Dieses Thesenpapier zu Hegels Differenzschrift erläutert deren Grundanliegen vom Ausgangspunkt im kantischen Programm über das idealistische Projekt der spekulativen Philosophie als Praxisphilosophie bis hin zu den sich andeutenden Differenzen zwischen Hegel und Schelling.
Jan Leichsenring
Zu den Grundanliegen von G.W.F. Hegels ›Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie‹.
Kontext
Die Differenzschrift von 1801 war Hegels erste philosophische Veröffentlichung. In ihr werden die Neuerungen des Denkens von F.W.J. Schelling gegenüber dem von J.G. Fichte diskutiert, während zu dieser Zeit Schelling noch als ein Schüler Fichtes galt, der mit seinem Lehrer weitestgehend übereinstimme. Die Arbeiten aller drei Autoren schließen an jene Kants, insbesondere an seine Kritiken an. Diese entstanden in Auseinandersetzung mit der Aufklärung speziell des 18. Jh., die Sozialphilosophie wie auch Wissenschaftstheorie war. So griff der französische Materialismus die Religion als Betrugssystem an, das der Absicherung bestehender Herrschaft diene. Solche Kritik musste selbstreflexiv werden, um sich rechtfertigen zu können, d.h. sie musste zeigen, worin wahres Wissen bestehe und wie es herzustellen sei. Darin traf sie sich mit den britischen Ansätzen von Empirismus und Skeptizismus, in denen dieses Wissensproblem hinsichtlich etwa des Verhältnisses von Sinnesdaten und Bewusstsein, Erkenntnisprozess und erkanntem Gegenstand verhandelt wurde. Solche Fragestellungen laufen in Kants Werk zusammen, das Materialismus und Skeptizismus überwinden, deren kritischen Impuls aber bewahren soll, und das im praktisch-politischen Bereich statt der Revolution die Reform verteidigt. Das von Kant entwickelte Erkenntnismodell, in dem die Wahrnehmung des Subjekts unhintergehbar durch das Subjekt selbst präformiert wird und nicht eine Welt, wie sie an sich ist, widerspiegelt, warf natürlich neue Fragen auf. Wie genau solche Größen wie Subjekt, Objekt, Bewusstsein und Intersubjektivität sowie der mögliche Bezug auf ein Absolutes bzw. Gott zu denken sind, bildet ein wesentliches Moment der Arbeiten von Hegel, Fichte und Schelling. Grundlegend kann die Differenzschrift als ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie begriffen werden: untersucht werden Möglichkeitsbedingungen von systematisch relationierten, wahren Aussagen sowie der Status des Unterfangens, solche Bedingungen in einem selbst wissenschaftlichen Rahmen aufzuzeigen.
1 Ausgangspunkt im kantischen Programm
Kants Kritiken der Urteilskraft, der reinen und der praktischen Vernunft untersuchen unterschiedliche Aspekte der Vernunft. Die integrative Einheit dieser Aspekte wird angenommen, aber nicht als solche theoretisch dargestellt, d.h. es fehlt eine Kritik der Vernunft. In der Kantnachfolge wird um ein Verständnis dieser Einheit gerungen.
Weil alle gegebene Erkenntnis für jemanden gegeben ist, setzt Fichte bei der Fortentwicklung einer Subjekttheorie an, in der konstitutionslogische Fragen des Denkens und Wissens erörtert werden. Zentral ist dabei, dass Denken ein Prinzip von Identifikation und Unterscheidung voraussetzt, dessen beide Seiten (A = A; ¬ A ≠ A) sich bedingen und deshalb unterschieden, aber nicht getrennt sind. Das gilt analog für das Selbstbewusstsein, »denn ich bin ursprünglich weder das Reflektierende, noch das Reflektierte, und keins von beiden wird durch das andere bestimmt, sondern ich bin beides in seiner Vereinigung; welche Vereinigung ich freilich nicht denken kann, weil ich eben im Denken Reflektiertes und Reflektierendes absondere« (WL 70).
Darin besteht die fichtesche Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, die in einer übergreifenden Identität aufzuheben sein soll, weshalb Hegel davon spricht, dass »die Aufhebung der Entzweiung als formale Aufgabe der Philosophie gesetzt wird« (DS 85). D.h. die theoretische Philosophie muss die Einheit von Subjekt und Objekt erklären, weil Korrespondenz ein Drittes voraussetzt, hier: das Absolute, das so bezeichnet wird, weil es einen Punkt des Denkens markiert, der allenfalls noch durch Offenbarung überschritten werden kann.
Die Autoren folgen damit Kants Projekt einer Metaphysikkritik, die ihre Gegenstände anhand von Maßstäben, die rationaler Rechtfertigung zugänglich sein sollen, unterscheidet, aber nicht vollständig verwirft. Dabei wird der Gedanke einer transzendentalen Metaphysik weitergeführt, die transpragmatische Sinn- und Erkenntnisbedingungen sowie die Möglichkeiten rationaler Rede über dieselben betrifft.
Das Absolute tritt bei Fichte als Prinzip der Identität von Subjekt und Objekt in Erscheinung, aber seine Konzeptionalisierung überzeugt Hegel nicht. Statt Subjekt und Objekt gleichursprünglich im Absoluten zu gründen, werde alles aus dem Subjekt hergeleitet (vgl. DS 49 f). Implizit wird damit Fichte vorgeworfen, seine Theorie verhalte sich spiegelbildlich zu den Materialismen dieser Zeit, in denen das Subjekt Epiphänomen des Objekts ist. In Hegels Sicht streicht Fichte ebenfalls eine Seite durch, indem er das Subjekt absolut setzt, sodass das Objekt dessen Epiphänomen wird. Natur scheint so bei Fichte nur als Empfindung dargestellt zu werden.
[...]
- Arbeit zitieren
- Jan Leichsenring (Autor:in), 2012, Zu den Grundanliegen von G.W.F. Hegels "Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193680