativen Zusammenhängen beschränken. Ein Sprecher mag schließlich bemüht sein, seine emotionale Erregung zu verbergen, indem er seine ‚aktuelle Bewertung einer Standardabweichung’ in diesem Kontext betont sachlich formuliert - während an anderer Stelle deutliche Indikatoren auftreten. Zudem ist der Fall denkbar, dass ein Sprecher eine Bewertungsaufgabe emotional gelöst hat, ohne dabei Gelegenheit zu haben, eine stützende Argumentation zu kommunizieren. Es ist also noch nach weiteren Anhaltspunkten zu fragen, die die Suche nach Emotionsmanifestationen eingrenzen. Dazu scheint es hilfreich, das Diskrepanz-Prinzip weiter zu präzisieren. Neben der inhaltlichen Festlegung eines Standards, der einem Sprecher als subjektive Bezugsgröße in Bewertungsprozessen dient (z.B. als Überzeugung, Ideologie, Weltanschauung), sind auch so genannte Erwartungsstandards in einem Gespräch präsent. Diese Erwartungen beziehen sich in erster Linie auf das kommunikative und soziale Verhalten der Gesprächsteilnehmer. Eine Abweichung in diesen Bereichen kann sowohl eine Bewertung implizieren als auch hervor- rufen. Bei Käsermann (1995, 35) ist dieser Aspekt in dem Hinweis enthalten, dass auch „Ziele, Normen oder Regeln“ eine „notwendige - wenn auch nicht immer explizit erwähnte - Grundlage [einer] Interpretation oder Bewertung“ darstellen. Anhaltspunkte für einen kommunikativ und interaktiv bedingten Prozess einer Emotionalisierung sind demnach also auch normative Größen, die aus dem Inhalt von Äußerungen und dem Ausdrucksverhalten insgesamt abgeleitet werden können. Nach Einschätzung von Fiehler trägt diese soziale Dimension einer Interaktion sogar entscheidend zur Konstitution einer Emotion bei.9 Mit

Käsermann (1995, 35) kann daher geschlussfolgert werden: „Stimmt das aktuell Erlebte nicht mit [inhaltlichen, sozialen und interaktiven] Erwartungsstandards überein, so entstehen Diskrepanzen, die als Faktoren der Entstehung von Emotionen betrachtet werden.“ Die vorangestellten Überlegungen machen deutlich, warum Fiehler (1990, 70) die Konsti- tution einer Emotion in Gesprächen als „in hohem Maße deutungsabhängig“ erklärt. Es erscheint plausibel, dass die Teilnehmer und Rezipienten nicht jede Bewertung entdecken können. Hinweise auf Diskrepanzen können ihnen bei der Deutung von inhaltlichen und strukturellen Eigenschaften von Äußerungen durchaus entgehen. Schließlich wird nicht jeder Verstoß gegen eine Erwartungshaltung mit einer entsprechenden (metakommunikativen) Bemerkung geahndet. Während eine Verweigerung des Kooperationsprinzips - beispielsweise ein häufiges Parallelsprechen oder eine Antwortverweigerung - für Zuschauer noch relativ offensichtlich ausfallen, kann ihnen ein diskreterer Bruch mit sozialen Erwartungsstandards vollkommen entgehen.10 Wo eine Verletzung stillschweigend vorausgesetzter normativer Ansprüche die Ursache einer Bewertung ist, kann zudem der Fall eintreten, dass die kommunizierten Hinweise auf eine Standardabweichung nicht reflektiert werden. Hier soll deshalb geschlussfolgert werden, dass die Suche nach Emotionsmanifestation insbesondere dort erfolgreich ist, wo die Gesprächsteilnehmer einen (subjektiven empfundenen) Erwartungsbruch kommunizieren, interaktiv deuten und prozessieren.

Ein Streitgespräch wie das TV-Duell scheint nach der hier versuchten Annäherung an Gesprächskontexte, in denen emotionale Prozesse wahrscheinlich sind, einen besonders geeigneten Rahmen zu bieten. Analytisch gesprochen ist eine Ansammlung von Diskrepanz- hinweisen zu erwarten, über die die beiden Kandidaten eine Deutungshoheit behaupten. Es ist davon auszugehen, dass die Interaktanten mögliche Deutungsprozesse (des Rezipienten) bewusst beeinflussen möchten. Dabei sind kommunikative Umdeutungen zu erwarten, von denen sich die Sprecher eine Verharmlosung oder eine Auflösung einer dargestellten Diskrepanz versprechen - oder auch das Gegenteil: eine drastischere Wirkung des aufgezeigten Erwartungsbruchs. Fiehler erklärt in diesem Zusammenhang: „Diskursive Relativierungen vorgängiger Deutungen relativieren auch das Erleben [einer Emotion]. [...] Überspitzt kann man formulieren, dass der Kampf um die Deutung der Situation auch ein Kampf um ihr Erleben ist“ (Fiehler 1990, 71). Nach Käsermann handelt es sich bei sozialen und interaktiven Faktoren um „Auftretensbedingungen“ im Prozess der Emotionalisierung, „die grundsätzlich unabhängig von ihrer emotionalen Wirkung zu bestimmen sein sollten“ (Käsermann 1995, 56).

Der hohe Stellenwert von Bewertungen bei der Suche nach emotionalen Merkmalen im Sprachgebrauch wird auch von Drescher (2003) bestätigt. Sie entwickelt ein „interaktiv basiertes Konzept der Darstellung emotionaler Beteiligung“, das hier als theoretische Grund- lage genutzt werden soll (vgl. Drescher 2003, 67-103). Als Prämisse formuliert die Autorin, dass Gefühle „nicht nur eine soziale, sondern auch eine spezifisch diskursive Realität“ (69) besitzen. Nach ihrer Auffassung können „Regelmäßigkeiten“ vor allem des diskursiven Bereichs systematisch erfasst werden. „Der Akzent liegt [danach] nicht auf einer Rekonstruktion des emotionalen Erlebens des sprechenden Subjekts, sondern auf einer ‚Phänomenologie’ der emotionalen Kommunikation“ (Drescher 2003, 70). Erst eine Konzeptualisierung der sozialen und speziell diskursiven Realität von Gefühlen öffne den komplexen Untersuchungsgegenstand für linguistische Fragestellungen und gebe eine Antwort auf methodische und theoretische Probleme bei Identifikation und Analyse von kommunizierten Emotionen (z.B. bei der Präzisierung einer Diskrepanz). Drescher erklärt:

„Da der Blick in das Innenleben verstellt ist, sind verlässliche, empirisch belegbare Aussagen über Gefühle in natürlichen Interaktionssituationen nur über das zu machen, was das Individuum ausdrucksseitig zu verstehen und über (sprachliche) Verhaltensweisen zu erkennen gibt. An diesem Punkt setze ich unter Rekurs auf eine Methode an, die den Akzent klar auf Oberflächenphänomene legt und damit eine Konzeptualisierung, die die Außenseite der Gefühle in den Vordergrund stellt, unterstützt: Nicht die Rekonstruktion der sprecherseitigen Befindlichkeiten interessiert hier, sondern die Art und Weise, wie Gefühle in der Kommunikation vermittelt werden“ (70).

Auch in der vorliegenden Arbeit können weder emotionale Erlebnisse der Kanzlerkandidaten erarbeitet, noch emotionale Wirkungen des Duells, d.h. Reaktionen auf Rezipientenseite, nachgewiesen werden. Büscher (1995, 40) folgend, sollen Emotionen dennoch als „perlokutionäre Effekte“ behauptet werden. Dass das TV-Duell keine ‚natürliche Interaktions- situation’ darstellt, wie von Drescher formuliert, scheint unter der Prämisse einer ‚diskursiven und sozialen Realität’ des Gegenstandes nicht weiter von Bedeutung. Darüber hinaus sollen Zweifel gegenüber der Auffassung von Käsermann angemeldet werden, die bei einer auf Persuasion ausgerichteten Kommunikationssituation davon ausgeht, dass es nur begrenzt zu einem „psychologischen Mechanismus“ (1995, 43) auf Sprecherseite kommt. Käsermann scheint von eher monologischen Situationen auszugehen, wenn sie schreibt, dass die „informationsverarbeitungs-relevanten emotionalen Gegebenheiten durch ein Arsenal von Manipulationen erzeugt [werden], das in sich nicht systematisiert ist.“ Dass die Kandidaten eine emotionale Beteiligung im Rahmen von persuasiven Strategien inszenieren, ist jedoch nicht mit einer absoluten Planbarkeit des öffentlichen Auftritts verbunden. Es soll deshalb argumentiert werden, dass der emotionale Sprachgebrauch von Merkel und Schröder durchaus auf einen „psychologischen Mechanismus“ (ebd.) zurückzuführen ist - und nicht auf einem Automatismus beruht. Aus emotionspsychologischer Sicht kann dieser Mechanismus als Emotionsregulation beschrieben werden (siehe Abschnitt 2.1.1).

In der vorliegenden Arbeit kann allerdings nicht zwischen Formen einer Emotionsregulation unterschieden werden, nach denen die Kandidaten „entweder ein nicht existentes Erleben manifestieren oder ein existierendes Erleben [einer Emotion] reguliert manifestieren“ (Fiehler 1990, 89). Wenngleich Merkel und Schröder keine ausgebildeten Schauspieler sind, ist ein diskreter sprachlicher Gefühlsausdruck, der auf einem aktualisierten Erlebnis basiert, vermutlich kaum von einer inszenierten Emotionsmanifestation zu unterscheiden. Diese Annahme lenkt das Untersuchungsinteresse um so mehr auf die „öffentliche Seite der Gefühle“ (Drescher 2003, 1) - auf die ‚diskursive und soziale Realität’ von Emotionen, die prinzipiell jedem Zuschauer zugänglich ist. Dabei kann vermutet werden, dass insbesondere mit alltagsnahen Typen einer ‚Kommunikation von Emotion’ zu rechnen ist, weil sich die Kanzlerkandidaten von diesem Sprachgebrauch eine erhöhte „emotionale Glaubwürdigkeit“ (Roth 2004, 194) versprechen. Die inszenierte Alltagsnähe wird somit als Teil jener Bedingungen aufgefasst, unter denen der Rezipient einem emotiven Gefühlsausdruck am wahrscheinlichsten das ‚Prädikat der emotionalen Echtheit’ zuschreibt. Der von Fiehler prognostizierte ‚Kampf um die Deutung’ eines Ereignisses im Gespräch, Hinweise auf Diskrepanzen, die spezifische Bewertungen und Interpretationen plausibel machen sollen, sind im Rahmen des inszenierten Streitgesprächs zu erwarten. In Kapitel 3 wird diese An- nahme noch durch einige Befunde zum Sprachhandeln im Rahmen von Wahlkampfstrategien gestützt.

Das Emotionskonzept von Drescher bietet zusammenfassend eine geeignete Grundlage, um das emotive Sprachhandeln im TV-Duell exemplarisch zu untersuchen. Was die Autorin unter einer ‚Darstellung emotionaler Beteiligung’ versteht - nämlich „interaktiv hervorgebrachte diskursive Manifestationen, die von den Interaktanten selbst als Ausdruck von Emotionen gedeutet werden“ (Drescher 2003, 83) - soll auf den konkreten Sprachgebrauch der Kandidaten übertragen werden. Es können Ausdrucksformen gesucht werden, die „1. konventionell, 2. indexikalisch bzw. kontext-sensitiv, 3. dynamisch, 4. weitgehend emotions- unspezifisch [sind] und 5. Verfahrenscharakter“ (Drescher 2003, 83) haben (siehe Teilkapitel 2.4). Auch Fiehler (1990, 40f) nähert sich einer Präzisierung von emotionalen Elementen im Sprachgebrauch, indem er gängige Annahmen aus einer „alltagsweltlichen“ und „inter- aktiven Konzeptualisierung von Emotionen“ vorstellt, die Dreschers Herangehensweise bestätigen:

„Fragt man nach der Differenz zwischen bewertenden emotionalen Reaktionen und anderen Bewertungen, so spielt eine Vielzahl von Dimensionen eine Rolle. Zum einen sind verschiedene psychische und mentale Prozesse involviert. Zum anderen hat die emotionale Reaktion einen deutlicheren Ich-Bezug“ (Fiehler 1990, 49).

Überdies seien emotionale Reaktionen stärker punktuell, d.h. auf einen konkreten Einzelfall bezogen, und zeichneten sich durch ihre Intensität und Dynamik aus. Für den wahr- scheinlichen Fall, dass die Kandidaten ‚ein existierendes Erleben reguliert manifestieren’ sollen im Folgenden zunächst noch einige emotionspsychologische Konzepte angesprochen werden, die sich mit Möglichkeiten und Grenzen eines kontrollierten Ausdrucks von Emotionen beschäftigen.

2.1 Emotionspsychologische Grundlagen

Emotionspsychologische Arbeiten erforschen Emotionen, ihre Ausdrucksformen und ihre Wirkung auf den menschlichen Körper und auf andere Menschen. Abhängig vom Erkenntnis- interesse geht es um den Versuch, Emotionen und ihre Funktionen zu typologisieren, sowie ihre Entstehung „proximat, distal und ultimat“ zu erklären (Merten 2003, 35).11 Dabei ist eine Vielzahl an Definitionsversuchen von Emotionen entstanden. Battacchi et al. (1996, 15) erklären: „Es kann vorwegnehmend konstatiert werden, dass es eine allgemeingültige allseits anerkannte Emotionsdefinition nicht gibt [...].“ Die Autoren führen diesen Umstand vor allem auf die „subjektive Gefühlskomponente der Emotionen“ zurück, die sich als „persönlich erfahrbarer Zustand“ einer Fremdbeobachtung entziehe (ebd.). Ein gemeinsamer Nenner ist nach Einschätzung der Autoren nicht in Sicht - lediglich „dürfte ein allgemeiner Konsens darüber bestehen, dass Emotion ein metaphysiologisches Konstrukt höherer Ordnung darstellt“ (ebd. 17). Ein allgemeiner Hinweis, dass es sich beim Erleben einer Emotion um einen komplexen Prozess handelt, in dem subjektive und objektive Faktoren eine Rolle spielen, scheint kaum eine Erwähnung wert - da über Anzahl und Stellenwert der dabei relevanten Komponenten bisher wenig Einigkeit besteht.

Battacchi et al. (1996, 21f) differenzieren beispielsweise die folgenden Komponenten und Dimensionen einer emotionalen Gesamtreaktion: 1. Physiologische Reaktionen, 2. Tonische Haltungsreaktionen (An- und Entspannung des Körpers), 3. Instrumentelle motorische Reaktionen, 4. Expressive motorische Reaktionen (Gestik, Mimik, para-linguistische Mittel), 5. Expressive sprachliche Reaktionen (syntaktische und lexikalische Selektion, stilistische Varianten), 6. Subjektive Erfahrungskomponenten (die Beschreibung des Menschen seiner persönlichen Empfindungen, die durch die individuelle Wahrnehmung des inneren Zustands bestimmt wird).

Angesichts der Komplexität des Gegenstandes sind verschiedene Theoriegruppen entstanden, die die einzelnen Komponenten sowie auch die phylogenetischen, ontogenetischen und aktualgenetischen Aspekte unterschiedlich gewichten.12 Die Autoren einer ersten möglichen Theoriegruppe (nach Merten, 2003) verfolgen evolutionsbiologisch begründete Ansätze, die vor allem die phylogenetische Bedeutung von Emotionen betonen. Emotionen haben sich danach als Mechanismen zur adäquaten Anpassung des Menschen an Umweltbedingungen herausgebildet. In einer zweiten Gruppe - bei Merten (2003, 67ff) unter dem Kapitel „Emotionen und der Körper“ zusammengefasst - wird diskutiert, inwiefern physiologische Reaktionen als Ursache für emotionale Prozesse gelten können. Ein viel beachteter Ansatz, der auf dieser Sichtweise aufbaut, ist die ‚James-Lange-Theorie’ (1985), die nach Merten als Wegbereiter von neueren, nicht-kognitiven Theorien angesehen werden kann. Auch neuro- biologische Forschungsansätze fallen unter diese Theoriegruppe.

In einer dritten Theoriegruppe erhalten kognitive Aspekte wie z.B. Attributionen oder Einschätzungen (Appraisals) von Situationen einen zentralen Stellenwert bei der Erklärung der Emotionsgenese. Exemplarisch nennt Merten die „kognitiv-motivational-relationale Theorie“ von Lazarus (1991) und das „Komponentenprozessmodell“ von Scherer (2001). Die Ansätze verbindet die Annahme, dass Emotionen das Ergebnis eines mehrstufigen Prozesses sind. Auslöser dieses Prozesses sind in der Regel unerwartete, subjektiv bedeutsame Ereignisse, die interpretiert und hinsichtlich ihrer (vermeintlichen) Ursachen analysiert werden. Mit Wirth (2005) kann zusammenfassend gesagt werden:

„Folgt man den kognitiven Emotionstheorien, dann sind Emotionen als Ergebnis eines Bewertungs- prozesses (der den Menschen meist wenig bewusst ist) zu begreifen. Im Zuge dieser so genannten Appraisal-Prozesse werden wahrgenommene Objekte, Ereignisse und Situationen im Hinblick auf ihre Neuartigkeit, Angenehmheit, Zieldienlichkeit, Bewältigbarkeit und Normverträglichkeit geprüft. Es werden primäre und sekundäre Appraisalprozesse sowie Re-Appraisal-Prozesse unterschieden, wobei die Grenzen fließend sind. [...] Das Ergebnis dieses mehrstufigen Appraisal-Prozesses produziert spezifische Reaktionsmuster (physiologische Reaktionen, motorischer Ausdruck, Handlungstendenzen, Gefühle) bzw. spezifische Emotionen.“

Eine vierte Theoriegruppe thematisiert den Zusammenhang zwischen „Emotionen, Kultur und Gesellschaft“ (Merten 2003, 125ff). Stellvertretend genannt werden kann Averill (1980) als Vertreter einer sozial-konstruktivistischen Theorie. Er versteht Emotionen als Syndrome, die sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzen können - nach Battachi et al. beispielsweise aus physiologischen Reaktionen und expressiven sprachlichen Reaktionen (s.o.). Den „Status eines emotionalen, zusammenhängenden Syndroms“ (Merten 2003, 133), also einer spezifischen Emotion, erhalten diese Komponenten nach Averill erst im Rahmen einer Zuordnung von sozialen temporären Rollen.

Holodynski (2006, 10) resümiert, dass trotz der großen Unterschiede in den existierenden Theorieansätzen zumindest Konsens darüber besteht, dass Emotionen sowohl einen Form- aspekt als auch einen Funktionsaspekt aufweisen. Dem formalen Aspekt werden beobachtbare Indikatoren zugeordnet, nach denen Emotionen möglicherweise identifiziert und klassifiziert werden können. Der funktionale Aspekt bezeichnet hingegen mögliche Aufgaben und Leistungen, die „Emotionen im menschlichen Handeln, im Zusammenspiel mit anderen Teilfunktionen wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Motivation, etc. ausüben“ (ebd.). Holodynski gliedert die zahlreichen Emotionstheorien nach vier grundlegenden Paradigmen. Einige Prämissen des „funktionalistischen“ und des „sozio-kulturellen“ Paradigmas sollen in den folgenden Abschnitten skizziert werden.

2.1.1 Das funktionalistische Paradigma

Unter diesem Forschungsparadigma wird eine Emotion über „die Funktion, die sie im System der individuellen Tätigkeitsregulation einnimmt“ (Holodynski 2006, 17ff), definiert. Nach Auffassung von Holodynski haben insbesondere Arbeiten von Frijda (1986) und Lazarus (1991) zur Etablierung dieser Sichtweise beigetragen. Im System der Tätigkeitsregulation (oder auch Handlungsregulation) bilden psychische Teilprozesse wie Wahrnehmung, Kognition, Gedächtnis, Emotion und Motivation eine funktionale Einheit. „Darin kommen den Emotionen zwei besondere Funktionen zu: die motivrelevante Einschätzung der Situation und die Auslösung einer Handlungsbereitschaft“ (Holodynski 2006, 17). Die ‚motivrelevante Einschätzung’ wird dabei als Prozess verstanden, der einen Menschen offenbar permanent veranlasst, verschiedene Reize „in Form von (realen oder vorgestellten) Gegenständen, Personen und Ereignissen“ (2006, 17) auf ihre Relevanz für seine individuellen Motive und Anliegen zu prüfen.13 Ergebnis dieses Prozesses ist eine subjektive Bewertung, die schließlich die zweite Funktion, die ‚emotionale Handlungsbereitschaft’ auslöst.

Wie Holodynski (ebd.) erläutert, soll diese Handlungsbereitschaft primär die Beziehung zur Umwelt in motivdienlicher Weise verändern.14 Dabei kann sie in zum Teil sehr unter- schiedlicher Form auftreten, so dass der Zustand, in dem sich das Individuum in diesem Moment befindet, nicht unbedingt eindeutig zu definieren ist. Holodynski (ebd.) nennt als Beispiele den gefühlten Impuls, eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder aber zu unterlassen, die Bereitschaft zu einem spezifischen (sprachlichen) Ausdrucksverhalten, sowie eine physiologische Reaktion. Er erklärt, dass die physiologischen Reaktionen - z.B. innere Anspannung, Schwitzen, beschleunigter Atem - den Körper auf die eingeleiteten Handlungs- und Ausdrucksprozesse vorbereiten. Ist die emotionale Handlungsbereitschaft einmal aus- gelöst worden, steht dem Individuum nach der funktionalistischen Sichtweise eine Vielzahl an Verhaltensweisen zur Verfügung, die es so einsetzen kann, wie nach seiner Einschätzung zum Erreichen der anvisierten Ziele erforderlich. Holodynski spricht auch von ausgebildeten „Systeme[n] flexibel kombinierbarer Handlungen“ (ebd.), auf die ein Mensch in diesem Augenblick zurückgreifen könne.

Die ‚emotionale Handlungsbereitschaft’ einer Oppositionspolitikern kann zum Beispiel darin bestehen, ihre persönliche Verärgerung lautstark und gestikulierend zu kommunizieren. Dies mag aus der ‚motivrelevanten Einschätzung’ resultieren, dass auch die schlechte Bilanz einer Regierungspartei nicht zur gewünschten Wechselstimmung in der Bevölkerung führt (reales Ereignis), was den angestrebten Regierungswechsel (individuelles Anliegen und Motiv) gefährdet. Die tatsächliche Umsetzung der Bereitschaft in eine konkrete Handlung wird vermutlich anders - nämlich, wie weiter unten thematisiert wird, regulierter ausfallen.

Zusammenfassend kann also zunächst festgehalten werden, dass eine Emotion nach dem funktionalistischen Paradigma aus dem psychischen Prozess eines Appraisals, „einer Einschätzung der Ereignisse der Umwelt für die Verwirklichung der persönlichen Motive“ und einer Handlungsbereitschaft zur „Veränderung der Person-Umwelt-Beziehung mit dem Ziel der Verwirklichung der persönlichen Motive“ (Holodynski 2006, 20) besteht. Die Qualität einer Emotion - so eine weitere verbreitete funktionalistische Überlegung - hängt dabei von der Bedeutung ab, die das Individuum einem aktuellen Ereignis in Bezug auf seine Motivbefriedigung zuweist. Holodynski resümiert:

„Eine spezifische Konfiguration von motivrelevanten Einschätzungsprozessen ist demnach ein notwendiges Definitionskriterium für eine Emotion in funktionalistischen Ansätzen. Diskutiert wird jedoch, ob man die Einschätzungsprozesse als vorauslaufende Bedingung oder als genuinen Bestandteil von Emotion auffassen sollte“ (18).

Ein theoretisches Problem der Ansätze ergibt sich nach Holodynski überdies aus der möglichen Unterscheidung zwischen Einschätzung und Wissen. Unter letzterem versteht er die Fähigkeit des Menschen zur „symbolischen Repräsentation der Welt (einschließlich seiner selbst und seiner Beziehung zur Welt)“ (19). Dass Wissensbestände von einem Individuum genutzt werden, um angemessen handeln zu können, wirkt sich jedoch auch auf dessen Einschätzungsprozesse aus, die fortlaufend durch bestimmte Ereignisse und Situation aus- gelöst werden. Dabei scheint es aus emotionspsychologischer Warte noch nicht endgültig geklärt, ob eine „wissensbasierte Vergegenwärtigung der Beziehungsbedeutung von Emotionen“ (ebd.) bereits dem Einschätzungsprozess zugeordnet werden muss. Aus funktionalistischer Sicht liegt dann ein emotionaler Bewertungsprozess vor, wenn das aktivierte Wissen persönliche Bedeutung für den Sprecher hat. Holodynski meldet jedoch Zweifel an, ob tatsächlich eine emotionale Beteiligung unterstellt werden kann, wenn ein Individuum lediglich auf Wissen rekurriert.15 Beispielsweise ist der Fall denkbar, dass ein Politiker in einer Diskussion darauf hinweist, dass ihn die neuen Arbeitslosenzahlen sehr betroffen machen. Aus der verbalen Bewertung des lange bekannten Sachverhaltes ‚Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt’, verbunden mit dem Hinweis auf das Erleben einer Emotion (z.B. ‚Traurigkeit’), kann nicht zwangsläufig auf ein aktualisiertes Erlebnis geschlossen werden. Auch unter dem funktionalistischen Paradigma spielt deshalb der Formaspekt von Emotionen eine Rolle - genauer: das, was aus einer emotionalen Handlungsbereitschaft resultiert und äußerlich wahrnehmbar ist. Holodynski erläutert: „Ob tatsächlich eine Emotion erlebt wird oder ob nur etwas gewusst wird, hängt nicht allein von der Bewertung der Situation ab, sondern auch davon, in welcher Form die Handlungs- bereitschaft vorliegt, ob als Gefühl,16 wahrnehmbarer Ausdruck und/oder Körperprozess“ (Holodynski 2006, 20). So sei für Lazarus (1991, 59) beispielsweise ein wahrnehmbarer „peripher-physiologischer Prozess“ die Voraussetzung, damit ein emotionales Erlebnis unterstellt werden könne - eines, das zumindest aus einer Fremdperspektive begründet werden kann. Holodynski (2006, 21) kommt zu dem Schluss, dass das entscheidende Kriterium für emotionales Erlebnis darin besteht, dass „im subjektiven Gefühl einer Person eine notwendige bzw. hinreichende Konfiguration von emotionsspezifischen Ausdrucks- und Körperreaktionen“ vorliegt. Er vertritt die Ansicht, dass diese Konfiguration im subjektiven Gefühl einer Person durchaus gegeben sein kann, auch wenn von Außenstehenden weder ein Ausdruck beobachtbar ist noch bestimmte körperliche Reaktionen peripher-physiologisch messbar sind. Zur Begründung verweist er auf die Ontogenese des Menschen, in deren Verlauf auch „mentale Ausdruckszeichen und mentale Körpersensationsmarker“ (ebd.) entwickelt würden. Ein somit lediglich erinnerter Einschätzungsprozess - Holodynski bezeichnet diesen Vorgang als „die introspektive Wahrnehmung zentralnervös gespeicherter interozeptiver und propriozeptiver Rückmeldungen“ (ebd.) - könne das Erleben einer Emotion demnach genauso auslösen wie Rückmeldungen aus dem Körper, die durch aktuelle Appraisalprozesse ausgelöst werden.17

Zu einer vergleichbaren Auffassung gelangt bereits Scheele (1990), die sich ebenfalls mit dem komplexen Verhältnis von Emotion und Bewertung auseinandersetzt. Sie definiert Emotion als „Zustand der Bewertung von Selbst-Welt-Relationen unter Bezug auf bedürfnisrelevante Wertmaßstäbe“ (ebd., 41). Mit anderen Worten finde emotionales Erleben nicht statt, ohne Bewertung und ohne Einbezug person-/selbstrelevanter Werte. „Der Mensch als kognitiver Konstruktivist“ könne auch „lebensraumferne und sogar vergleichsweise -fremde Ereignisse als Auslöser für (Selbst-)Betroffenheit, d.h. emotionale Bewertung“ (ebd.) empfinden. Scheeles Emotionstheorie baut somit auf der Vorstellung auf, dass die „bewertende Reflexivität des menschlichen Subjekts für die qualitative Art und Differenziertheit des emotionalen Erlebens die entscheidende Instanz darstellt“ (Jahr 2000, 12). Eine kompakte Zusammenfassung von dem, was nach Scheeles Theorie als emotionales Erleben bezeichnet werden kann und was nicht, findet sich bei Jahr (2000, 12):

„Die reflexive Bewertung hält [Scheele] für das ausschlaggebende Kriterium der Grenzziehung. Für den Kernbereich von ausdifferenzierten Emotionen seien die in ihnen enthaltenen Bewertungen dem Subjekt nicht nur als präsente Kognition, sondern auch als reflexive präsent gegeben, z. B. in Bezug auf die thematischen bedürfnisrelevanten Wertungsperspektiven. Hinsichtlich des Bewertungsaktes enthält der Bedeutungskern von Emotionen zwei zentrale Komponenten: eine Inhalts- und eine Wertkomponente. Von emotionaler Bewertung könne jedoch erst ausgegangen werden, wenn beide Komponenten auf bestimmte Weise gegeben sind. Bei der Inhaltskomponente sind es kognizierte Merkmale der Selbst- Welt-Relation. Emotionen kommen nur dann zustande, wenn das Individuum selbst thematische Inhalte bewertet. Diese Inhalte können aus dem Selbst und/oder der Umwelt konstituiert werden. Die Bewertungskomponente enthält Bewertungen, denen jeweils zur Verfügung stehende Wertungsraster angelegt werden. Liegen dabei überwiegend bedürfnisirrelevante Wertmaßstäbe vor, handle es sich um kognitive Präskribierungen, überwiegen jedoch die bedürfnisrelevanten, würde emotiv präskribiert. [...] Bedürfnisse werden dabei als persönlichkeitsspezifizierende relativ überdauernde Werthaltung verstanden. Scheele macht deutlich, dass Bewertungen seitens des Subjekts nicht prinzipiell mit Emotionen verbunden sein müssen, sondern erst wenn die zu bewertenden Dinge auf eigene Bedürfnisse treffen.“

Mit Blick auf das TV-Duell kann somit festgehalten werden, dass die Kandidaten vermutlich dann den Eindruck einer authentischen emotionalen Beteiligung erwecken, wenn ihre Bewertung auf eine ‚persönlichkeitsspezifische relativ überdauernde Werthaltung’ hindeutet, die mit anderen Worten ein individuelles Bedürfnis wiederspiegelt. Eine solche Annahme scheint vor allem den Inszenierungscharakter des TV-Duells zu bestätigen und macht deutlich, wo die Grenzen einer linguistischen Beschreibung des emotionalen Sprachgebrauchs liegen. Darüber, worauf sich die Emotionen eines Politikers, somit verstanden als ‚bedürfnis- relevante Bewertungszustände’, tatsächlich gründen, kann schließlich nur spekuliert werden. Persönliche Motive/Ziele, auf die sich eine ‚emotional initiierte Handlungsbereitschaft’ ausrichtet, scheinen aus strategischen Gründen nicht in jedem Fall kommunizierbar. Sie können sogar in deutlichem Widerspruch zum öffentlichen Image des Kandidaten stehen. Beispielsweise formuliert Wohlgemuth (2005, 9) eine „idealtypische Motivationskarriere“ eines Politikers, die aus den Stadien „Idealismus (sich engagieren, um etwas zu bewegen), Machtgier (Macht haben, etwas zu bewegen), Machterhalt (alles bewegen, um an der Macht zu bleiben), Prestige (in die Geschichte eingehen, etwas zu hinterlassen)“ besteht.

Von Interesse für diese Arbeit ist deshalb vor allem die Fähigkeit des Menschen zur Emotionsregulation, die nach Holodynski ebenfalls dem funktionalistischen Paradigma zugeordnet werden kann. Grundsätzlich gilt: „Emotionsregulation umfasst alle Prozesse, die bei der Herstellung, Aufrechterhaltung und Modulierung von emotionalem Geschehen beteiligt sind“ (Holodynski 2006, 24). Bereits der Einschätzungsprozess, wie oben skizziert, kann nach Leventhal u. Scherer (1987, 17) auf drei Ebenen reguliert werden: „der senso- motorischen Ebene, der Schemaebene und der konzeptuellen Ebene.“18 Für die vorliegende Arbeit ist vor allem die konzeptuelle Ebene von Interesse. „Sie umfasst propositional [zu den anderen Ebenen] organisierte Wissensstrukturen über Emotionen sowie Mechanismen und Prozeduren, wie man dieses Wissen intentional einsetzen kann“ (ebd.). Aus diesem Wissen können aus emotionspsychologischer Sicht Strategien der Emotionsregulation abgeleitet werden, die sich nach Bridges und Grolnick (1995) beispielsweise in die Klassen „Auf- merksamkeitsregulation, Selbstberuhigungsstrategien, interaktive Regulationsstrategien und symbolische bzw. sprachliche Strategien“ unterscheiden lassen (zitiert nach Holodynski 2006, 25).

Im Zusammenhang mit dem TV-Duell können nur die beiden letzteren interessieren. Es darf angenommen werden, dass die Kandidaten ihr Ausdrucksverhalten stark regulieren. Befinden sich Merkel und Schröder in emotionaler Handlungsbereitschaft, so kann die Umsetzung in eine konkrete „Bewältigungshandlung“ (ebd., 24) zum einen auf den Kontext ausgerichtet sein, um diesen in motivdienlicher Weise zu verändern, z.B. mit einer regulierten Sprechhandlung. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass sie die Bewältigungshandlung auf die eigene Emotion konzentrieren, um den bis dahin abgelaufenen Bewertungsprozess zu modifizieren. Angesichts des erwartbaren Schlagabtauschs im TV-Duell erscheint dies allerdings wenig wahrscheinlich. Grundsätzlich können den beiden Kandidaten dennoch stark reflexive Formen der Emotionsregulation unterstellt werden, „weil zwischen Ziel und Ausführung Phasen der Überlegung, des Abwägens und des Planens, also Phasen der Reflexion, geschaltet sind. Die Fähigkeit zur Emotionsregulation versetzt eine Person in die Lage, ihren Emotionen und den damit verbundenen Handlungsbereitschaften nicht mehr nur ausgeliefert zu sein, sondern aktiv Einfluss auf die Wirkung der eigenen Emotionen nehmen zu können“ (ebd., 77f).

Reflexive Emotionsregulation kann nach Holodynski nicht nur nach dem Auslösen einer Emotion einsetzen, sondern bereits während oder sogar vor diesem Prozess. Bei der Emotionsregulation nach dem Auslösen einer Emotion würden Handlungen aktiviert, die die Emotionen nach Maßgabe übergeordneter Motive abschwächten, verstärkten oder sogar durch andere Emotionen ersetzten, sofern sie motivdienlicher seien. Emotionsregulationen während einer Emotion können in der Modulation des Ausdrucks bestehen, zu Regulationen vor dem Auftreten einer Emotion kommt es nach Holodynski einleuchtenderweise dann, „wenn man emotionsauslösende Kontexte vermeidet“ (ebd.,78). Wie erfolgreich die reflexive Emotions- regulation sei, hänge unter anderem von den kulturell verfügbaren Strategien und Wissens- beständen ab, wie sich Emotionen beeinflussen und modifizieren lassen. Dieser Zusammen- hang wird im folgenden Abschnitt ausführlicher betrachtet. Es soll ersichtlich werden, dass Kognition „nicht als Resultat privater Informationsverarbeitungsprozesse zu verstehen, sondern als Prozess zu konzipieren [ist], der sich zwar in einzelnen Individuen abspielt, aber doch von sozialen Prozessen entscheidend abhängt und geprägt wird“ (Vester 1991, 93). Es kann zusammengefasst werden, dass Emotionsmanifestationen über die ‚konzeptbasierte Ebene’ weitgehend durch bewusste kognitive Prozesse funkional reguliert werden können.

2.1.2 Das sozio-kulturelle Paradigma

Auch der soziale und kulturelle Kontext muss bei der Betrachtung von emotionalen Prozessen in der sprachlichen Interaktion berücksichtigt werden. In diesem Abschnitt sollen daher Annahmen zur sozialen und kulturellen Realität von Gefühlen skizziert werden. Emotions- psychologische Arbeiten unter einem sozio-kulturellen Paradigma verbindet die Vorstellung, dass „Emotion und ihre Regulationsformen in der zwischenmenschlichen Interaktion gemeinsam konstruiert werden“ (Holodynski 2006, 33). Glaubt man Jahr (2000, 18f), dann hat dieser Umstand weitreichende Folgen - denn: „Intentional gerichtete Gefühle strukturieren den sozialen Raum, stellen Sozialbeziehungen her, indem sie Menschen aneinander binden und andere voneinander trennen, indem sie die einen ausgrenzen und andere eingrenzen.“ Ebenso wie Drescher (2003) geht Jahr infolgedessen davon aus, dass emotionale Äußerungen keine private Angelegenheit sind; „sozial geformt und überformt“ können sie ihrer Meinung nach als „Resultat und unentbehrliche Komponente sozialer Interaktion“ aufgefasst werden. Dem scheint bereits Fiehler (1990, 71ff) zuzustimmen, der die Konstitution einer Emotion als einen sozialen Prozess begreift, der aus der „Deutung und Typisierung einer sozialen Situation und [...] der Anwendung einer entsprechenden Emotions- regel“ (Fiehler 1990, 71) besteht. Unter Emotionsregeln versteht er Regeln, die „kodifizieren, welche Emotionen einem Situationstyp normalerweise entsprechen und welche in ihnen sozial erwartbar sind“ (ebd.).

[...]


1 Der Artikel ‚Mehr Gefühl wagen’ erscheint am 3. Dezember 2005 und berichtet über die unionsinterne Wahlanalyse der Bundestagswahl 2005 nach einer Sitzung des Bundesvorstandes der Partei.

2 Der Ausdruck von Emotionen aus strategischen und persuasiven Gründen wird hier als ‚emotives Sprachhandeln’ bezeichnet (vgl. Roth 2004, 229). ‚Emotion’ und ‚Gefühl’ werden synonym verwendet.

3 Gemeint sind ‚Aufgabe, Sinn, Zweck einer sprachlichen Erscheinung [...]’ (Lewandowski 1990, Bd.1, 324).

4 Fiehler verwendet ‚Emotionsregulation’ als Oberbegriff für alle Formen einer individuellen oder interaktiven Abstimmung von ‚emotionalen Erfordernissen einer sozialen Situation und individuellen Emotionen und Emotionsmanifestationen’ (vgl. Fiehler 1990, 87-93). In dieser Arbeit wird der Begriff aus stilistischen Gründen zur Bezeichnung von kommunikativen Prozessen gebraucht, die nach Fiehler präziser als (Emotions-) Manifestationsregulation beschrieben würden. Der Begriff wird unter Abschnitt 2.2.1 genauer erläutert.

5 Drescher bezieht sich bei ihren Beobachtungen auf alltägliche Gesprächssituationen. Hier wird angenommen, dass ‚indexikalische Emotionsmanifestationen’ oder ‚implizite Formen des nicht-thematischen Emotionsausdrucks’ auch im Sprachhandeln der Politiker überwiegen (vgl. Drescher 2003, 4)

6 Nach Drescher (2003, 179f) kann mit dem von Goffman (1980) entwickelten Konzept des ‚Rahmens’ eine wichtige Bezugsgröße beschrieben werden, an der Sprecher die Ausgestaltung eines Emotionsausdrucks orientieren. Ein Gespräch kann als ‚rasch wechselnder Strom verschieden gerahmter Abschnitte modelliert werden’. Nach dieser interaktionssoziologischen Sichtweise wird ein Emotionsausdruck an normativen Erwartungen gemessen, die z.B. Vorgaben hinsichtlich der Intensität machen. Auch mit der sozialen Rolle eines Sprechers sind normative Erwartungen verbunden. Vgl. dazu Fiehler (1990, 85), der auf ‚Manifestations-’ und ‚Kodierregeln’ hinweist.

7 In Abschnitt 2.2 wird das Verhältnis von Sprache und Emotion noch ausführlicher behandelt.

8 Abschnitt 2.1.1 thematisiert kognitive Erklärungsansätze der Emotionspsychologie.

9 Nach Fiehler (1990, 71) kann die Konstitution einer Emotion als sozialer Prozess verstanden werden, ‚der einerseits in der Deutung und Typisierung einer sozialen Situation und andererseits in der Anwendung einer entsprechenden Emotionsregel’ besteht. Emotionsregeln ‚kodifizieren, welche Emotionen einem Situationstyp normalerweise entsprechen und welche in ihnen sozial erwartbar sind.’ Sie sind ‚deskriptiv, haben aber auch präskriptive Wirkung. [...] Das Wissen um diese Emotionsregeln strukturiert konkrete individuelle Deutungsprozesse vor.’ Die Emotionsgenese werde somit von ‚sozialen Konstrukten’ bestimmt.

10 Unter Abschnitt 2.1.2 ‚Das sozio-kulturelle Paradigma’ wird der Einfluss von sozialen Erwartungsstandards noch eingehender betrachtet. Dabei wird aus soziologischer Perspektive thematisiert, dass eine Interaktion von vielen unterschiedlichen ‚ Codes ’ geprägt ist (zu diesen gehören auch die mit Fiehler angesprochenen Emotionsregeln). Mitglieder einer Kulturgemeinschaft verbindet ein Regel-, Normen- und Wertesystem, das als Bezugsrahmen von Bewertungen dient, auch wenn einem Individuum nicht alle daraus ableitbaren normativen Erwartungshaltungen bewusst sind oder erstrebendwert erscheinen. Nach Schmidt u. Weischenberg (1994, 214) nutzt ein Mensch kognitive Schemata zur Kommunikation mit anderen, die als ‚überindividuelle, intersubjektive Ordnungsmuster oder Programme’ verstanden werden können und eine Struktur in die Code -Vielfalt bringen.

11 Nach Merten (2003) verweisen proximate Erklärungen auf die Aktualgenese von Emotionen, distale auf den ontogenetischen Aspekt und ultimate auf den phylogenetischen Aspekt der Emotionsentstehung. (Phylogenese meint hier die Evolution einzelner Merkmale im Verlauf der Entwicklungsgeschichte eines Menschen).

12 Auch in der Frage nach der Anzahl möglicher Theoriegruppen gehen die Ansichten auseinander. Bspw.

unterscheidet Merten (2003) vier, Ulich u. Mayring (2003, 62-75) hingegen sechs verschiedene Theoriegruppen: ‚1. Evolutionsbiologische Ansätze, 2. Emotion als System, 3. Psychophysiologische Gefühlstheorien, 4. Behavioristisch-lerntheoretische Beiträge, 5. Kognitive Bewertungstheorien, 6. Funktionalistisch orientierte Komponenten-Prozessmodelle.’

13 Vester (1991, 72), Vertreter einer soziologischen Theorie von Emotionen, geht davon aus, dass im Rahmen dieses permanten Informationsverarbeitungsprozesses besonders relevante Umweltinformationen als Erkennungsmuster oder Codes gespeichert werden. Es entstehen kognitive ‚Landkarten’ zur Informationsverarbeitung. ‚Man kann sich diese Codes als verschiedene relativ autonome, wenn auch interagierende und teilweise übersetzbare ‚Sprachen’ mit unterschiedlichen Zugangsregeln vorstellen’ (ebd.,75). Ihre primäre soziale Leistung besteht nach Vester darin, dass sie das ‚individuelle Gedächtnis’ mit dem ‚kollektiven Gedächtnis’ verknüpfen und damit Zugang zu ‚Zeichen und Bedeutungen [ermöglicht,] über die die Kultur in ihrem semiotischen Repertoire verfügt’ (ebd., 93).

14 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich um eine analytische Trennung handelt, die dem Individuum selbst häufig nicht bewusst ist - die Grenzen zwischen Appraisalprozess und spezifischen Reaktionsmustern scheinen insbesondere in Alltagssituationen fließend (vgl. dazu das Zitat von Wirth 2005).

15 In der Emotionspsychologie wird in diesem Zusammenhang auch von ‚hot’ und ‚cold emotion’ gesprochen (vgl. Lazarus 1991).

16 Die Begriffe ‚Gefühl’ oder ‚gefühlter Impuls’ bezeichnen hier Typen einer ‚emotionalen Handlungsbereitschaft. Ansonsten werden ‚Gefühl’ und ‚Emotion’ weiterhin synonym verwendet.

17 Auch Battacchi et al. (1996, 39) weisen darauf hin, dass in kognitiven Emotionstheorien ‚kognitive Bewertungsprozesse die aktualgenetischen Determinanten von Emotionen (einschließlich ihrer Qualität)’ sind. ‚Die Bewertung äußerer und innerer Reizgegebenheiten erfolgt in der Regel automatisch, unwillkürlich und vorbewusst, auch wenn kognitive Prozesse höherer Ordnung (begriffliche Verarbeitungsebene) Emotionen auslösen können und diese Art der Emotionsentstehung innerhalb der menschlichen Lebensspanne offensichtlich an Bedeutung gewinnt’ (ebd.).

18 Zitiert nach Holodynski (2006, 23), der die Terminologie von Leventhal u. Scherer ins Deutsche übersetzt.

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Emotionalität im TV-Duell Merkel - Schröder
Untertitel
Kommunikative Techniken der Emotionsregulation aus sprechhandlungstheoretischer und psycholinguistischer Perspektive
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Deutsches Seminar I)
Note
1,3 (sehr gut)
Autor
Jahr
2006
Seiten
98
Katalognummer
V193161
ISBN (eBook)
9783656182108
ISBN (Buch)
9783656182528
Dateigröße
869 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politische Kommunikation, Medienwissenschaften, Medienwirkungsforschung
Arbeit zitieren
Björn Seeger (Autor:in), 2006, Emotionalität im TV-Duell Merkel - Schröder, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193161

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