Der Verfasser, der sich seit Ende der 60er Jahre immer wieder mit Baudelaire beschäftigt hat, bietet Interpretationshilfen zu dem berühmten Sonett "A une Passante" ("An eine, die vorüberging") aus den "Fleurs du Mal" ("Die Blumen des Bösen") von Charles Baudelaire. Damit wendet er sich vor allem an (mnl. und weibl.) Schüler der gymnasialen Oberstufe, Romanistikstudenten, Referendare und Lehrer, denen eine intensive Vorbereitung(-szeit) nicht gegeben ist. Denn die Literatur zu Baudelaire und seinen Gedichten ist inzwischen so umfangreich und unüberschaubar geworden, dass sich der Verfasser auf Weniges, aber Wichtiges beschränkt. Dabei gibt er - im Unterricht vielfach erprobte - konkrete und detaillierte Hinweise u.a. zu Stil, Rhetorik, Syntax und Struktur von "A une Passante", ordnet dieses Gedicht in den literarischen Kontext ein und untersucht alle 74 Sonette der "Fleurs du Mal" auf ihre Reime. Zum Motiv der "Schönen Unbekannten" präsentiert er ausgewählte Texte des 19. und 20. Jahrhunderts, die z.T. auch in deutscher Übersetzung geboten und entsprechend analysiert und kommeniert werden: Musset, "Une soirée perdue", Echenoz, "Lac" und Gavalda, "Petites pratiques germanopratines". Weitere motivgleiche Texte - zumeist Gedichte - werden über die Bibliographieliste zugänglich gemacht: Nerval, "Une Allée du Luxembourg", Verlaine, "Mon rêve familier", Verlaine, "L'Allée", Rimbaud, "Vénus Anadyomène", Apollinaire, "Le pont Mirabeau", Michaux, "Ma vie" und Desnos, "J'ai tant rêvé de toi". Eine Zusammenstellung der vom Verfasser benutzten Literatur und der herangezogenen Übersetzungen von "A une Passante" schließt diese Arbeit ab.
Inhaltverzeichnis
Zur Einführung
„A une Passante“ – ein spontaner Zugang
„Die schöne Unbekannte“ als Motiv in der französischen Lyrik
„A une Passante“ – stilistische und rhetorische Untersuchungen
„ A une Passante“ – die dramatische Struktur
Die Sonette in „Les Fleurs du Mal“
„A une Passante“ als Sonett
Musset: „Une soirée perdue“
Echenoz: „Lac“
Gavalda: „Petites pratiques germanopratines“
Gernhardt: “Doppelte Begegnung”
“Die schöne Unbekannte” in der Realität
Benutzte Literatur zu „A une Passante“
Benutzte Übersetzungen von „A une Passante“
Anmerkungen
Zur Einführung
Der Verfasser, der sich seit Ende der 60er Jahre immer wieder mit Baudelaire beschäftigt hat, bietet Interpretationshilfen zu dem berühmten Sonett „A une Passante“ („An eine, die vorüberging“) aus den „Fleurs du Mal“ („Die Blumen des Bösen“) von Charles Baudelaire. Damit wendet er sich vor allem an Schüler der gymnasialen Oberstufe, an Romanistikstudenten, an Referendare und an Lehrer[i], denen eine intensive Vorbereitung(-szeit) nicht möglich ist. Denn die Literatur zu Baudelaire und seinen Gedichten ist inzwischen so umfangreich und unüberschau-bar geworden, dass sich der Verfasser auf Weniges, aber Wichtiges beschränkt. Dabei gibt er – im Unterricht vielfach erprobte – konkrete und detaillierte Hinweise u. a. zu Stil, Rhetorik, Syntax und Struktur von „A une Passante“ (zumeist in Form von DIN-A-4-Abeitsblättern), ordnet dieses Gedicht in den literarischen Kontext ein und untersucht alle 74 Sonette der „Fleurs du Mal“ auf ihre Reime. Zum Motiv der „Schönen Unbekannten“ präsentiert er exemplarisch drei französische Texte des 19. und 20. Jahrhunderts, die z. T. auch in deutscher Übersetzung geboten und ent-sprechend analysiert und kommentiert werden: Musset, „Une soirée perdue“, Echenoz, „Lac“ und Gavalda, „Petites pratiques germanopratines“; dazu drei deutsche Texte aus der Gegenwart. Weitere motivgleiche französische Gedichte des 19. und 20. Jahrhunderts werden über die Bibliographieliste zugänglich gemacht: Nerval, „Une Allée du Luxembourg“, Verlaine, „Mon rêve familier“, Verlaine, „L’Allée“, Rimbaud, „Vénus Anadyomène“, Apollinaire, „Le pont Mirabeau“, Michaux, „Ma vie“ und Desnos, „J’ai tant rêvé de toi“. Eine Zusammenstellung der vom Verfasser benutzten Literatur und der herangezogenen Übersetzungen von „A une Passante“ schließt diese Arbeit ab.
„ A une Passante“ – ein spontaner Zugang
-A- Situation:
Paris („Tableaux Parisiens“). Dominanz der akustischen Sinneseindrücke;
zur Großstadt Paris vgl. vor allem Benjamin und Stierle (s. Lit.-Verz.); dazu
Volker Klotz, Die erzählte Stadt, München: Carl Hanser 1969.
-B- Personen:
Die Frau ( Häufle ) u. das lyr. Ich:
- tolle Figur: longue, mine, jambe de statue
- prächtiger Schmuck: main fastueuse
- reizvolle Details der Kleidung: feston und ourlet
- graziöse Bewegung: agile, noble, balancer (soulever wg. Straßendreck)
- Trauer tragend: deuil, douleur majestueuse
Koketterie der Passantin: schwungvolles balancer / soulever: im Kontext ihrer
Trauer ist das (damals) schockierend (Eros und Tod !).
Coup de foudre des Zusammentreffens mit der fugitive beauté wird wie ein Gewitter inszeniert. Semantisches Umfeld: hurler (primär a.d. Verkehr bezogen), ciel livide où…sich zusammenbrauender Sturm beim Anblick der Passantin, éclair:
Blitz im Moment des Augenkontakts (coup de foudre), nuit: Dunkelheit nach Ver-
lust der Passantin in der Menge
(Exkurs Vers 7: Das Auge als Spiegel der Seele: zum hier dominanten optischen Sinn: direkt: oeil,regard, voir usw.; indirekt: alles, was lyr. Ich „sieht“/beschreibt )
(Köhler): deuil/douleur majestueuse: Warum Trauer? Die düstere Faszination des Todes verstärkt den von der Frau ausgehenden Reiz. Dazu kommt: Frau als Vertreterin des héroïsme moderne de la douleur humaine.
Douceur qui fascine et plaisir qui tue: Affinität von Tod und Liebe = uraltes litera-risches Thema. Douceur und plaisir thematisieren das Erscheinungsbild der gefährlichen Schönheit der in Trauer einherschreitenden Passantin.
(Vers 1-5: La notion de tristesse („grd. deuil“) accompagne pour Baudelaire celle de beauté (Carlier/Dubosclard, S. 114)).
Das lyr. Ich und die Frau:
Crispé comme un extravagant
- vagari: Kytzler/Redemund, Unser tägliches Latein, Mainz 1992, S. 182 (Nr.
1013): umherziehen → extra + vagari (Mittellatein/Frz.): ausschweifen
(extravagant: ausgefallen, ausschweifend)
- extravagant: ingouvernable par la raison (Carlier/IDubosclard, S. 114)
- Weitere Möglichkeit: extravagant als Abweichung vom normalen Weg → d.h.
z.B. durch Rausch (hier nicht aufgrund Drogen/Alkohol, sondern Eros)
- crispé comme un extravagant: „verkrampft wie von Sinnen“, „erotisch elektri-
siert wie von Sinnen“; Weinrich: „Er krampft sich wie ein überspannter Phan-
tast unter dem Zwang der Erscheinung zusammen.“
Weitere latente Signale:
(deuil) – dou / leur - dou / ceur: lautliche Analogie ↔ inhalt. Kontrast
renaître (Geburt) und germer: Beides bedeutet „Entstehen“, aber durch ciel livide und ouragan wird germer negativ konnotiert (→ Todesmetaphorik in „…qui tue“).
Éclair ↔ éternité: Minimum und Maximum an überhaupt denkbarer Zeitdauer
(nuit würde inhaltlich dann dem kursiv gesetzten jamais entsprechen: die unendliche Dauer im Nichts/Dunkel: Also hell ↔ dunkel; ewig ↔ niemals)
(Vgl. hierzu auch die Raummetaphern, die nicht so extrem sind: ailleurs, bien loin d’ici).
Fugitive beauté (Carlier/Dubosclard, S. 116):
a) la femme particulière ( = une beauté) qui passe rapidement (“fugitive”) son chemin: konkret gewordener Eros (vgl. Vers 13: “…où tu fuis“!).
b) l’idée de beauté: das poetologische Moment
Weinrich: „Die Passantin als fugitive beauté ist über die Momentaufnahme ihrer Erscheinung hinaus ewige Allegorie statuarischer Schönheit. So gehört sie der Ver-gänglichkeit und der Unvergänglichkeit zugleich an. Sie ist die Möglichkeit des Wirklichen. Die Masse aber ist für Baudelaire nur die Bedingung ihrer Erscheinung.“
Vers 13: Chiasmus (siehe weiter unten!): „Car j’ignore…“ je / tu --- tu / je: „deux destins croisés et unis dans la fatalité de l’éloignement“ (Carlier/Dubosclard, S. 117).
-C- Zweite Interpretationsebene:
„A une Passante“ als Baudelaires Kunsttheorie u. Ästhetik interpretieren! Ausgangspunkt: „fugitive beauté“ (siehe u.a. Doetsch u. Stierle).
Weitere Interpretationsaspekte:
a) der Schock (s. dazu Walter Benjamin),
b) der Flaneur „ „ „ und der Dandy,
c) die Moderne/la modernité: Bekanntlich beginnt i.d. Literatur die Moderne
im Jahre 1857: im Roman mit Flauberts „Madame Bovary“ und in der Lyrik mit Baudelaires „Les Fleurs du Mal“.
Zur modernité siehe H.R. Jauss, Literarische Tradition und gegenwärtiges
Bewusstsein der Modernität, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation,
Frankfurt 2. Aufl.1970 (e.s. 418, S. 11-66); Hans-Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 93-131.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A une Passante
1 La rue assourdissante autour de moi hurlait.
2 Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
3 Une femme passa, d’une main fastueuse
4 Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;
5 Agile et noble, avec sa jambe de statue.
6 Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
7 Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,
8 La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.
9 Un éclair… puis la nuit! Fugitive beauté
10 Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
11 Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?
12 Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!
13 Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
14 O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!
- - -
I style binaire:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
II Parallelismus und Chiasmus:
Mehrere Zitate zum “style binaire” können auch unter “Parallelismus” gefasst werden.
In besonderer Weise zählen dazu: „la douceur qui fascine // le plaisir qui tue“, „ailleurs, bien loin d’ici! // trop tard! jamais peut-être!“, „j’ignore où tu fuis, // tu ne sais où je vais“ und „O toi que j’eusse aimée, // ô toi qui le savais“.
Als Chiasmus sind zu nennen „grand deuil // douleur majestueuse“ und „j’ ignore … tu... // tu… je vais“. Als ‚phonetischen Chiasmus’ könnte man den ersten Vers bezeichnen: „ rue ….assourdissante // autour hur lait“ (hervorgehoben: Binnenreim).
III Tempora:
Imparfait: hurlait: Zustand / Beschreibung / Hintergrund usw.
buvais: imparfait dynamique (Confais) bzw. imparfait narratif (Klein / Kleineidam)
savais: Zustand
p.simple: passa: (Neueintritt einer) Handlung / Vordergrund
p.composé: le regard m’a fait renaître: Wirkg. bis in die Gegenwart
futur: verrai-je…: Zweifel am Wiedersehen – Verschiebung a.d. Ewigkeit (Jenseits)
présent: germe, fascine, tue: generelle, zeitunabhängige Aussaagen
ignore, fuis, sais, vais: Präsens der lebhaften Vorstellung / Wirkung eines Ereignisses bis in die Gegenwart
plus-que-parfait (subjonctif): j’eusse: Irrealis bzw. Konditionalis i.d. Vergangenheit
IV Zeit u. Raum, Tod u. Leben, akustische u. optische Sinneseindrücke, Bewegung (Dynamik):
ailleurs / loin: Raum, Ferne
puis / soudainement / éternité / tard / jamais: Zeit(-abfolge)
deuil / qui tue ↔ renaître: Tod und Leben
assourdissante / hurlait: den Menschen betäubender Lärm
œil / regard / verrai-je: der Blick, das Sehen
Passante / une femme passa / fugitive…/ tu fuis / je vais: (Fort-)Bewegung
V Dramatische Struktur:
Vers 1: Exposition / Ausgangssituation: lyr. Ich, Großstadt [Paris], Lärm
Vers 2-5: Porträt der schönen Unbekannten
Vers 6-9 (bis „puis la nuit“): Das moi lyrique und seine „Begegnung“ mit der belle inconnue einschl. Wirkung dieser „Begegnung“ („boire…“)
Vers 9-14 (ab „Fugitive beauté“): Fortsetzg. der Wirkung dieser „Begegnung“ („renaître“); appel / apostrophe et dialogue fictifs
VI Reimschema: abba / cddc / efe / fgg[ii]
© KlausBahners
[...]
[i] Die maskuline Form soll beide natürlichen Geschlechter umfassen.
[ii] Wanning, a.a.O., S. 137, schreibt fälschlicherweise: a b b a / c d d c / e f e / g h h. Dadurch würden in „A une Passante“ zwei reimlose Verse (Vers 10 u. 12) entstehen, was in allen 74 Sonetten an keiner Stelle der Fall ist!
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