Auffällige Religiosität: Gebetsheilungen, Besessenheitsfälle und schwärmerische Sekten in katholischen und reformierten Gegenden der Schweiz


Doktorarbeit / Dissertation, 2012

371 Seiten, Note: magna cum laude


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Auffällige Religiosität
1.1.1 Auffällige Religiosität und Devianz
1.1.2 Auffällige Religiosität und religiöser Nonkonformismus
1.1.3 Auffällige Religiosität und persönliche Frömmigkeit
1.1.4 Auffällige Religiosität und Virtuosenspiritualität
1.1.5 Auffällige Religiosität und Volksfrömmigkeit
1.2 Einbettung in die Kulturgeschichte
1.3 Fragestellung
1.4 Forschungsstand
1.4.1 Pietismus, Erweckungsbewegung, religiöser Nonkonformismus
1.4.2 Seherinnen, Stigmatisierte, Wundergläubige, Schwärmer und Besessene
1.4.3 Alltägliche Religiosität
1.4.4 Forschungsdesiderat
1.5 Methode
1.5.1 Untersuchungsraum der Fallbeispiele
1.5.2 Vergleich der Fallbeispiele
1.5.3 Das Prozessmodell «Stigma und Charisma» von Wolfgang Lipp
1.6 Quellen
1.6.1 Archivsituation
1.6.2 Quellenarten
1.7 Aufbau der Arbeit

2 Kirchenpolitik und religiöse Zeitströmungen
2.1 Verhältnis von Staat und Kirche in Luzern, Zürich und St. Gallen
2.1.1 Frühe Neuzeit - Staat und Kirche untrennbar verflochten
2.1.2 Helvetik
2.1.3 Nach 1803 - Ausgeprägtes Staatskirchentum
2.2 Religiöse Zeitströmungen
2.2.1 Katholizismus
2.2.2 Protestantismus
2.2.3 Volksreligiosität
2.2.4 «Religiöser Indifferentismus»

3 32 Fallbeispiele aus Luzern, Zürich, St. Gallen und Nidwalden
3.1 Luzern
3.2 Zürich
3.3 St. Gallen
3.4 Nidwalden
3.5 Ergebnis

4 Auffällige Handlungen religiöser Frauen und Männer
4.1 Systematische Einordnung von auffälliger Religiosität
4.2 Verbotene Schriften lesen
4.2.1 Das Büchlein vom «Heiligen Liebesbund zur Ehre des göttlichen Herzens Jesu»
4.2.2 Die Bekämpfung des Teufels
4.2.3 Das «Menne-Büchlein» über die Sakramentalien
4.2.4 Mystische Schriften
4.2.5 Widerlegung von Predigerworten durch einen Laien
4.2.6 Ergebnis
4.3 Zusammenkünfte abhalten
4.3.1 Die «Herz-Jesu»-Anhängerschaft in St. Gallen
4.3.2 Häusliche Gebetskreise in katholischen Gegenden
4.3.3 Häusliche Gebetskreise in reformierten Gegenden
4.3.4 Ergebnis
4.4 «Wallfahren»
4.4.1 Die «Herz-Jesu»-Anhängerschaft
4.4.2 Die Terziaren
4.4.3 Gingen auch Reformierte auf «Wallfahrten»?
4.4.4 Ergebnis
4.5 Gebetsheilung
4.5.1 Heilen in katholischen Gegenden
4.5.2 Heilen in reformierten Gegenden
4.5.3 Krankheitsverursacher: Dämonen und der Teufel
4.5.4 Heilungshoheit
4.5.5 Ergebnis
4.6 Wiedertaufen
4.6.1 Kindertaufe - Geisttaufe - Glaubenstaufe - Wiedertaufen - Erwachsenentaufen
4.6.2 Zwangstaufe
4.6.3 Bedingnistaufen im katholischen St. Gallen zur Zeit der Helvetischen Republik
4.6.4 Ergebnis
4.7 Besessen sein
4.7.1 Besessenheit als Erklärung für Krankheit
4.7.2 Besessenheit als Sinngebung: Die Frau von Weisstannen
4.7.3 Besessenheit als Auszeichnung: Anna Maria Anderau
4.7.4 Exorzismus: Methode zur Krankenheilung
4.7.5 Gibt es Besessenheit? - Konfrontation verschiedener Lebensanschauungen
4.7.6 Ergebnis
4.8 Visionen empfangen
4.8.1 Visionärinnen mit geistiger Führung
4.8.2 Unabhängige Visionärinnen und Visionäre
4.8.3 Zeitgenössischer Umgang mit dem Phänomen Vision
4.8.4 Ergebnis
4.9 Gewalt anwenden
4.9.1 Körperliche Misshandlung von Susanna Kenzig in Bauma, 1843
4.9.2 Die Tötungen von Elisabetha und Margaretha Peter in Wildensbuch, 1823
4.9.3 Ergebnis
4.10 Zusammenfassung der Ergebnisse
4.10.1 Auffälliges Verhalten
4.10.2 Schuldbewältigung durch informelle Kontrolle
4.10.3 Schuldbewältigung durch formelle Kontrolle
4.10.4 Schuldentlastung
4.10.5 Weltbild: Gottes- und Teufelsvorstellungen
4.10.6 Wer ist zur Bekämpfung von Krankheiten befugt?
4.10.7 Weibliche auffällige Religiosität

5 Auffällig religiöse Personen und ihr Publikum
5.1 Systematische Analyse der Rollen und Strategien
5.2 Margaretha Peter: Geistige Mutter und Blutopfer
5.2.1 Die Botschaft der Liebe Gottes
5.2.2 Die geistige Mutter
5.2.3 Vorbilder
5.2.4 Leiden für Gott statt Gottesliebe
5.2.5 Unglücklich verliebt
5.2.6 Die Geburt
5.2.7 Die Auferstehung
5.2.8 Margaretha Peter: eine charismatische Ekstatikerin
5.3 Philipp Borsinger: Seelsorger und Aufrührer
5.3.1 Der Seelsorger
5.3.2 Der Aufrührer
5.3.3 Philipp Borsinger: Provokateur, Asket und Reumütiger wider Willen
5.4 Die Familie Anderau und der «Heilige Liebesbund»
5.4.1 Anna Maria Anderau: Das Sprachrohr göttlicher Wahrheiten
5.4.2 Joachim Anderau: Der Prädikant, der provoziert
5.4.3 Anna Barbara Anderau: die Wallfahrerin
5.4.4 Der Liebesbund: Eine verschworene Gemeinschaft
5.5 Niklaus Wolf und Dorothea Trudel: Asketische Heilige
5.5.1 Gleiches Gebet in zwei Konfessionen
5.5.2 Gesellschaftliches und religiöses Umfeld
5.5.3 Jesus im Mittelpunkt des Glaubensbekenntnisses
5.5.4 Ausstrahlung auf weitere Bevölkerungskreise
5.5.5 Asketische Heilige
5.6 Medizin versus Gebetsheilung
5.6.1 Die Vorwürfe der Medizinalbehörde
5.6.2 Üble Nachrede
5.6.3 Trudels Gegnerschaft: Ärzte und Medizinalbehörde des Kantons Zürich
5.6.4 Die Behandlung von Geisteskranken
5.6.5 Vor Obergericht
5.7 Der Kampf um Anerkennung als unabhängige religiöse Gemeinschaft
5.7.1 Umgang mit separatistischen Gruppen im Kanton Zürich
5.7.2 Umgang mit separatistischen Gruppierungen im Kanton St. Gallen
5.7.3 Umgang mit separatistischen Gruppierungen im Kanton Luzern
5.8 Unter Schwärmereiverdacht
5.8.1 Die «Herz-Jesu»-Gemeinschaft in der Umgebung der Stadt St. Gallen
5.8.2 Die Terziaren: Sektierer in Ruswil und Wolhusen
5.8.3 Religiöse «Schwärmerei» in der Familie Hartmann in Hohenrain
5.8.4 Margaretha Peter: das Paradebeispiel einer Schwärmerin
5.8.5 Zeitgenössischer Diskurs
5.9 Zusammenfassender Vergleich der Rollen und Strategien
5.9.1 Existentielle Ebene: Ekstase, Provokation und Askese
5.9.2 Soziale und kulturelle Ebenen
5.9.3 Weibliche auffällige Religiosität

6 Schlussbetrachtung
6.1 Kantonsvergleich
6.2 Konfessionsvergleich
6.3 Auffällige Religiosität und die Säkularisierungstheorie
6.4 Weibliche und männliche auffällige Religiosität
6.5 Auffällige Religiosität

7 Abkürzungsverzeichnis

8 Quellen- und Literaturverzeichnis
8.1 Quellen
8.2 Literatur
8.3 Lexika

9 Anhang

1 Einleitung

Würzburg, das unter der Regierung des edeln, frommen und weisen Fürstbischofs Franz Ludwig v.[on] Erthal1 so aufgeklärte Würzburg, wo seither die Pöschelianer2 ihren Sitz hatten und vielen Unfug trieben und von wo der pöbelhafte Heggismus3 ausgieng (sic!), verwandelt sich jetzt auf einmal durch den Zauberschlag eines Bauers Michel von Unterwettinghausen und des berüchtigten Fürsten Hohenlohe, Mitglieds des Vikariats v.[on] Bamberg, in eine Wunderstätte; Lahme gehen, Blinde sehen, Taube hören etc. Seitdem die gelähmte Prinzessin von Schwarzenberg, welche Dr. Heine seit 20 Monaten besorgte, steht und geht, strömten in der Runde von 30 Stunden alle Prest- haften nach Würzburg, um den Segen des Bauern Michel und des Fürsten Hohenlohe zu empfan- gen. Ganz Würzburg ist ein Invalidenhaus geworden.4

Diesen ironischen Bericht widmete der damalige Generalvikar des Bistums Konstanz, Ignaz Heinrich von Wessenberg, seinem Zürcher Freund und Politiker Paul Usteri über die merkwürdigen Ereignisse in Würzburg. Der Bauer und Gebetsheiler Martin Michel (1760 - ?) hatte am 20. Juni 1821 zusammen mit dem Priester Alexander Prinz zu Hohenlohe-Waldenburg- Schillingsfürst (1794 - 1849) für die Heilung der gelähmten Prinzessin Mathilde von Schwarzenberg gebetet, die bereits seit zwei Jahren beim Orthopäden Dr. Johann Georg Heine (1770 - 1838) in Behandlung gewesen war, als ihre ersten Gehversuche als Wunderheilungen von Michel und Hohenlohe bekannt wurden.

Wessenberg kam während seiner Amtszeit als Generalvikar selbst auch in Berührung mit der- artigen auffälligen religiösen Phänomenen. 1802 war er mit der Eindämmung einer «Schwär- merey», die «vorzüglich in einigen Gemeinden des Kantons St. Gallen spukte», beschäftigt gewesen.5 Zudem nannte er 1808 den Kaplan von Spiringen UR Josef Anton Fruenz (1773 - 1812) einen «Wundermann», dem er das Benedizieren untersagen musste, um den Wall- fahrtseifer der Bevölkerung etwas abzukühlen.6 Doch waren diese «Schwärmereyen» keine ureigenen katholischen Phänomene, denn 1824 stellte die Kreuzigung der reformierten «Hei- ligen Margareth» in Wildensbuch im Kanton Zürich für Wessenberg den Anlass dar, sich eingehender mit dem Phänomen der «Schwärmerei» zu befassen.7 Wessenberg und seine Zeitgenossen verstanden unter einem «Schwärmer» einen Menschen, der aus mangelnder Urteils- kraft der christlichen Religion und zuweilen auch der Vernunft widersprechende Meinungen vertrat und dadurch manchmal auch öffentliche Unruhe anrichtete.8 In der Folge schrieb Wes- senberg drei Aufsätze zu diesem Thema, die er 1833 in eine grössere Abhandlung einfliessen liess.9

Der Glaube an das Einwirken übernatürlicher Mächte auf die alltägliche Lebenswelt und an eine unmittelbare göttliche Leitung scheint in den schweizerischen Kantonen und in angren- zenden Gegenden Deutschlands und Österreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts un- gebrochen gewesen zu sein. Dies mutet etwas anachronistisch an, da sich im 19. Jahrhundert inhaltlich aufgrund der Industrialisierung und Modernisierung, Demokratisierung und Natio- nalisierung sowie der Säkularisierung, Verbürgerlichung und Individualisierung einen Um- bruch gegenüber der Tradition vollzog. Akzeptiert man aber, dass scheinbar moderne aufge- klärt-zweckrationale Weltsichten neben vermeintlich vormodernen magisch-religiösen exis- tierten und ineinander griffen, verwandelt sich die im Sinne von Max Weber «entzauberte» in eine «verzauberte» Moderne.10 Obwohl Entkirchlichungsprozesse zu Beginn des 19. Jahrhun- derts unbestreitbar stattfanden, sind sie nicht mit einem Nachlassen der individuellen Religio- sität gleichzusetzen. Religion und Religiosität reichen dementsprechend über Kirche und Kirchlichkeit hinaus. Mit einer Geschichte der Religiosität, die sich mit der Rolle von Religi- on im lebensweltlichen Alltag beschäftigt, können auch die politischen, gesellschaftlichen und individuellen Dimensionen von Religion erfasst werden. Deshalb steht die Bedeutung von Religion für die historischen Subjekte im Mittelpunkt dieser Forschungsarbeit.11

Die beschriebenen Phänomene waren sicher nicht Ausdruck einer alltäglichen Religiosität einer breiten Bevölkerungsschicht. Vielmehr bildeten sie gesellschaftliche Randphänomene, die für kurze Zeit einen grösseren Bekanntheitsgrad erreichten oder über längere Zeit hinweg eine kleine Gruppe von Menschen in ihrem Bann hielten. In dieser Untersuchung werden sie als Phänomene einer «auffälligen Religiosität» bezeichnet.

1.1 Auffällige Religiosität

Die vorliegende Untersuchung umfasst religiöse Phänomene in unterschiedlicher sozialer und kirchlicher Ausprägung: «Sekten», Separatistengruppierungen, Erweckungszirkel, «Neutäu- fer»-Gemeinschaften, Gebetsheilerinnen und -heiler, Visionärinnen und Visionäre sowie vom Teufel besessene Frauen. Für all diese Ausprägungen von Religiosität wird in dieser Untersu- chung der Begriff der «auffälligen Religiosität» benützt. Er umfasst die vielfältigen Übergän- ge von einem Aufsehen erregenden Phänomen, über ein abweichendes bis zu einem stigmati- sierten Verhalten. Der Begriff der «auffälligen Religiosität» wird in der Regel umgangs- sprachlich verwendet. In dieser Untersuchung benennt er historisch beobachtbare Erscheinun- gen, er wird also als phänomenologischer Terminus benutzt. «Auffällige Religiosität» ist ein neutral gehaltener Begriff, der die Grenzen von Norm und Nicht-Norm verschwinden lässt. Er ist religions- bzw. konfessionsungebunden, was sich u.a. auf seine Reichweite auswirkt. Ge- nerell stellt sich die Frage, wem und wie sich Auffälligkeit im religiösen Bereich zeigt. Diese Untersuchung basiert zu einem grossen Teil auf Quellenmaterial aus obrigkeitlichen Archi- ven, weshalb diese Auffälligkeit in den meisten Fällen von staatlicher oder kirchlicher Seite festgestellt wurde. Die Anwendung dieses Begriffs auf historisch beobachtbare Erscheinun- gen erlaubt es zudem, in einer historischen Untersuchung nicht vorschnell mit verwandten soziologischen Termini wie Devianz bzw. Abweichung arbeiten zu müssen. In der Analyse der «auffälligen Religiosität» wird jedoch durchaus auf die soziologische Terminologie zu- rückgegriffen.

1.1.1 Auffällige Religiosität und Devianz

Der Begriff der Devianz wird in der historischen Forschung für Häresien und andere Abwei- chungen von der sozialen oder kulturellen Norm einer Gesellschaft verwendet. Der Begriff stammt jedoch aus der Soziologie und ist deshalb eng mit der modernen Gesellschaft verbun- den. Devianz - oder zu Deutsch abweichendes Verhalten - bezeichnet stigmatisierte Eigen- schaften oder Verhalten, die von einer dominanten Gruppe einer Minderheitengruppe zuge- schrieben oder als Abweichung von gültigen Normen und Wertvorstellungen beurteilt werden.12 Der Begriff der Devianz schliesst - im Gegensatz zum Begriff der auffälligen Religiosität - abweichendes Verhalten aus, das zu keiner gesellschaftlichen Stigmatisierung führt.

1.1.2 Auffällige Religiosität und religiöser Nonkonformismus

In der historischen Forschung wird ebenfalls mit dem allgemeiner gehaltenen Begriff des Nonkonformismus gearbeitet. Ursprünglich war er für die als «nonconformists» oder «dissen- ters» bezeichneten protestantischen Sekten in England benutzt worden.13 Nonkonformismus beschreibt die Nichtübereinstimmung der individuellen Haltung oder entsprechender Hand- lungen mit den allgemein anerkannten Ansichten oder dem vorherrschenden Lebensstil einer Zeitepoche, wobei die Gültigkeit der verletzten Regeln bzw. der Norm von den Betroffenen bestritten wird.14

Thomas Hanimann benützte in seiner 1990 erschienenen Dissertation «Zürcher Nonkonfor- misten im 18. Jahrhundert. Eine Untersuchung zur Geschichte der freien christlichen Gemein- de im Ancien Régime» den Begriff des Nonkonformismus. Er wollte ihn jedoch nicht einfach mit der Separation von der Staatskirche gleichsetzen, sondern zitierte Edward Yoder, der ne- ben der individuellen Haltung auch das soziale Umfeld berücksichtigt. Yoder ist der Ansicht, dass Separation, also ein bestimmtes Mass der Isolation oder Nonkonformität gegenüber der vorherrschenden Umgebung für eine moralische und spirituelle Kultur in allen Zeiten not- wendig gewesen sei.15 Hanimann beschreibt demzufolge Nonkonformismus als Abweichung von der in einem bestimmten Gebiet üblichen Form der Religionsausübung. Generell forder- ten diese Nonkonformisten immer wieder die Freiheit des Kultes und des Bekenntnisses und damit einhergehend eigene organisatorische Strukturen. Hanimann selbst beschäftigte sich in seiner Untersuchung mit Gruppierungen von Täufern, Pietisten und Separatisten, verblieb also im reformierten Bereich.

Das im Herbst 2010 eröffnete Graduiertenkolleg «Religiöser Nonkonformismus und kulturel- le Dynamik» der Universität Leipzig reicht über den reformierten Bereich hinaus.16 Zentrale Forschungsidee ist hierbei, dass religiöser Nonkonformismus ein wesentliches Element des religiösen Feldes und eine potenzielle Ressource alternativer Optionen von Sinndeutung, Wertsetzung und Lebensformen darstellt und damit ein Element kultureller Spannung und Dynamik ist. Das Projekt will diese Spannung zwischen religiösem Nonkonformismus und Konformität untersuchen, dem Potenzial und der Dynamik des religiösen Nonkonformismus nachgehen sowie die soziale Formation, interne Vernetzung und mediale Repräsentation von religiös nonkonformen Gruppen durchleuchten. Das Graduiertenkolleg ist interdisziplinär angelegt und will Forschungen zu religiösem Nonkonformismus in unterschiedlichen geogra- fischen und zeitlichen Räumen zusammenführen. Einzelne der Dissertationsprojekte werden sich mit Themen aus dem islamischen oder dem buddhistischen Kulturraum beschäftigen.

Nonkonformismus wird im Forschungsprogramm des Leipziger Graduiertenkollegs nicht nur als historischer, sondern auch als theoretischer Begriff verwendet. In diesem Sinne wird unter Nonkonformismus eine spezifische Form der Devianz verstanden und kann damit als allgemeines soziales Phänomen betrachtet werden. Der Begriff des religiösen Nonkonformismus wird hier also nicht nur als Klassenbegriff gebraucht, sondern als heuristisches Instrument zur Generierung von Fragestellungen und Hypothesen.

Der Grundannahme des Projekts, «dass nämlich das religiöse und politische Feld als ein dynamisches Geflecht von Relationen zwischen verschiedenen Akteuren zu begreifen ist - Relationen, die durch Interaktion ständig neu arrangiert werden»17, kann auch für die hier vorliegende Untersuchung gutgeheissen werden. Trotzdem wird der Begriff der auffälligen Religiosität beibehalten. Mit auffälliger Religiosität lassen sich nämlich auch historisch beobachtbare Phänomene erfassen, die nicht eindeutig als nonkonform oder deviant eingestuft werden. Explizit zu erwähnen sind hier Praktiken bzw. Denkweisen, die vor allem im katholischen Bereich - aber nicht nur - auffallen, beispielsweise der Teufelsglaube im Zusammenhang mit Besessenheitsfällen oder dem geistigen Heilen.

1.1.3 Auffällige Religiosität und persönliche Frömmigkeit

In Bezug auf auffällige religiöse Einzelpersonen, die weder mit dem Staat noch der Gesell- schaft in Konflikt gerieten, könnte auch der Begriff der persönlichen Frömmigkeit angewandt werden, wie ihn Bernhard Lang einführt.18 Persönliche Frömmigkeit stellt eine Mentalität dar, die der Lebensbewältigung dient. Sie ist gemäss Lang einfach, unreflektiert, populär, diffus tradiert, ohne Regelung. Die Gläubigen zeichnen sich durch ein unerschütterliches Gottver- trauen aus, so dass sie die alltägliche Erfahrung machen, von einem sie liebenden göttlichen Wesen umsorgt zu werden. Dementsprechend wurde das Erbauungsbuch von Thomas von Kempen «Die Nachfolge Christi» (1418) von vielen religiösen Laien gelesen, um ihre persönliche Frömmigkeit zu stärken. Auch Kirchenlieder und die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine unterstützen die persönliche Frömmigkeit.

1.1.4 Auffällige Religiosität und Virtuosenspiritualität

Andere religiös auffällige Personen begnügten sich nicht mit persönlicher Frömmigkeit. Aus diesem Grund wollten sie etwas tun, um dem Ziel der Vollkommenheit und Heiligung näher zu kommen. Demzufolge betrieben sie eine methodische Religiosität, wobei sie sich u.a. selbst erzogen: Des Weiteren wandten sie sich von der menschlichen Lasterhaftigkeit ab und pflegten einen Kult der Innerlichkeit. Lang nennt diese Art von Religiosität Virtuosenspiritualität. Diese ist komplex, anspruchsvoll, elitär, lern- und lehrbar, durch Vorschriften geregelt und kommt in zwei Varianten vor, nämlich einerseits als introvertierte Spiritualität, die kontemplativ ist und bei der man sich von der Welt abwendet, andererseits als extrovertierte, die durch das Dienen in der Welt auf Heiligung zielt.19

1.1.5 Auffällige Religiosität und Volksfrömmigkeit

Manche der religiösen Auffälligkeiten liessen sich ebenfalls dem Bereich der Volksfrömmig- keit zuordnen. Unter Volksfrömmigkeit ist hier «die synkretistische Form des religiösen Den- kens, Empfindens und Handelns von Individuen und Gruppen gemeint, welche die von den offiziellen Kirchen und ihren Amtsträgern vorgegebenen Glaubensinhalte und Praxisformen den eigenen Bedürfnissen anpasst, sie amalgamiert und kreativ umwandelt.»20 Das Konzept der Volksfrömmigkeit ist jedoch umstritten, denn zum einen ist es ideologisch belastet, zum anderen konstruierte die Sozialgeschichte bis in die 1980er-Jahren einen zu starken Gegensatz zwischen Volksreligion und Elitenreligion.21 Heute geht die historische Forschung von einer lebendigen Dynamik und einem intensiven Austausch aus: Die religiösen Laien eigneten sich neue Elemente der Elitenreligion an, wohingegen viele Elitenangehörige traditionellen Vor stellungen und Verhaltensformen der Volksreligion anhingen.22

In der vorliegenden Untersuchung wird der Begriff der auffälligen Religiosität insbesondere deshalb gewählt, weil er neben einer grossen Reichweite auch eine gewisse Neutralität auf- weist, insbesondere deshalb, weil er nicht durch frühere Definitionen besetzt ist. Demzufolge grenzt er nicht gewisse Typen von Religiosität aus, wie dies bei den anderen, oben erläuterten Begriffen der Fall ist. Mit der Verwendung der Bezeichnung auffälliger Religiosität lässt sich m.M. adäquat der Frage nachgehen, welche Arten von Religiosität neben dem «Mainstream» damals in der Gesellschaft zu finden waren. Zudem können mit diesem Begriff interkonfessi- onelle Vergleiche gemacht werden.

1.2 Einbettung in die Kulturgeschichte

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Rolle von Religion im lebensweltlichen Alltag. Sie hat einen kulturgeschichtlichen Fokus und bedient sich eines weiten Kulturbegriffs, wie er auch für die Neue Kulturgeschichte konstitutiv ist. Kultur wird nicht als abgegrenzter Bereich jenseits politischer, ökonomischer und sozialer Handlungsfelder definiert, sondern als Rahmen, innerhalb dessen jegliche Form menschlicher Erfahrung und Tätigkeit zu situieren ist. Zwar herrscht innerhalb der Disziplin eine grosse Vielfalt von Ansätzen, allen gemeinsam ist aber, dass der Mensch selbst im Fokus der historischen Forschung steht. Die Kulturgeschichte zeigt wie historisches Denken, Fühlen und Handeln durch den jeweiligen kulturellen Hintergrund der Akteure beeinflusst ist. Sie geht davon aus, dass Kategorien wie Rasse, Klasse, Nation und Geschlecht keine anthropologischen Konstanten sind, sondern über Diskurse und soziale Praktiken aktiv konstruiert werden.23

Auch der Kultursoziologe Wolfgang Lipp hebt die Handlungsgebundenheit, Konflikthaf- tigkeit und Vieldeutigkeit kultureller Wirklichkeiten hervor. Interessant für die vorliegende Untersuchung ist Lipps Verständnis von Kultur. Hierbei versteht er Kultur insbesondere als Drama, «das eingebettet ist in Phasen der Normalität, des Alltags und der Routine. Sie geht vonstatten als Prozess, der in Schüben der Dramatisierung, des Umschlags und der Läuterung, der Stiftung erneuerten Sinns durch ‚Heroen’ erfolgt.»24 Dramatisches Handeln versucht ge- mäss Lipp in Zeiten von Krisen Sinn zu vermitteln. Drama stellt dadurch die Mächte der alten Ordnung in Frage. Lipp entwickelte in seiner Habilitationsschrift ein Prozessmodell, das gleichzeitig seine Kulturdefinition beinhaltet.25 Dieses Prozessmodell ist insofern für die fol- gende Untersuchung interessant, als dass es für einen phänomenologischen Vergleich der un- terschiedlichen Phänomene von auffälliger Religiosität gewinnbringend sein kann. Lipp schliesst in seinen Überlegungen an Max Webers Arbeiten über Charismatisierungen an.26 Während sich Weber hingegen auf die Auflösungsprozesse von Charisma konzentrierte, un- tersuchte Lipp die Entstehungsprozesse von Charisma, da diese seiner Meinung nach bei We- ber zu wenig Berücksichtigung fanden.

1.3 Fragestellung

Die Quellenbestände dieser Untersuchung werden in staatlichen und kirchlichen Archiven aufbewahrt. Denn auffällige Religiosität kam aus verschiedensten Gründen ins Blickfeld staatlicher und kirchlicher Kontrollinstanzen. Welche gesellschaftlichen Regeln, Konventio- nen und Strukturen verletzten aber auffällig Religiöse mit ihren Handlungen? Gefährdeten sie die gesellschaftliche Norm oder waren sie sogar Mitverursacher des sozialen Wandels? Auffällige Religiosität lässt sich zwar als gesellschaftliches Randphänomen bezeichnen, ihre Träger waren aber zugleich Teil des sozialen und kulturellen Systems, weshalb sie aufgrund ihrer alternativen Formen der Lebensführung und Weltdeutungen die geltenden Normen in Frage stellen konnten.

Ziel ist es zudem, auffällige Religiosität aus mehreren Perspektiven zu betrachten, indem u.a. das Selbstverständnis und das Wirken weltlicher und kirchlicher Behörden sowie einzelner ihrer Vertreter untersucht werden soll. Des Weiteren werden die Rollen gewisser Bevölke- rungsgruppen und der jeweilige Handlungsspielraum, die Strategien sowie der subjektive Umgang mit Ängsten und Wünschen einzelner auffällig religiöser Menschen dargestellt.

In der Forschungsarbeit wird deshalb überprüft, inwieweit die Verletzung, Umdeutung oder Ablehnung religiöser Rituale und Symbole bei auffälliger Religiosität eine Rolle spielte. Denn auffällig religiöse Personen und die Vertreter der Obrigkeiten gingen generell von unter- schiedlichen Religionskonzepten aus. In diesem Zusammenhang entschieden aber immer ein- zelne Persönlichkeiten, die an wichtigen Schaltstellen sassen, aufgrund ihres eigenen Religi- onskonzeptes, ob auffällige Religiosität akzeptiert, integriert oder bekämpft wurde. Des Wei- teren ist die Frage nach der Rolle sowie der Stellung des «Teufels» im jeweiligen Religions- konzept von Interesse. Hier schliesst sich zudem die Frage an, ob auffällige Religiosität des 19. Jahrhunderts an Traditionen der vorigen Jahrhunderte anschliesst, ob also beispielsweise Magie, Hexerei oder andere «häretische» Traditionen weitergeführt oder neu aufgenommen wurden.

Die Frage nach den Motiven von religiös auffälligen Personen erscheint facettenreich: Gab es ausserreligiöse Motive, welche die Menschen anspornten, ihren eingeschlagenen Weg weiterzugehen? Inwieweit war das soziale Milieu der religiös auffälligen Personen relevant? Ferner spielt die Geschlechterfrage hierbei eine Rolle, da bei den meisten Fällen von auffälliger Religiosität Frauen involviert waren, in einigen gar in einer Führungsposition.

Da auffällige Religiosität sowohl in katholischen als auch in reformierten Gegenden vorkam, sind die Motivationen und Praktiken der Betroffenen derart analysiert worden, dass - aus Gründen der Vergleichbarkeit - einerseits konfessionsgebundene kulturelle Praktiken ausser Acht gelassen wurden. Andererseits führte dies dazu, Vergleiche zwischen der auffälligen Religiosität von Gläubigen in katholischen, reformierten und paritätischen Gegenden ziehen zu können. Zudem wird der Frage nachgegangen, wie die zu untersuchenden religiös auffälligen Phänomene gegenüber übergeordneten Forschungsthesen wie der Säkularisierungstheorie oder des zweiten konfessionellen Zeitalters einzuordnen sind.27

1.4 Forschungsstand

Zu auffälliger Religiosität existiert keine Literatur, da der Begriff bisher in der Forschung nicht verwendet wurde. Dementsprechend wurden die einzelnen religiösen Phänomene in ganz verschiedenen Forschungszusammenhängen erfasst und untersucht. Die folgenden Ausführungen geben einen kurzen Überblick über die neuesten Publikationen, die «auffällige Religiosität» in unterschiedlichen Forschungsbereichen berücksichtigen.

1.4.1 Pietismus, Erweckungsbewegung, religiöser Nonkonformismus

Ein Teil der Phänomene auffälliger Religiosität stammen aus protestantischen Gegenden und können in die aus dem Pietismus entstandene Erweckungsbewegung eingebettet werden. Das Standardwerk zu Pietismus, zur Erweckungsbewegung, zum religiösen Nonkonformismus sowie zum christlichen Fundamentalismus bildet die vierbändige «Geschichte des Pietismus», gesamthaft herausgegeben von Martin Brecht. Die einzelnen Bände erschienen in den Jahren zwischen 1993 und 2004.28 Der Herausgeber weitet den Begriff des Pietismus dermassen aus, dass er ihn in Bezug auf die konventionelle Datierung (üblicherweise im 17. - 18. Jahrhun- dert) als Ausdruck einer historischen Erscheinung sowohl früher ansetzt als auch dessen zeit- liche Dauer ausdehnt. Die Bände umfassen deshalb pietistische Phänomene aus Deutschland, England, den Niederlanden, der Schweiz, Skandinavien, Osteuropa und den Vereinigten Staa- ten und verfolgen deren Entwicklung bis in die Gegenwart. Des Weiteren beschränkt sich das Handbuch nicht auf den protestantischen Raum, sondern berücksichtigt auch pietistische Phä- nomene aus katholischen Gegenden, wie beispielsweise die Allgäuer Erweckungsbewegung am Ende des 18. Jahrhunderts. Für die vorliegende Untersuchung erwies sich einerseits vor allem der dritte Band über den «Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert»29 als relevant, der im Jahr 2000 von Ulrich Gäbler herausgegeben wurde, andererseits der 2004 von Hartmut Lehmann herausgegebene vierte und letzte Band über pietistische Glaubens- und Lebenswelten, der sich mit der besonderen Wirkung pietistischen Denkens und Handelns in ausgewählten Lebensbereichen befasst.30

Von Hartmut Lehmann, dem renommierten Pietismusforscher, erschienen in den letzten Jah- ren mehrere Publikationen und zahlreiche Sammelbände, die sich mit dem Pietismus bzw. der Erweckungsbewegung und religiöser Gemeinschaftsbildung im 19. Jahrhundert befassen oder die Säkularisierungsthese hinterfragen.31 Hierbei untersucht Lehmann die Entwicklung des Religiösen in der modernen Welt, wobei er in seinen neueren Arbeiten die eurozentrisch verengte Perspektive zu überwinden sucht.32 Der Umgang religiöser Personen mit den durch die Säkularisierung hervorgebrachten Entwicklungen bildet Thema zahlreicher Untersuchungen. Beispielsweise ist der von Fred von Lieburg 2008 herausgegebene Band «Pietism, revivalism and modernity 1650 - 1850» dem Bemühen gewidmet, wie Pietismus und Erweckungsbewe- gungen den Säkularisationstendenzen der modernen Welt widerstehen wollten.33 Auch Thomas K. Kuhns theologische Habilitationsschrift «Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungs- bewegung» stellt die Frage nach der Rolle der Religion und ihrem Beitrag zum Prozess der Modernisierung in der Neuzeit. Deshalb überprüfte er religiöse Ausdrucksformen, wie sie im Pietismus, der Aufklärung und den Erweckungsbewegungen manifest wurden, auf Kontinuitä- ten und Diskontinuitäten hin.34 Ulrike Gleixner untersuchte in ihrem Buch «Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit» die kulturelle Dimension von Religion im württembergischen Pietismus des 18. und 19. Jahrhunderts.35 Sie arbeitete haupt- sächlich mit autobiografischem und biographischem Schrifttum, wobei sie u.a. die weibliche Quellenproduktion einbezog. Gleixner gab 2007 ausserdem den Sammelband «Gendering tradition» heraus, der sich mit den Rollen von Frauen in der protestantischen Frömmigkeits- bewegung beschäftigt. Die Beiträge von Marianne Jehle-Wildberger, Elisabeth Joris und Els- beth Hebeisen untersuchten die Rolle von Anna Schlatter-Bernet bzw. Dorothea Trudel inner- halb des schweizerischen Pietismus bzw. der Erweckungsbewegung und diejenige der Frauen in der deutschen Christentumsgemeinschaft.36 Erika Hebeisen publizierte 2005 ihre Disserta- tion «leidenschaftlich fromm. Die pietistische Bewegung in Basel 1750 - 1830», die der Frage nachging, wie man in der Stadt Basel im Zeitalter der Aufklärung zur Pietistin bzw. zum Pie- tisten wurde und wie sich Frömmigkeit über Generationen verbreitete. Dabei legte sie ihr Au- genmerk u.a. auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede im religiösen Leben.37 Ebenfalls zum Themenbereich pietistisches Basel erschien 2002 der von Thomas K. Kuhn herausgege- bene Tagungsband «Das "Fromme Basel". Religion in einer Stadt des 19. Jahrhunderts».38

Neuere Forschungsliteratur zum schweizerischen Pietismus bzw. zu den Erweckungsbewegungen liegt ebenfalls aus anderen Teilen der Schweiz vor. Christine Stuber zog in ihrer 2002 erschienenen theologischen Dissertation «Eine fröhliche Zeit der Erweckung für viele. Quel- lenstudien zur Erweckungsbewegung in Bern 1818 - 1831» neues Quellenmaterial bei, konnte aber auch auf Vorarbeiten von Rudolf Dellsperger zurückgreifen.39 Das neueste Werk zum zürcherischen Pietismus von Kaspar Bütikofer ist dem frühen Pietismus (17. und 18. Jahrhun- dert) gewidmet.40 Chronologisch schliesst hier Thomas Hanimanns theologische Dissertation von 1990 zu den Zürcher Nonkonformisten des 18. Jahrhunderts an. Hanimann interessierte sich allgemein für nonkonformistische Religiosität täuferischen und pietistischen Ursprungs.41 Zur Zürcher Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts sind neuere, kleinere Arbeiten des Zürcher Theologieprofessors Jürgen J. Seidel erschienen, in denen er sich mit Dorothea Tru- del und dem Führer der Zürcher «Neugläubigen» , Carl Joseph de Campagne, befasste.42 Sei- del schrieb zudem eine Studie über die Anfänge des Pietismus in Graubünden, wobei er ins- besondere die grossen pietistischen Pfarrer, ihre Glaubenssysteme und ihr Verhältnis zur Kir- che berücksichtigte.43 Der St. Galler Pietismus wird in erster Linie von einer Frau repräsen- tiert: Anna Schlatter-Bernet (1773 - 1826). Sie war gemäss Marianne Jehle eine resolute und eigenständig denkende Pietistin mit internationalen Kontakten, u.a. auch zu katholischen Ver- tretern der Erweckungsbewegung. Von Seiten ihrer männlichen Bewunderer kam es nach ihrem Tod zu einer Stilisierung, ja Hagiographisierung ihrer Person.44 Eine weitere Frau aus dem Umkreis der Erweckungsbewegung ist an dieser Stelle zu erwähnen, nämlich die balti- sche Baronin Juliane Barbara von Krüdener (1764 - 1824), die während der Hungerjahre 1816/1817 durch die Schweiz reiste und viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Christine Nöthi- ger-Strahm publizierte mehrere Aufsätze über diese faszinierende Persönlichkeit.45

Aus der älteren Pietismusforschung ist die 1901 erschienene detailreiche «Geschichte des Pietismus in den schweizerischen reformierten Kirchen» des der pietistischen Tradition nahe stehenden Könizer Pfarrers Wilhelm Hadorn zu erwähnen. Hadorn widmete das vierte Buch als fast hundertseitiges Kapitel dem Pietismus im 19. Jahrhundert. Darin handelt er auch Phä- nomene auffälliger Religiosität ab, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen.46 Ferner gibt Paul Wernles «Geschichte des schweizerischen Protestantismus im 18. Jahrhundert» von 1923 einen guten ersten Überblick.47

1.4.2 Seherinnen, Stigmatisierte, Wundergläubige, Schwärmer und Besessene

Auffällig religiöse Phänomene aus dem katholischen Bereich summiert Irmtraud Götz von Olenhusen in ihrem 1995 herausgegebenen Sammelband unter den Begriff «wunderbare Erscheinungen».48 Damit deckt sie ein ganzes Spektrum von auffälliger Religiosität ab, so dass sich die Autorinnen und Autoren des Bandes u.a. mit Seherinnen und Stigmatisierten49, mit fundamentalistischen Bewegungen im Katholizismus50, mit Marienerscheinungen51 sowie der spezifischen weiblichen Religiosität im 19. Jahrhundert beschäftigten.52 Ziel des Bandes war es, den Zusammenhang von Moderne, traditioneller Volksfrömmigkeit und weiblicher Religiosität im 19. und 20. Jahrhundert aufzuzeigen. Das Festhalten am Wunderglauben und an Stigmatisationen wird als Zeichen der Resistenz einer katholischen Subkultur gesehen, die sich gegen die sich entwickelnde Industriegesellschaft auflehnte.

Die österreichische Historikerin Edith Saurer publizierte 1995 in ihrem Sammelband «Die Religion der Geschlechter» Artikel zu religiösen Mentalitäten im Katholizismus, insbesondere was die Geschlechterbeziehungen anging. Saurer selber untersuchte eine kleine katholische Erweckungsbewegung in Österreich, wobei sie den Einfluss von Lektüre, sozialen Netzwer- ken und sozialer Unruhe aufzeigt.53 Die Mystik dieses dargestellten Urhebers, der katholische Priester Thomas Pöschl (1769 - 1837), wurde von den Ideen von Martin Boss, dem Führer der Allgäuer Erweckungsbewegung, beeinflusst. Pöschl selbst entwickelte eine Teufelslehre, bei der er sich von Offenbarungen einer religiösen Freundin, Magdalena Sickinger, leiten liess.

In den folgenden Jahren erschienen zwei Sammelbände, die das Phänomen von auffälliger Religiosität über die Konfessionsgrenzen hinaus darstellen. Nils Freytag und Diethard Sawicki warfen in ihrem 2006 erschienenen Sammelband «Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne» die These von der «verzauberten Moderne» auf, um das «Nebenei- nander und Ineinandergreifen vermeintlich vormoderner, magisch-religiöser und scheinbar moderner aufgeklärt-zweckrationaler Weltsichten»54 aufzuzeigen.55 Der ebenfalls 2006 er- schienene Sammelband «Anfechtungen der Vernunft. Wunder und Wunderglaube in der Neu- zeit»56 beschäftigt sich mit dem europäischen Wunderglauben zwischen früher Neuzeit und Moderne. Dessen Beiträge gehen dem Verhältnis von Wunder und Natur nach, dem Wunder im Zusammenhang mit Exotismus, dem Wunder in der Zeit der Aufklärung und schliesst mit drei Beiträgen zum Wunder in der Moderne ab. Der Beitrag von Martin Tabaczek «Wunder, Wahnsinn und Schwärmerey in den Erweckungsbewegungen Minden-Ravenbergs im 19. Jahrhundert»57 zeigt die Ähnlichkeiten zwischen den ostwestfälischen Erweckungsbewegun- gen, dem württembergischen Pietismus und dem Katholizismus um 1850 auf. Tabaczek er- achtet diese Parallelen als Reaktion auf die verspätete Modernisierung der deutschen Provinz, was eine interessante These - u.a. auch für die vorliegende Untersuchung - darstellt.

Zu einzelnen Phänomenen auffälliger Religiosität sind einige Fallstudien erschienen. David Blackbourn schrieb zum Marienkult im saarländischen Dorf Marpingen eine beeindruckende Monografie. Die sich 1876 ereignete Marienerscheinung zog in der Folge zahlreiche Pilger an, so dass sich der preussische Staatsapparat veranlasst sah einzugreifen. Blackbourn machte anhand seiner Untersuchung sichtbar, wie Soziales, Politisches und Kulturelles ineinander- greifen.58

Nicole Priesching verfasste ihre theologische Dissertation über das Phänomen der stigmati- sierten Jungfrau Maria von Mörl (1812 - 1868). In den 1830er-Jahren bildete von Mörl das Ziel zahlreicher wallfahrender Gläubigen. Priesching arbeitete Maria von Mörls Bedeutung für die Frömmigkeit des Katholizismus des 19. Jahrhunderts heraus.59 Von Mörl stand in per- sönlichem sowie in brieflichem Kontakt mit einer weiteren Stigmatikerin, Louise Beck (1822 - 1879) aus Gars (Altötting), die über ihre Beichtväter kirchenpolitisch wirkte.60 Bern- hard Gissibl stellte in seiner Magisterarbeit «wunderbare Erscheinungen» in mehreren ober- bayerischen Dörfern der 1840er-Jahre dar, wo Frauen u.a. in religiöse Ekstase verfielen, Visi- onen hatten oder Blut schwitzten. Gissibl untersuchte die Reaktionen der massgebenden kirchlichen und staatlichen Kreise sowie von Vertretern der sich etablierenden Medizin und setzte die Ereignisse in den weiteren kirchenpolitischen Kontext.61 Die stigmatisierte Anna Katharina Emmerick (1774 - 1824) blieb im öffentlichen Gedächtnis, weil der Dichter Cle- mens Brentano ihre Visionen aufzeichnete.62 Elke Pahud de Mortanges verfasste über eine schweizerische stigmatisierte Jungfrau aus dem Kanton Freiburg, Marguerite Bays (1815 - 1879) aus La Pierraz FR, einen Artikel, worin sie die frommen Frauen im 19. Jahr- hundert in zwei Typen unterschied, nämlich in diejenige der marianischen Seherin sowie die- jenige der stigmatisierten Jungfrau.63

Die Aktivitäten der badischen Landpfarrer Ambros Oschwald (1801 - 1873), Karl Franz Xaver Lans (1809 - 1877) und Karl Joseph Rolfus (1819 - 1907) wurden von Hubert Treiber, Irmtraud Götz von Olenhusen und Brigitte Degler-Spengler in verschiedenen Sammelband- beiträgen dargestellt.64 Diese drei Pfarrer hatten weibliche Anhängerinnen um sich geschart und vermittelten als charismatische Führungspersönlichkeiten eine fundamentalistische Frömmigkeit. Eine Anzahl unverheirateter, jüngerer Frauen aus dem Gefolge der drei Pfarrer begaben sich - als eine Art Orden - auf den Steinerberg im Kanton Schwyz, weil hier kein Ordensverbot herrschte. Wenn katholische Frauen ohne Vermittlung von Männern religiös aktiv sein wollten, waren sie im 19. Jahrhundert auf Wunder oder zumindest wunderbare Er- scheinungen angewiesen, wie dies die These von Irmtraud Götz von Olenhusen besagt. Eine der Schwestern vom Steinerberg, Theresia Städele, wurde 1849 wegen Simulierens von Blut- schwitzen als Betrügerin zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.65

Neben den stigmatisierten Jungfrauen und den Seherinnen existierten im 19. Jahrhundert Fälle von teuflischer Besessenheit, die teilweise mit den erstgenannten religiösen Phänomenen ein- hergingen. Von den neueren Publikationen ist der 2005 erschienene interdisziplinäre Sam- melband von Hans de Waardt zu erwähnen, der Studien zur dämonischen Besessenheit vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert enthält.66 Über die Teufelsaustreibungen und Gebetsheilun- gen des evangelischen Pfarrers Johann Christoph Blumhardt (1805 - 1880) ab den 1840er- Jahren existiert eine grosse Literaturfülle. Dieter Ising hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dieser herausragenden Persönlichkeit beschäftigt und 2002 eine umfassende Biografie publiziert.67 Nils Freytag beschäftigt sich mit dem allgegenwärtigen Teufelsglauben in der preussischen Rheinprovinz.68 Judith Devlin zählt in ihrer Publikation «The superstitious mind» von 1987 eine grosse Anzahl französischer Besessenheitsfälle aus dem 19. und 20. Jahrhundert auf.69 Das Besessenheitsphänomen beschäftigt auch im 20. und 21. Jahrhundert religiöse Menschen, was verschiedene Publikationen, beispielsweise die 2004 erschienene Studie von Ute Leimgruber «Kein Abschied vom Teufel. Eine Untersuchung zur gegenwärti- gen Rede vom Teufel im Volk Gottes», bezeugen.70

Phänomene auffälliger Religiosität wurden im 19. Jahrhundert immer auch unter dem Begriff der «Schwärmerei» subsumiert. Zwei neuere Publikationen führen diesen Begriff gar im Titel, nämlich Christoph Ribbats «Religiöse Erregung. Protestantische Schwärmer im Kaiser- reich»71 von 1996, worin der exaltierten Religiosität in freien religiösen Gemeinschaften (Heilsarmee, Methodisten, Apostoliker, Pfingstbewegung), die vornehmlich aus dem angel- sächsischen Raum stammten und seit Mitte des 19. Jahrhundert nach Europa einströmten, Rechnung getragen wird. Anne Conrad dagegen untersucht in ihrem 2008 erschienenen Band «Rationalismus und Schwärmerei». Studien zur Religiosität und Sinndeutung in der Spätauf- klärung» das Milieu der aufgeklärten Bildungselite Deutschlands im späten 18. Jahrhundert72, worin sie die These aufstellt, dass die Aufklärung «mit Religion nicht abgeschlossen, sondern ihr eine neue Wendung gegeben» habe.73 Generell beschäftigt sie sich mit der Verschmelzung konfessionell geprägter Religion und esoterischen Denktraditionen. Schutzgeister und Geisterseher bildeten damalige attraktive Diskussionsthemen und zeigten die Abkehr von kirchlichen Autoritäten sowie den spielerischen Umgang mit religiösen Inhalten.74 Zu den esoterischen Themen, wie Geisterglauben und Spiritismus, erschienen in den letzen Jahren zahlreiche Publikationen.75 Die esoterische Religiosität ist jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit, obwohl es hierbei unweigerlich zu Überschneidungen kommt.

1.4.3 Alltägliche Religiosität

Auffällige Religiosität wurzelt selbstverständlich in der alltäglichen Religiosität. In den letz- ten Jahren wurden mehrere Werke publiziert, die sich mit der alltäglichen Religiosität im Dorf und in der Stadt im 19. Jahrhundert auseinandersetzen. Die Dissertation von Tobias Dietrich «Konfession im Dorf. Westeuropäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert» untersucht das Zu- sammenleben der Konfessionen in paritätischen Gemeinden aus drei unterschiedlichen ländli- chen Regionen, wobei Dietrich zeigen kann, dass Konfession zwar ein wichtiger Faktor im Leben der Dorfbewohner darstellte, aber von konfessionellen Sozialmilieus auf dörflicher Ebene nicht gesprochen werden kann.76 Ländlicher Aberglaube thematisiert Eva Labouvie in ihrer Dissertationsschrift von 1992 «Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglau- be in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16. - 19. Jahrhundert)».77 Wie sich katholische Frömmigkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausdrückt, zeigt Norbert Busch anhand seiner Studie zum «Herz-Jesu»-Kult in Deutschland.78 Andreas J. Kotulla thematisiert in seiner 2006 erschienenen Dissertation, wie sich das religiös auffällige Phänomen einer Mariener- scheinung im französischen Lourdes zu einem europaweiten, hier im speziellen deutschen Wallfahrtsziel entwickelte, was insbesondere unter den Vorzeichen der im ultramontanen Ka- tholizismus erstarkten Marienfrömmigkeit und des preussisch-deutschen Kulturkampfes stand.79

Die Untersuchungen zur Religiosität im 19. Jahrhundert fragen immer wieder nach dem Um- gang des religiösen Menschen mit den durch die Säkularisierung hervorgebrachten Entwick- lungen resp. mit den Prozessen der Modernisierung. Im Zusammenhang mit der aufkommenden Moderne stellt sich die Frage, wie sich die traditionelle Volksfrömmigkeit bzw. die überkommenen religiösen Mentalitäten dazu verhielten. In verschiedenen Studien liess sich zei- gen, wie Soziales, Politisches und Kulturelles sowie Religiöses ineinander übergriffen. Des Weiteren wurde u.a. nach den Ähnlichkeiten zwischen Erweckungsbewegungen, Pietismus und Katholizismus gefragt oder nach dem Zusammenleben der Konfessionen innerhalb dörf- licher oder städtischer Strukturen. Mit der Aufklärung verschmolzen esoterische Denktraditi- onen mit der ehemals konfessionell geprägten Religion. Untersucht wurde ferner die spezi- fisch weibliche Religiosität im 19. Jahrhundert, beispielsweise inwieweit sich katholische Frömmigkeit angesichts von Marienerscheinungen und stigmatisierten Jungfrauen feminisier- te.

1.4.4 Forschungsdesiderat

Die oben erwähnten Forschungen beschäftigen sich alle - wenn auch bisweilen nur am Rande - mit Phänomenen «auffälliger Religiosität». Die vorliegende Untersuchung hingegen möchte «auffällige Religiosität» als einen wichtigen Bestandteil innerhalb des gesamten religiösen Feldes betrachten. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt auf den alternativen Möglichkeiten, die sich aus «auffälliger Religiosität» ergeben und die für die Gesellschaft - in Bezug auf neue Sinndeutungen und Lebensformen - relevant wurden. Generell brachte «auffällige Religiosität» oftmals kulturelle Spannung und Dynamik ins gesellschaftliche Geschehen. Zudem liegen mit dieser Untersuchung erstmals - wenigstens für den deutschsprachigen Raum - Phänomene «auffälliger Religiosität» in einer systematischen Sammlung, nämlich über drei Kantone der katholischen sowie protestantischen Konfessionen während eines Zeitraum von fünfzig Jahren, zur Analyse und zum Vergleich vor.

1.5 Methode

1.5.1 Untersuchungsraum der Fallbeispiele

In methodischer Hinsicht wird in dieser Untersuchung mit Fallbeispielen gearbeitet, die mög- lichst umfassend in ihren jeweiligen historischen Kontext eingebettet sind. Die Fallbeispiele wurden aus Quellenmaterial von staatlichen und kirchlichen Archiven einerseits der konfessi- onell homogenen Kantone Luzern und Zürich und andererseits dem paritätischen Kanton St. Gallen mit der reformierten Stadt und dem mehrheitlich katholischen Land geschöpft. Diese drei Kantone sind sich - mit Ausnahme ihrer unterschiedlichen Konfessionszugehörigkeit bzw. Zusammensetzung - strukturell sehr ähnlich. Luzern und Zürich waren städtische Hauptorte, die ehemaliges Untertanenland zentralistisch verwalteten. Die Fürstabtei St. Gallen herrschte in ähnlicher Weise über ihre weitläufigen Ländereien.

Die Fallbeispiele sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts situiert, in manchen Fällen werden zudem die 1790er-Jahre sowie die 1860er-Jahre hinzugezogen. Bereits im 18. Jahr- hundert finden sich etliche Fälle von «auffälliger Religiosität», doch haben diese - zumindest in den katholischen Gegenden - einen anderen Hintergrund. So finden sich in den staatlichen Archiven beispielsweise zahlreiche Akten über Untersuchungen wegen Verdachts auf «Lu- therthum» oder solche in Bezug auf Geister- und Teufelsbeschwörungen. Verfolgungen von Wiedertäufern im bernischen Emmental zu Beginn des 18. Jahrhunderts zeigten Auswirkun- gen auf das benachbarte Entlebuch, das einige Wiedertäufer als Zufluchtsort benützten. Des Weiteren existierten in reformierten Gegenden im 18. Jahrhundert gewisse pietistische Kon- ventikel, deren Nonkonformität u.a. den Ursprung für die Erweckungsbewegung des 19. Jahr- hunderts legte. Doch mit dem Untergang des Ancien Régimes brach eine neue Zeit an: Politi- sche Umwälzungen, Säkularisierung und Industrialisierung bewirkten die Entstehung des neuen bürgerlichen Zeitalters. 1798 steht somit für neue politische und kirchenpolitische Ver- hältnisse. Der Pietismusforscher Hartmut Lehmann teilte den damaligen Säkularisierungsvor- gang in drei Etappen ein. Dementsprechend können die Fälle von auffälliger Religiosität im Zusammenhang mit der Reaktion auf die erste Säkularisierungsetappe von 1789 - 1815 ver- standen werden. Lehmann datierte diese Reaktion bis ins Jahr 1848.80 Ferner zeigte das Quel- lenstudium, dass sich auffällige Religiosität ab Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte. Zum einen etablierte sich in der katholischen Kirche der Ultramontanismus, so dass bestimmte Formen von auffälliger Religiosität ihren Platz innerhalb der katholischen Kirche fanden. Als Eckdatum kann hier die Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mari- ens im Jahre 1854 durch Papst Pius IX. genommen werden. Die damit verbundenen Mariener- scheinungen erfuhren somit eine vermehrte Integration von auffälliger Religiosität in die ka- tholische Kirche. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die Erscheinungen einer weiss geklei- deten Frau in Lourdes im Jahr 1858, die sich Bernadette Soubirous als «unbefleckte Emp- fängnis» offenbarte. Zum anderen veränderte sich ab der Jahrhundertmitte die protestantische Erweckungsbewegung, denn immer mehr angelsächsische Freikirchen suchten und fanden ihre Anhängerinnen und Anhänger auch in der Schweiz. Beispielsweise wurde bereits 1847 die erste Schweizer Baptistengemeinde in Ebnat-Kappel im st. gallischen Toggenburg gegründet. 1854 wies der Kanton Zürich zwei aus den USA bzw. England stammende Mormonenprediger aus. 1857 fand eine Mormonenversammlung in einem Privathaus in Oberhelfen- schwil statt. Ähnliches kann über die Methodisten aus den Quellen entnommen werden. 1858 wurde ein amerikanischer Methodistenprediger aus der Gemeinde Horgen ausgewiesen. 1865 fanden Versammlungen der Methodistischen Missionsgesellschaft in Rheineck statt.81 Das Quellenmaterial enthielt auch Fälle von auffälliger Religiosität nach 1850. Auf reformierter Seite seien auf die Gebetesheilungen von Dorothea Trudel in Männedorf verwiesen, die sich in den 1850er- und frühen 1860er-Jahre ereigneten und in dieser Untersuchung ausführlich analysiert werden. Auch in katholischen Gegenden gab es Berichte nach 1850 über Wunder- erscheinungen und Sektierer einheimischer Provenienz, wobei einige davon in diese Untersu- chung Eingang fanden.82 Zusätzlich wurden zwei Fälle aus dem Kanton Nidwalden beigezo- gen, da sie die anderen Fälle mit ihrer Detailfülle hervorragend ergänzten.

1.5.2 Vergleich der Fallbeispiele

Die Fallbeispiele stellen eine sehr heterogene Quellenbasis dar, die sich kaum eins zu eins vergleichen lässt. Dementsprechend kann eine quantitative Analyse nur in einem sehr beschränkten Ausmass vorgenommen werden, wohingegen eine qualitative Analyse möglich erscheint, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Fallbeispiele innerhalb der drei Kantone bzw. der zwei Konfessionen aufzeigt und miteinander vergleicht. Denn dadurch werden Begriffe, Bilder oder Konzepte bezüglich ihrer Verwendung durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verständlich .83

Mit Hilfe von soziologischen Aspekten soll die Analyse der Fallbeispiele noch vertieft wer- den. Wie Abbildung 1 unten zeigt, ergibt sich generell in jedem Fallbeispiel eine Konstellati- on, die sich anhand des folgenden Modells schematisch als Kommunikationssituation darstel- len lässt. Als Grundlage dient hierbei das von Karl Bühler 1934 entwickelte Organon- Modell84, um die Kommunikationssituation der Beteiligten schematisch folgendermassen dar- zustellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Kommunikative Situation bei auffälliger Religiosität

Bei dieser Darstellung figurieren die Akteurinnen und Akteure auffälliger Religiosität als Sendende, die Gesellschaft resp. ihre jeweiligen Vertreter - sei dies die Obrigkeit, kirchliche Vertreter oder die Bevölkerung - als Empfangende sowie als Botschaft die Handlung(en) resp. das Thema der auffälligen Religiosität. Gleichzeitig werden die gesellschaftlichen Ver- treterinnen und Vertreter zu Sendenden, wenn sie die Tat der Akteurin oder des Akteurs als deren Schuld proklamieren. Auf dieser Grundlage lässt sich meines Erachtens auch ein Ver- gleich zwischen den einzelnen Fallbeispielen ziehen. Denn diese werden in dieser Untersu- chung nicht isoliert als Einzelphänomene betrachtet, sondern als gesellschaftliche Dramen innerhalb einer jeweils spezifischen Kommunikationssituation. Mit Hilfe der Handlungstypen aus dem Prozessmodell «Stigma und Charisma» von Wolfgang Lipp wird zusätzliche eine Kategorisierung ihrer Handlungs- und Denkweisen vorgenommen.

1.5.3 Das Prozessmodell «Stigma und Charisma» von Wolfgang Lipp

Wolfgang Lipp weist darauf hin, dass charismatische Führerfiguren oft aus marginalisierten gesellschaftlichen Kreisen stammen. Die These seiner Habilitation «Stigma und Charisma» stellte deshalb eine Beziehung zwischen den beiden Kategorien her, die er mit dem Struktur- begriff der Selbststigmatisierung ausfüllte.85 Selbststigmatisierung stellte sich als wirkungsvolle Strategie dar, um soziale Wert- und Würdefelder wiederzuerlangen. Damit nahm Lipp an, eine entscheidende Ursache für Charismatisierung gefunden zu haben.

Im Folgenden werden die drei zentralen Begriffe aus Lipps Konzept, nämlich «Stigma», «Selbststigmatisierung», «Charisma», kurz erläutert, ebenso seine übergeordnete Kategorie des «Dramas». Am Schluss folgt ein kurzer Überblick zur Rezeption des Prozessmodells «Stigma und Charisma», der mit den relevanten Punkten, die für den Einbezug dieses Modells in die vorliegende Untersuchung sprechen, beendet wird.

‚Stigma’

Die Kategorie ‚Stigma‘ bezieht sich auf Abweichungen im Sinne «eines schuldhaften, also ächtungs- und strafwürdigen Verhaltens, das nicht urwüchsig entstanden ist, sondern in Ge- sellschaft und Kultur erst konstruiert wird.»86 Die Aussenseiterin oder der Aussenseiter ver- hält sich auffällig oder weist Schwächen, Mängel oder soziale «Defekte» auf. Stigmata bilden hier Zeichen sozialer Schuld, die durch Prozesse sozialer Zuschreibung entstehen. Stigma, wie es hier definiert wird, ist also zu unterscheiden von den körperlichen Wundmalen, die manche Menschen in Anlehnung an die Verletzungen Jesu Christi während der Passion am Körper tragen.

Selbststigmatisierung

Stigmatisierte wenden verschiedene Strategien an, um mit der sozialen Schuldzuschreibung fertig zu werden. Eine davon stellt die Selbststigmatisierung dar . Sie ist eine wirkungsvolle Strategie paradoxer, öffentlicher Selbstanklage. Ziel ist die Wiedergewinnung sozialer und personaler Integrität, der Selbstachtung und Identität. Selbststigmatisiererinnen und - stigmatisierer schreiben sich selber, noch bevor es die Gesellschaft tut, Schuld zu und setzen so den Gegner unter Druck. Diese Strategie schafft eine Lage, die die beteiligten Gruppen sowie die involvierte Öffentlichkeit dazu bringen kann, Routinenormen distanzierter zu be- trachten und ihre Werte in Frage zu stellen.87 Selbststigmatisierung unterteilt Lipp in folgende vier Handlungstypen: Exhibitionismus, Provokation, Askese und Ekstase. Diese können nach unterschiedlichen Handlungsfeldern weiter differenziert werden,88 wobei sie nicht allein für sich, sondern verbunden mit ihrer Umgebung existieren. In der Analyse wird versucht, ihre Verankerung im historischen Kontext festzuhalten.

‚Charisma’

Sich selbst Stigmatisierende können zu charismatischen Führungsfiguren aufsteigen. Diesen Prozess beschreibt Lipp wie folgt:

Wenn der besondere normative Druck, der in Gesellschaften wirkt, Normenbrecher zwar primär er- fasst, tendenziell aber verzweigte, auch umstehende Gruppen betrifft, springen Selbststigmatisierer, die sich dem Druck entgegenstellen, für andere in die Bresche. Sie können aufsteigen zur Leitfigur. Wenn sie schliesslich von breiteren sozialen Bewegungen getragen werden, nimmt Selbststigmati- sierung die Züge von Begnadung an, sie schlägt um in Charisma. Indem Selbststigmatisierer Stig- mata als Selbstwert bejahen, werden sie Vorbild für viele und das Publikum leidet mit, fühlt sich eins. Die Spannungen entladen sich und schlagen um in Verklärung, Heiligung und schaffen so die Strahlkraft von Charisma.89

In Zeiten von Krisen, wenn also ein bestimmtes Mass an Widersprüchen existiert, ist am häufigsten mit einem Umschlag vom ‚Stigma’ ins ‚Charisma’ zu rechnen. Alte Ordnungen gelten zwar noch, aber neue Identifikationsmöglichkeiten sind erfahrbar. Dadurch lässt sich ursprünglich sozial negativ Bewertetes um etikettieren. Zudem kann die anfängliche Abweichung Charismatisierung in Gang setzen. Das Charisma bringt möglicherweise Helden, Märtyrer oder Heilige hervor.90 Doch ihre Taten werden schon bald von sekundären sozialen Interessen überlagert resp. alltagsweltlich umgewandelt. Die Heldentaten erfahren eine Veralltäglichung und werden neuen Zwängen unterworfen.91

Soziales Drama

Jedes in diese Untersuchung einbezogene Fallbeispiel besitzt eine gewisse Dramatik, denn es verläuft ausserhalb der Bahnen der Normalität, in einem Gewebe von Schuld, Auflehnung und sozialer Differenzen. Wegen dieser dramatischen Struktur kann jedes für sich als soziales Drama betrachtet werden. Mit der Kategorie des Dramas können die Prozesse der Selbststig- matisierung und auch eventueller Charismabildung gut sichtbar gemacht werden, weshalb sich meines Erachtens Wolfgang Lipps Zugang über sein Prozessmodell «Stigma und Cha- risma» für die vorliegenden Fallbeispiele von auffälliger Religiosität anbietet. Lipp beschrieb die Abweichungen bzw. Devianzprozesse als Drama und beleuchtete den gesamtgesellschaft- lichen Kontext mit dramaturgischen Kategorien. Dramatisches Handeln versucht in Zeiten der Krise Sinn zu vermitteln, indem es entschieden auch gegen Widerstände gerichtet ist, kann es überdies als heroisch bezeichnet werden. Dieses dramatische Handeln spitzt aber gleichzeitig die Krise weiter zu. Denn das Drama baut auf die eigene innere Kraft der Handlungsträger und stellt dabei die Mächte der alten Ordnung in Frage, hat also die Chance, Werte und Nor- men zu verändern oder bisher tabuisierte Themen an den Tag zu bringen.92 Generell verlaufen die Dramen jeweils auf drei verschiedenen Ebenen, nämlich auf der existentiellen der Hand- lungsträger sowie auf einer sozialen und kulturellen Ebene.93 Die existentielle Ebene ist pri- mär mit der Identität der selbststigmatisierenden Person befasst. Auf der sozialen Ebene kön- nen die Selbststigmatisierungen «Schockeffekte» erzeugen, das heisst das «Publikum» kann die Umwertung der Werte, wie sie die Protagonistinnen und Protagonisten vorführen, auf- nehmen, womit das Potential zu sozialer Unruhe bis zur Bildung einer «sozialen Bewegung» anwachsen kann. Auch auf der kulturellen Ebene kann Selbststigmatisierung alte Normen ausklinken lassen.94 In Lipps Prozessmodell stellen gesellschaftliche Aussenseiterinnen und Aussenseiter nicht nur negative oder defizitäre soziale Figuren dar, sondern sie haben die Chance, einen Wandel einzuleiten oder gar zu charismatischen Führungsfiguren einer neuen Ordnung aufzusteigen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Theoriemodell «Stigma und Charisma»

Zur Rezeption von Stigma und Charisma

Wolfgang Lipps Theoriemodell Stigma und Charisma hat einer Anzahl Studien wichtige Im- pulse in der Erforschung ihrer jeweiligen Forschungsschwerpunkten gegeben, insbesondere in der Religionssoziologie und der Religionsgeschichte. Die 1987 publizierte Dissertation von Michael E. Ebertz über Stigma und Charisma in der Jesusbewegung, diejenige von Helmut Mödritzer über Stigma und Charisma im Urchristentum und die 2004 erschienene Studie zur mittelalterlichen Mystik von Otto Langer beschäftigten sich alle mit der Historisierung des Stigma-Charisma-Zusammenhangs.95 Die zwei erstgenannten bewegten sich zeitlich im anti- ken Christentum, die letztere hingegen im hohen Mittelalter, als sich die Rahmenbedingungen des inzwischen hochinstitutionalisierten Christentums völlig verändert hatten. Doch auch für die neueste Zeit lässt sich Lipps Ansatz fruchtbar machen, wie eine Studie des deutschen So- ziologen Dariuš Zifonuns über die verschiedenen Erinnerungsdiskurse zur NS-Vergangenheit zeigte.96 In einer 2009 erschienenen literaturwissenschaftlichen Studie zur Untersuchung der Konstitution einer Leitfigur - hier von Lancelot als Leitfigur im mittelhochdeutschen Prosa- roman - wurde das Umschlagen von Stigma in Charisma in den Mittelpunkt gestellt.97 In den 1990er-Jahren waren verschiedene Sammelbände erschienen, die sich mit der Verwendung oder Weiterführung des Stigma und Charisma-Konzepts beschäftigten.98 Der 1999 von Dieter Fauth herausgegebene Sammelband «Religiöse Devianz in christlich geprägten Gesellschaf- ten. Vom hohen Mittelalter bis zur Frühaufklärung»99 ist insofern interessant, als er religiös auffällige Phänomene - er nennt sie religiös deviant - untersuchte. Die Beiträge handelten von religiösen Personen und Gruppierungen, die keinen Handlungsraum in ihrer Kirche ge- funden hatten und deshalb oft gesellschaftlich marginalisiert wurden. Fauth übernahm die Theoriemodell «Stigma und Charisma» von Wolfgang Lipp, um die ganz unterschiedlichen Zeiten entstammenden Beiträge vergleichend analysieren zu können. Trotz inhaltlichen Un- klarheiten und Unvollständigkeiten ist dieser Band ein interessanter komparatistischer Ver- such. Wolfgang Lipp selber hat 1994 seine früheren Publikationen zu Stigma und Charisma neu herausgegeben unter dem Titel «Drama Kultur».100 1993 erschienen gleich zwei Sammel- bände zum Begriff «Charisma», in denen Lipps Theoriemodell eine prominente Stellung einnahm, aber auch kritische Überlegungen Platz hatten.101 2006 hatte ein anregendes Sommersymposium in Bielefeld-Bethel stattgefunden, das erneut der Thematik Stigma und Charisma gewidmet war. Daraus war die Idee entstanden, eine zweite, angereicherte, Auflage des Buchs «Stigma und Charisma» von Wolfgang Lipp erscheinen zu lassen.102

Mit Ausnahme der Arbeiten von Dariuš Zifonun und Dieter Fauth beschäftigten sich alle ge- nannten Studien mit der Genese von Charisma einer bekannten historischen Figur. Die vorlie- gende Untersuchung dagegen kommt - ähnlich wie Dieter Fauth -aus der entgegengesetzten Richtung. Sie verfolgt Fallbeispiele von «auffälliger Religiosität» und fragt danach, wie sich die Handlungsträgerinnen und -träger gegen Schuldzuweisungen wehrten, ob sie ebenfalls Strategien der Selbststigmatisierung anwendeten und wie erfolgreich sie dabei waren.

Alternative Zugehensweisen wurden selbstverständlich überprüft. Der Religionspsychologe Sebastian Murken erarbeitete 2004 eine Klassifikation religiöser psychosozialer Konflikte, die er auf einige Fallbeispiele anwendet. Der Begriff des religiösen psychosozialen Konflikts um- fasst einerseits innerpsychische Konflikte, andererseits solche mit der sozialen Umwelt. Die- ser Ansatz könnte für die vorliegende Arbeit durchaus auf die hier zu untersuchenden Fälle angewendet werden. Doch bei der Analyse zeigte sich, dass Murkens Systematik für diese Verwendung viel zu fein ausgestaltet ist. Denn die vorliegende, mit Lücken behaftete Quel- lenlage verunmöglicht es, mit einer derart feinen Systematik zu kategorisieren.103 Auch der Vorschlag von Sandro Guzzi-Hebb, Fallbeispiele generalisierbar zu machen, wurde in Be- tracht gezogen.104 Seine auf die Familien- und Verwandschaftsgeschichte bezogene Methode konnte jedoch nicht überzeugend auf die hier vorliegende Forschungssituation adaptiert wer- den.

Dem Prozessmodell «Stigma und Charisma» kommen meiner Ansicht mehrere bestechende, unten aufgeführte Vorteile zu, die den Ausschlag gaben, damit zu arbeiten:

- Die Grundidee eines dialektischen Umschlags aus der Devianz in dominante Kultur trägerschaft erscheint mir anregend, weil sie sich auf scheinbar alltägliche Vorgänge anwenden lässt. Denn viele, dieser Untersuchung zugrunde liegende Fälle sind un- scheinbare Ereignisse, die bisher meist nur als Anekdoten eine grössere öffentliche Aufmerksamkeit gefunden haben. Mit der Anwendung des Prozessmodells kann - wie Lipp sich ausdrückt - «Tiefenschärfe» gewonnen werden.105
- Die Handlungsfähigkeit von Individuen und deren soziale Praktiken stehen im Mittelpunkt.
- Des Weiteren wird die soziale und kulturelle Ebene ebenfalls einbezogen. Dramaturgisch gesprochen wird dadurch auf die Rolle des Publikums geachtet.
- Die verschiedenen Handlungstypen ermöglichen eine Gegenüberstellung zwischen den jeweiligen Akteurinnen und Akteure. Es interessiert, inwieweit es einem Handlungstyp möglich ist, seine Handlungschancen tatsächlich wahrzunehmen. Im besten Fall ergibt dies eine Typologie von auffälliger Religiosität.
- Die Typenbildung erlaubt ausserdem eine präzisere Erfassung von historischen Ursa- chen. Es können strukturelle, institutionelle und mentale Besonderheiten herausgear- beitet werden.106

1.6 Quellen

1.6.1 Archivsituation

Luzern

Für den Kanton Luzern wurden im Staatsarchiv Luzern zahlreiche unterschiedliche Quellenbestände berücksichtigt. Hierbei erwies sich der Bestand « Religiöse Sekten, Religionsschwärmer, Aberglauben, u.a. Terziaren, Kommunisten in der Schweiz» (AKT 29/24B.1+B.2) als sehr umfangreich. Des Weiteren waren einzelne Fälle in Privatarchiven oder eigenen Personaldossiers abgelegt (A 2). Zur zeitlichen Abgrenzung der Untersuchung, wurden stichprobenartig Quellen aus den sehr umfangreichen Quellenkorpora «Untersuchungen gegen Lutheraner und religionsfeindliches Schriftgut» (AKT 19B/50-61), «Reden gegen die Religion und Verdacht des Luthertums, Untersuchungen und Kundschaften» (AKT 19B/74) und «Religiöse Sekten» (AKT 39/6 F. 1-4) gesichtet.

Zürich

Im Staatsarchiv Zürich ist der sehr umfangreiche Quellenbestand «Sekten oder freie Gemein- schaften» (T 59, T 59a.1, T59b) vorhanden. Er beinhaltet umfangreiche Korrespondenzen, die verschiedene religiöse Gruppierungen wie «Neutäufer», Baptisten, Antonianer, Methodisten und Mormonen, Herrnhuter und so genannte «Separatisten ohne besonderen Charakter» etc. betreffen. Ausserdem findet sich in diesem Bestand die grosse «Sekten-Umfrage» von 1844, worin alle Zürcher Pfarrämter mit einem umfangreichen Frageschema bedient wurden. Die Ergebnisse dieser Umfrage stellte Kirchenrat Johann Ludwig Meyer in einer umfangreichen Zusammenfassung summarisch dar.107 Dieser Bestand wurde für die vorliegende Untersu- chung nicht als Ganzes eingesehen, sondern exemplarisch Fallbeispiele herausgesucht. Für die Fallgeschichte der Gebetsheilerin Dorothea Trudel wurde das Protokoll des Direktors der Medizinalangelegenheiten (SS 4) beigezogen. Das Studium von Gerichtsakten war in zwei Fällen (Familie Spörri, Bauma: YY 10.40, Bez. Pfäffikon 671.9 sowie Tötung der Margaretha Peter: YY 10.18, Y 53.1) nötig.

St. Gallen

Im Staatsarchiv St. Gallen sind die Quellenbestände zu auffälliger Religiosität unter verschie- denen Signaturen zu finden. Im Bestand «Sekten» (HA R.93-2) ist das grosse Quellenkorpus zum «Herz-Jesu-Liebesbund» aufgeführt. Die kirchenpolizeilichen Akten (KA R.103.F.1 Nr. 4 und KA R.103 F.2) enthalten weitere Fälle auffälliger Religiosität aus protestantischen Gegenden, in die u.a. oft evangelische Gremien (Kirchenrat, Zentralrat, Grossratskollegium) involviert waren.

Zudem wurden für einzelne Fallbeispiele weitere Archive konsultiert: Für den Fall des «Herz- Jesu-Liebesbundes» beispielsweise das bischöfliche Archiv in St. Gallen, das Klosterarchiv Einsiedeln und das Pfarrarchiv Gossau. Das bischöfliche Archiv in St. Gallen bewahrt ausser- dem Korrespondenz im Zusammenhang mit verschiedenen Fällen von Besessenheit und Ex- orzismen auf (R 10,1 a: Kirchlich nicht anerkannte religiöse Bewegungen, Aberglauben). Für die in Stans im Kanton Nidwalden angesiedelte Fallgeschichte der Teufelsaustreibung von Delphine Trachsler wurde das Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern konsultiert.

1.6.2 Quellenarten

Ego-Dokumente

Von grossem Vorteil erwies es sich, wenn für die vorliegende Untersuchung auf sogenannte Egodokumente zurückgegriffen werden konnte. Dabei handelt es sich um Dokumente, in de- nen der Autor oder die Autorin über sich selber berichtet, sei dies in Form von Briefen, Tage- büchern oder Erinnerungen. In einigen der untersuchten Fallbeispiele konnten folgende Ego dokumente benutzt werden:

Acht Briefe sind von Margaretha Peter, die im Zürcher Weinland einen Kreis von «erweckten» Personen um sich geschart hatte, erhalten, einer davon nur auszugsweise.108 Sechs der Briefe schrieb sie an ihren Anhänger und Geliebten Jakob Morf, einen an ihren Schwager Johannes Moser, einen weiteren wahrscheinlich an eine Familie Ruegg in Illnau.

Pater Philipp Borsinger, der in der Affäre um den «Herz-Jesu-Liebesbund» 1802 als dessen Anführer bezeichnet wurde, setzte sich mit zahlreichen Briefen dagegen zur Wehr. Im Klos- terarchiv Einsiedeln sind über zwanzig Briefe aufbewahrt, in denen er sich für seine Überzeu- gung und in späteren Jahren für die Wiederherstellung seiner priesterlichen Ehre wehrte. In den gleichen Fall war auch die Familie Anderau aus der Gemeinde Gossau involviert. Im bi- schöflichen Archiv in St. Gallen wird ein Brief von Joachim Anderau aufbewahrt, in dem er die Krankengeschichte seiner vom Teufel besessenen Schwester Anna Maria schildert.

Die Zürcher Gebetsheilerin Dorothea Trudel hat die Schrift «Eine Mutter»109 eigenhändig verfasst, in der sie von ihrer frommen Grossmutter und ihrer gottergebenen Mutter Dorothea Trudel-Erzinger erzählt.110 Daneben liegen im Archiv des Bibel- und Erholungsheimes Män- nedorf einige wenige Briefe und Notizen aus ihrer Hand vor. Einige dieser Briefe hat ihr Nachfolger Samuel Zeller in der Biografie «Aus dem Leben und Heimgang der Jungfrau Dorothea Trudel» publiziert.111 Ausserdem zitiert er dort aus einem kurz vor ihrem Tod ver- fassten Lebensbericht.112

Der schriftliche Nachlass des Luzerner Gebetsheilers Niklaus Wolf, den sein erster Biograph Joseph Rudolf Ackermann113 benutzt haben soll, ist nicht mehr auffindbar. Es existieren einzig vier originale Briefe von Niklaus Wolf, nämlich drei, die er anlässlich seines Rücktritts aus dem Luzerner Grossen Rat 1804 schrieb und einen vom 8. Januar 1810, in dem er um seinen Rücktritt aus dem Kirchenrat bat.114

Verhörprotokolle

Ein weiteres Quellenkorpus bilden die Protokolle von Verhören und Zeugenaussagen, die von weltlichen oder kirchlichen Organen angefertigt wurden. Verhörprotokolle bergen einige Tücken, deren man sich bei der Lektüre und Analyse bewusst sein muss. So kann beispielsweise nicht davon ausgegangen werden, dass die Verhörten die ungeschminkte Wahrheit erzählten. Vielmehr berichten diese Dokumente über ein Rollenspiel: Dasjenige einer angeklagten Person, die möglichst ihre Haut retten wollte und umgekehrt von einem oder mehreren Vertretern staatlicher oder kirchlicher Macht, die von der verhörten Person über eine angeblich ungesetzliche Tat Auskunft erhalten wollten. Die Aussagen sind unter diesen Vorzeichen zu analysieren. Der oder die Verhörte gebrauchte dennoch Begriffe und erzählte Details, die es erlauben, vorsichtige Aussagen zum Weltbild zu machen. Wichtig ist, dass die Aussagen auf die «Perspektive der damaligen Zeitgenossen» bezogen bleiben.115

Im Fall des «Herz-Jesu-Liebesbundes» wurden 1802 über fünfzig Personen von einer bischöf- lichen Kommission, aber auch von weltlichen Beamten verhört. Ebenfalls in vielen anderen Fällen wurden Verhöre mit den Protagonistinnen und Protagonisten auffälliger Religiosität vorgenommen.116

Im Bestand über das Tötungsdelikt an Margaretha Peter von 1823 nehmen die Verhörproto- kolle gleichfalls grossen Raum ein. Sie konnten im Rahmen dieser Arbeit aber nicht vollstän- dig neu transkribiert werden. In einzelnen Fällen wurde auf Auszüge aus der Darstellung von Johann Ludwig Meyer «Schwärmerische Gräuelscenen oder Kreuzigungsgeschichte einer religiösen Schwärmerinn in Wildenspuch, Cantons Zürich», Zürich 1824, zurückgegriffen.117

len der heiligen Kirche, Der Psalter oder die Rosenkränze, wie sie Vater Niklaus Wolf sel. von Rippertschwand gebetet hat. Syfrig, Wolf 22-24.

Korrespondenzen, Gutachten, Berichte

Beim grössten Teil des konsultierten Quellenmaterials handelt es sich um Briefe zwischen weltlichen und kirchlichen Behörden, um Gutachten und Berichte, um Protokollauszüge, manchmal um Bittschriften oder Petitionen sowie andere Schriftstücke, die einen guten Einblick in die Praxis des Umgangs mit auffälliger Religiosität geben. Des Weiteren fallen Zeitungsartikel und Tagebucheintragungen von Zeitgenossen in diese Sparte.

In drei Fällen wurde auf Quellenmaterial zurückgegriffen, das bereits eine erste «Aufbereitung» für einen anderen Zweck erfahren hatte.

- Johann Ludwig Meyer hatte die Ergebnisse der grossen Sektenumfrage von 1844 in einer umfangreichen Darstellung zusammengefasst: «Versuch einer Darstellung der Verhältnisse des Sektenwesens im Canton Zürich gegründet auf die vom zücherischen Kirchenrath allen Pfarrämtern des Kantons zur Beantwortung überwiesenen 16 Fragen von J. Ludwig Meyer, Mitglied des Kirchenraths, geschrieben im Februar 1844».
- Johann Ludwig Meyer beschrieb die Geschichte von Margaretha Peter und ihrer spektaku lären Tötung in seinem 1824 erschienen Werk «Schwärmerische Gräuelscenen oder Kreuzigungsgeschichte einer religiösen Schwärmerinn in Wildenspuch, Cantons Zürich». Es beruht auf detaillierten Akten, zu denen Meyer Zugang hatte, da er die an der Tat beteiligten Anhängerinnen und Anhänger von Margaretha Peter als Gefängnisseelsorger betreut hatte. Mit Stichproben wurden Meyers Auszüge aus Protokollen und Briefen mit noch vorhandenen Originalen überprüft und als zuverlässig eingestuft.
- Neben den Quellenkorpora zu Niklaus Wolf im Staatsarchiv Luzern «1798 - 1846: Sakra mentalien, Exorzismen, Benediktionen, u.a. Hilfe bei Niklaus Wolf von Rippertschwand 1815» (AKT 29/58 B3) wurde die umfangreiche Dokumentation zu Wolfs Seligsprechung von Max Syfrig118 beigezogen, in der zahlreiches zusätzliches Quellenmaterial aus den un- terschiedlichsten Zusammenhängen zusammengestellt ist. Auch hier wurde mittels Stich- proben die Korrektheit der Quellenauszüge überprüft und als zuverlässig eingestuft.

Insgesamt bezieht sich diese Arbeit also auf diverse Quellenkorpora, die Ego-Dokumente, Verhörprotokolle, zeitgenössische Zeitungsartikel, Tagebucheintragungen und amtliche Quel- len der weltlichen und kirchlichen Behörden der Kantone Luzern, Zürich und St. Gallen um- fassen.

[...]


1 Franz Ludwig von Erthal (1730 - 1795). Aufgeklärter Fürstbischof von Würzburg und Bamberg. BBKL 1 (1990) 1540-1541; Gatz, 1648-1803 93-95.

2 Bei den «Pöschelianern» handelte es sich um Anhänger einer katholischen «schwärmerischen» Bewegung, die sich auf den endzeitlichen Mystizismus des österreichischen Priesters Theodor Pöschl (1769-1837) be- riefen. Pöschl entwickelte eine Teufelslehre, die Napoleon als lebendigen Teufel erachtete und seine Anhä- nger als Teufelskinder. BBKL 7 (1994) 775-777.

3 Zum «Heggismus» liess sich nichts in Erfahrung bringen.

4 Pfyl, Wessenberg-Usteri 392.

5 Pfyl, Wessenberg-Usteri 238.

6 Pfyl, Wessenberg-Usteri 56.

7 Pfyl, Wessenberg-Usteri 468-469.

8 Zedler Universal-Lexikon, Bd. 35, 912 (1795).

9 1823 und 1824 erschienen drei Artikel im «Archiv für Pastoralkonferenzen» (APK): «Ueber Schwärmerey überhaupt und religiöse insbesondere» (APK 1823 289-317), «Ueber Schwärmerey überhaupt und religiöse insbesondere» (APK 1824, 5. Heft, 311-335) und «Ueber Schwärmerey, besonders religiöse» (APK 1824, 5. Heft, 336-348). 1833 erweiterte Wessenberg diese Betrachtungen zu einer umfassenderen Darstellung «Ueber Schwärmerei. Historisch-philosophische Betrachtungen mit Rücksicht auf die jetzige Zeit».

10 Freytag und Sawicki arbeiten mit diesen Begriffen in ihrer Einleitung «Verzauberte Moderne. Kulturge- schichtliche Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert» im von ihnen herausgegebenen Sammelband. Freytag , Wunderwelten 15.

11 Loetz, Gott 543-544.

12 Diese Definition entstammt der Theorie des Labeling Approachs, die abweichendes Verhalten erklärt. Vgl. dazu Lamnek, Theorien 216-236, besonders 218, oder Lamnek, neue Theorien 23-24.

13 RGG 2 (1999) 877-879.

14 Lamnek, Theorien 300.

15 Hanimann, Nonkonformisten 3-4.

16 Das Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs «Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dy- namik» (21 Seiten) kann auf der Website der Universität Leipzig eingesehen werden: https://mahara.uni- leipzig.de/view/view.php?id=54&new= [30.04.2012].

17 DFG-Graduiertenkolleg der Universität Leipzig, Forschungsprogramm, Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik 5.

18 Lang, Frömmigkeit 747-769.

19 Lang, Frömmigkeit 762-673. Zu dem auf Friedrich Schleiermacher zurückgehenden Begriff des religiösen Virtuosen und Max Webers Begriffsverwendung vgl. Lang, Prophet.

20 P. Hugger, Volksfrömmigkeit, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.09.2010, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11511.php.

21 Schieder, Volksreligiosität 7-13.

22 Reinhard, Lebensformen 551-552.

23 Vgl. dazu beispielsweise die Einführung in die Grundfragen der Kulturgeschichte von Silvia Serena Tschopp und Wolfgang E. J. Weber, zum weiten Kulturbegriff besonders 80-81.

24 Lipp, Drama 25.

25 Lipp, Stigma.

26 Hettlage, Rezension Lipp 62. - Max Weber hat seine Überlegungen zu Charisma in seinem soziologischen Werk «Wirtschaft und Gesellschaft» festgehalten. Es wurde 1920 und 1922 in vier Lieferungen postum von seiner Frau Marianne als 3. Abteilung des «Grundriss der Sozialökonomik» veröffentlicht. Webers Überle- gungen zu Charisma wurden 2005 im von Edith Hanke herausgegebenen Band 22-4: Herrschaft, im Rahmen der Max Weber Gesamtausgabe, neu publiziert.

27 Eine aktuelle Übersicht über diese Debatte bietet Pollack, Säkularisierungstheorie 482-522.

28 Brecht, Pietismus. - 2005 erschien das Handbuch «Der Pietismus» des Theologen und Kirchenhistorikers Johannes Wallmann, der jedoch einen engeren Pietismusbegriff verwendet, der sich zeitlich auf das 17. und 18. Jahrhundert beschränkt. Wallmann, Pietismus.

29 Gäbler, Pietismus.

30 Lehmann, Glaubenswelten.

31 Lehmann, Dechristianisierung; Lehmann, Weltsichten; Lehmann, Neupietismus; Lehmann, Säkularisierung; Lehmann, Säkularisierungsthese; Lehmann, Gemeinschaftsbildung; Lehmann, Jansenismus.

32 Lehmann, Religionsgeschichte; Strom, Pietism. Dieses Geschichtsfeld ist auch von anderen Autoren und Autorinnen in letzter Zeit bearbeitet worden. Zum Beispiel untersuchte Gisela Mettele in ihrer Habilitations- schrift «Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727 - 1857» ein pietistisches Phänomen unter dem Gesichtspunkt einer länderübergreifenden Geschichte.

33 Lieburg, Pietism.

34 Kuhn, Religion.

35 Gleixner, Pietismus.

36 Gleixner, Gendering tradition.

37 Hebeisen, leidenschaftlich.

38 Kuhn, Basel.

39 Stuber, Erweckung. Eine Auswahl an Arbeiten zum bernischen Pietismus und Täufertum: Dellsperger, Wahrheit; Dellsperger, Frauenemanzipation; Dellsperger, Anfänge; Noth, Ekstatischer Pietismus.

40 Bütikofer, Zürcher Pietismus.

41 Hanimann, Nonkonformisten.

42 Seidel, Campagne; Seidel, Trudel; Seidel, Nonkonformist; Seidel, Theosophie.

43 Seidel, Graubünden.

44 Marianne Jehle hat eine Monografie und mehrere Aufsätze zu Anna Schlatter-Bernet verfasst. Zum Beispiel: Jehle, Schlatter-Bernet; Jehle, Heiligsprechung; Jehle, Weltoffen; Jehle, Oekumenikerin. - Weitere neuere Publikationen: Jung, Nachfolger; Zimmerling, Frauen.

45 Nöthiger-Strahm, Volk; Nöthiger-Strahm, Botschaft. Juliane von Krüdener wird in weiteren neueren Publi- kationen behandelt. Zum Beispiel: Zimmerling, Krüdener; Zimmerling, Frauen; Hieber, Krüdener Vietinghoff; Schläpfer, Künderin; Specker, Heimsuchung.

46 Hadorn, Pietismus.

47 Wernle, Protestantismus.

48 Götz von Olenhusen, Erscheinungen.

49 Weiss, Seherinnen; Muhs, Beller; Zumholz, Resistenz.

50 Götz von Olenhusen, Fundamentalistische Bewegungen.

51 Blackbourn, Marienerscheinungen.

52 Schlögl, Sünderin; Busch, Feminisierung.

53 Saurer, Pöschl.

54 Freytag, Wunderwelten 13-14.

55 Kansky, Leben; Ellis, Erweckungsbewegung; Gissibl, Zeichen; Priesching, Führungspersönlichkeiten. Der Beitrag von Rhodry Hayword erweitert die Medizingeschichte. Hayward, Dämonenlehre.

56 Walz, Anfechtungen.

57 Tabaczek, Wunder.

58 Blackbourn, Marpingen. 2007 erfolgte eine Neuauflage unter einem neuen Titel «Marpingen. Das deutsche Lourdes in der Bismarckzeit». Weitere Aufsätze: Blackbourn, Our Lady. Allgemein zu Wundern: Bouflet, miracles. Sehr kritische Abhandlung über die Themen Wunder, Erscheinungen, Visionen, Prophezeiungen und Besessenheit des katholischen Theologen Josef Hanauer: Hanauer, Wunder. Zu den Auswirkungen der Marienerscheinungen in Lourdes zum Beispiel: Harris, Lourdes; Harris, Miraculees; Kottula, Lourdes.

59 Priesching, Mörl.

60 Zu Louise Beck vgl. Weiss, Seherinnen sowie ausführlicher in: Weiss, Redemptoristen.

61 Gissibl, Frömmigkeit.

62 Das Leben d. hl. Jungfrau Maria. Nach d. Visionen d. Augustinerin von Dülmen aufgeschrieben von Cle- mens Brentano. 11. Aufl. Stein am Rhein 2009. Emmerick wurde 2004 von Papst Johannes Paul II. selig ge- sprochen. Beispiele neuerer Literatur zu ihr: Bangert, Emmerick; Engling, Wende; Engling, Unbequem; Brandstetter, Reliquienberg; Hanauer, Seherin.

63 Pahud de Mortanges, Irre. Weitere Fallgeschichten stigmatisierter Frauen: Karoline Beller (1830 - 1863): Muhs, Beller. Juliana Weiskircher (1824 - 1862): Strauss, Weiskircher; Kovarik, Weiskircher. Zu Stigmati- sationen in Frankreich zum Beispiel: Burton, Holy tears; Bouflet, Stigmatisé. 1996 hat Joachim Bouflet das 1894 erstmals erschiene Werk von Antoine Imbert-Gourbeyre «La stigmatisation. L’extase divine et les mi- racles de Lourdes» neu herausgegeben.

64 Treiber, Oschwald; Götz von Olenhusen, Stimmen; Götz von Olenhusen, Fundamentalistische Bewegungen; Degler-Spengler, Schwestern.

65 Dommann, Städele.

66 Waardt, Besessenheit.

67 Ising, Blumhardt.

68 Freytag, Aberglauben, Krankheit und das Böse. Nils Freytag streift dasselbe Thema auch in seiner Disserta- tion auf: Freytag, Aberglauben im 19. Jahrhundert.

69 Devlin, Superstitious mind. Über den Jansenismus und die Konvulsionisten vgl. Strayer, Suffering saints. Zur Frühen Neuzeit vgl. auch Ferber, Demonic Possession; Brulé, Sorcellerie.

70 Leimgruber, Kein Abschied. Der 1985 erschiene Artikel von Alois Döring beschreibt die Praxis der Teufel- saustreibung in zeitgenössischen traditionalistischen Kreisen. Döring, Dämonen.

71 Ribbat, Erregung.

72 Conrad, Schwärmerei.

73 Conrad, Schwärmerei, 7.

74 Eine ähnliche These vertrat Michael Mauer in seinem Aufsatz «Wunder und Aufklärung». Ausserdem: Darnton, Mesmerismus; Kiefer, Hexen-Epoche.

75 Freytag, Aberglauben im 19. Jahrhundert; Sawicki, Leben; Moser, Glaube. Beispiele internationaler Litera- tur: Bushaway, Tacit; Devlin, Superstitious mind; Weber, Religion; Mozzani, Magie; Ankarloo, Witchcraft; Winter, Mesmerized; Monroe, Laboratories; Willburn, Possessed.

76 Schlögl, Glaube; Dietrich, Konfession; Pahl, Kirche; Geyer, Gegenwart. Zu Frankreich zum Beispiel: Bour- try, Religion.

77 Labouvie, Künste.

78 Busch, Frömmigkeit.

79 Kotulla, Lourdes.

80 Lehmann, Neupietismus 84-90.

81 StAZH T 59b (6); StaSG KA R.103.F.1 Nr. 4; StAZH T 59b (5).

82 Vgl. den Inhalt des Dossiers AKT 39/6 F.1-4 Religiöse Sekten 1850-1888. - Auch während der Sonder- bundszeit kursierten zahlreiche Erzählungen über Wunderzeichen und Marienerscheinungen. Vgl. dazu Lu- quet, Zustände 30-31; Siegwart-Müller, Sieg 336-338. Im Jahrgang 1847 des Christlichen Hauskalenders ist dazu der Bericht «Kurze Darstellung der Ereignisse vom 31. März und 1. April 1845 oder Gottes wun- derbarer Schutz in denselben über Luzern» erschienen. Da zu diesen Erzählungen die weiteren Quellen feh- len, wurden sie nicht in diese Untersuchung aufgenommen. Eine Sammlung authentischer Zeugnisse, die der damalige Nuntius angelegt haben soll, konnte bisher nicht aufgefunden werden. Luquet, Zustände 31.

83 Zum verstehenden Vergleich siehe Kaelble, Vergleich 67-70.

84 Karl Bühler bezieht sich in seinem Modell auf Platons Metapher der Sprache als ‚Organon‘, nämlich als Werkzeug, dank dem „einer - dem andern - über die Dinge“ etwas mitteilt. Bühler, Sprachtheorie 28.

85 Wolfgang Lipps Habilitation «Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten» war erstmals 1985 erschienen. 2010 wurde eine zweite um mehrere Aufsätze verschiedener Autoren angereicherte Auflage herausgegeben. Zum gleichen Thema sind folgende Aufsätze von Wolfgang Lipp erschienen: Charisma - Schuld und Gnade. Soziale Konstruktion, Kulturdynamik, Handlungsdrama (1993); Was ist Charisma, wer oder was hat Charisma, und wie kommt es zustande? Das Konzept der Selbststigmatisierung (1993); Aus- senseiter, Häretiker, Revolutionäre. Gesichtspunkte zur systematischen Analyse (1999).

86 Lipp, Aussenseiter 15-16.

87 Lipp, Stigma 126-130.

88 Lipp, Stigma 131-133.

89 Lipp, Aussenseiter 21.

90 Lipp, Stigma 262-268.

91 Lipp, Stigma 270. Zur «Veralltäglichung» des Charisma hat Max Weber bereits einiges vorgedacht. Weber, Herrschaft, 473-535.

92 Lipp, Routine 202-206.

93 Lipp, Aussenseiter 19-20.

94 Lipp, Was ist Charisma 216-220.

95 Ebertz, Charisma des Gekreuzigten; Mödritzer, Urchristentum; Mödritzer, Franziskus von Assisi. Die Selbststigmatisierung und Charisma christlicher Heiliger der Spätantike war auch Thema der 2006 erschie- nenen Dissertation von Götz Hartmann. Götz, Selbststigmatisierung.

96 Zifonun, Last und Chance.

97 Ridder, Lancelot.

98 Gebhardt, Charisma; Zingerle, Charisma; Krüggeler, Institution.

99 Fauth, Devianz.

100 Lipp, Drama Kultur.

101 Zingerle, Charisma; Gebhardt, Charisma; Zingerle, Theoretische Überlegungen.

102 Lipp, Stigma 2010.

103 Die Zeitschrift für Religionswissenschaft hat im Jahr 2004 ein Heft zum Thema «Psychosoziale Konflikte im Prozess des selbstgewählten Beitritts zu neuen religiösen Gemeinschaften» publiziert.

104 Guzzi-Heeb, Fallbeispiele 93-106.

105 Lipp, Was ist Charisma, 21.

106 Vgl. zum analytischen Vergleich Kaelble, Vergleich 49-55. 27

107 Versuch einer Darstellung der Verhältnisse des Sektenwesens im Canton Zürich gegründet auf die vom zürcherischen Kirchenrath allen Pfarrämtern des Kantons zur Beantwortung überwiesenen 16 Fragen von J. Ludwig Meyer, Mitglied des Kirchenraths, geschrieben im Februar 1844.

108 Meyer, Kreuzigungsgeschichte 33.

109 Dorothea Trudel, Eine Mutter. Eine wahre Geschichte, Stuttgart, o.J.

110 Die Schrift „Eine Mutter“ ist ein Bestandteil der 1971 von Konrad Zeller herausgegebenen Publikation: Dorothea Trudel von Männedorf. Ihr Leben und Wirken, Neuhausen-Stuttgart 1971. Die Publikation um- fasst ausserdem eine Neubearbeitung von Samuel Zellers «Leben und Heimgang der Jungfrau Dorothea Trudel von Männedorf», ergänzt durch zwei zeitgenössische Berichte bedeutender Besucher von Trudels Anstalt.

111 Zeller, Leben 63-83.

112 Zeller, Leben 11-15. Ebenso Zeller, Trudel 34-38.

113 Syfrig, Wolf 34. - Joseph Rudolf Ackermann, Die Macht des christlichen Glaubens. Ackermann hat von den 132 Seiten der ersten Auflage 68 Seiten als wörtliche Überlieferung Wolfs gekennzeichnet. Diese Schrift ist die Grundlage für alle Wolf-Biografien. Ackermann hatte Wolf 1817 als junger Kanzleigehilfe des apostolischen Generalvikars Göldlin kennen gelernt. Sie blieben bis zu Wolfs Tod befreundet. Acker- mann veröffentlichte auch Gebete von Wolf: Almosengebet, Glaubens- und Taufbekenntnis in den Drangsa-

114 Syfrig, Wolf 339-350: Wolf an Luzerner Kleiner Rat, 05.11.1804, 16.11.1804, 17.11.1804, 10.12.1804; Syfrig, Wolf 362-364: Wolf an Kleiner Rat, 08.01.1810.

115 Vogel, Herren 27; Dinges, Historische Anthropologie 209; vgl. weiter zur Analyse von Verhörprotokollen Gleixner, Mensch 19-25.

116 Johannes Sprenger, Xaver Lang, Neutäufer in der Stadt St. Gallen, Bibelsekte von Sargans und Ragaz etc.

117 Durch Stichproben konnte festgestellt werden, dass heute nicht mehr der ganze Aktenbestand, auf den 1824 Johann Ludwig Meyer Zugriff hatte, im Staatsarchiv Zürich aufbewahrt wird.

118 Syfrig, Wolf.

Ende der Leseprobe aus 371 Seiten

Details

Titel
Auffällige Religiosität: Gebetsheilungen, Besessenheitsfälle und schwärmerische Sekten in katholischen und reformierten Gegenden der Schweiz
Hochschule
Universität Luzern  (Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät)
Note
magna cum laude
Autor
Jahr
2012
Seiten
371
Katalognummer
V193559
ISBN (eBook)
9783656185994
ISBN (Buch)
9783656186175
Dateigröße
6680 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Schweiz, Neuzeit, 19. Jahrhundert, Religiosität, Auffällige Religiosität, Nonkonformismus, Frömmigkeit
Arbeit zitieren
Dr. des. Jolanda Cécile Schärli (Autor:in), 2012, Auffällige Religiosität: Gebetsheilungen, Besessenheitsfälle und schwärmerische Sekten in katholischen und reformierten Gegenden der Schweiz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193559

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