Indigene Organisationen in Ecuador: Abgrenzung durch positive Selbst- und negative Fremdbilder

Eine Diskursanalyse


Master's Thesis, 2010

97 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die indigenen Organisationen in Ecuador
2.1 Die Konquista und ihre Folgen
2.2 Die Entstehung indigener Organisationen -Costa, Sierra und Oriente
2.2.1 Die Bildung einer Organisationsstruktur
2.2.2 Der Levantamiento Nacional Indígena von
2.2.3 Das Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik - Nuevo País (MUPP-NP)
2.3 Ethnische Identität als Motor der indigenen Bewegung

3 Prozesse der Intergruppendifferenzierung nach Henri Tajfel
3.1 Die Theorie der sozialen Identität (TSI) nach Henri Tajfel
3.1.1 Die vier psychologischen Konzepte der Theorie der sozialen Identität
3.2 Strategien der Intergruppendifferenzierung
3.3 Stereotype und soziale Stereotype
3.3.1 Funktionen von sozialen Stereotypen
3.4 Zusammenfassung

4 Die Internetpräsenz als Medium der Außendarstellung
4.1 Informationen und Begriffe zum Thema Internet
4.2 Der Internetauftritt als Medium der Selbstdarstellung
4.3 Internetauftritte von indigenen Organisationen

5 Diskursanalytische Untersuchung von Internettexten indigener
Organisationen in Ecuador
5.1 Zur Auswahl der Methode der Kritischen Diskursanalyse
5.2 Die Kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger
5.2.1 Grundbegriffe der Kritischen Diskursanalyse
5.3 Bildung des Datenkorpus
5.4 Vorgehensweise
5.5 Ergebnisse
5.5.1 Ergebnisse der Strukturanalyse
5.5.1.1 Feindliche Diskurspaare
5.5.1.2 Solidarische Freundschaften
5.5.1.3 Zusammenfassung
5.5.2 Ergebnisse der Feinanalyse
5.5.2.1 Feindebenen
5.5.2.2 Der Gebrauch von Substantiven und militanter Sprache
5.5.2.3 Potentielle Leserschaft
5.5.2.4 Der Gebrauch von Pronomina
5.5.2.5 Zusammenfassung
5.4.2.5 Zusammenfassung

6 Interpretation der Ergebnisse
6.1 Die Anwendung von Intergruppendifferenzierungs-Strategien in Bezug auf Feindgruppen
6.2 Stereotypisierung der Feindgruppen
6.3 Abgrenzungsstrategien und Stereotypisierung in Bezug auf den Unterbau

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

Anhang

Karte I: Regionen und Provinzen Ecuadors

Tabelle I: Nacionalidades Indígenas in Ecuador

Tabelle II: Pueblos Indígenas in Ecuador

Tabelle III: Ausgewählte indigene Organisationen und ihre Mitgliedsgruppen

Tabelle IV: Übersicht der genutzten Internetquellen

Textnachweise

Eigenständigkeitserklärung

1 Einleitung

„Wir haben keine Angst vor Unterschieden. Unsere größte Angst gilt der Ähnlichkeit, der Gleichheit, die uns auslöscht.“ (Richard Powers 2005: 750)

Das Gesetz zur Privatisierung des Bergbaus Ley Minera wurde am 13.01.2009 im Zuge der neuen Konstitution Ecuadors von der Comisión de Legislación y Fiscalización verabschiedet. Es führte zu öffentlichen Streitigkeiten und Wortgefechten zwischen den indigenen Organisationen und der aktuellen Regierung in Ecuador. In einer öffentlichen Ansprache in Quito bezeichnete der ecuadorianische Präsident Rafael Correa die indigenen Organisationen, die zu nationalen Streiks gegen die Verabschiedung des Gesetzes aufgerufen hatten, als „pequeños grupos absolutamente minoritarios que nos impongan sus particulares visiones e intereses“ (Correa, Rafael 19.01.2009, zitiert nach: eltelegrafo.com.ec 20.01.2009).

Dieser Kommentar offenbart nicht nur, dass die Forderungen der indigenen Organisationen, die seit den 1990er Jahren ihre Entscheidungsmacht auf sozialer und politischer Ebene zu etablieren und auszuweiten versuchen, bis heute noch nicht gänzlich erfüllt worden sind. In der Aussage Correas wird darüber hinaus deutlich, dass ein großes Machtgefälle und eine Dissoziation zwischen zwei Gruppen existiert. Auf der einen Seite stehen die indigenen Organisationen und im weitesten Sinne die indigene Bevölkerung, im Kommentar als „pequeños grupos absolutamente minoritarios“ bezeichnet. Auf der anderen Seite steht der ecuadorianische Staat und im weitesten Sinne die mestizische Gesellschaft, in der Aussage mit „nos“ benannt. Correa gibt mit seiner Aussage deutlich zu verstehen, wer das Sagen und die Macht in Ecuador hat und legt fest, dass der indigenen Minderheit in keiner Weise Ansprüche darauf gewährt werden. Mit einem einzigen Satz wird eine Gruppe diskreditiert, die Grenze zwischen wir und den Anderen gezogen und die eigene Machtposition im gesellschaftlichen Diskurs besiegelt.

In der oben genannten Äußerung Correas wird der Konflikt zwischen zwei Gruppen offenbar. Die widersprüchlichen Gruppeninteressen[1] führen zu Feindseligkeit und zu der Abwertung der Fremdgruppe, wie das Zitat verdeutlicht.

Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, diese Diskreditierung von Fremdgruppen zu untersuchen, die damit einhergehende Aufwertung der eigenen Gruppe analytisch in Relation zu setzen und die dadurch entstehende Verdichtung der unterschiedlichen Machtpositionen aufzuzeigen. Diese Prozesse werden von allen Gruppen vollzogen und dienen dem Überleben einer Gruppe (vgl. Tajfel 1982: 8).

Der analytische Fokus dieser Arbeit liegt nicht auf der Majoritätsgruppe, sondern auf den sogenannten „pequeños grupos absolutamente minoritarios“, den indigenen Organisationen, die die indigene Bewegung in Ecuador anführen und Träger des indigenen Diskurses sind. Diese Organisationen etablierten sich von der Mitte des 20. Jahrhunderts an. Sie sind Einheiten einer Organisationsstruktur, die aus mehreren Ebenen besteht. Die Organisationen der obersten Ebene übernehmen darin eine repräsentative Funktion und vertreten die kleineren Verbände auf nationaler und internationaler politischer Ebene.

Diese Arbeit untersucht anhand der Kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (2004), wie sich die indigenen Organisationen gegenüber der Fremd- und zugleich Majoritätsgruppe des ecuadorianischen Staates beziehungsweise der Mestizenbevölkerung abgrenzen und ob es zu einer Abwertung dieser Gruppe kommt. Zugleich wird analysiert, ob sich die indigenen Organisationen untereinander oder sogar von ihrer Basis, der indigenen Bevölkerung, abgrenzen. Die einzelnen indigenen Organisationen treten zwar zusammen als eine einheitliche indigene Bewegung auf, gleichzeitig sind sie innerhalb der Organisationsstruktur jedoch autonome Gruppierungen, die unterschiedliche Interessen verfolgen.

Die Untersuchungsgrundlage sind Vorstellungstexte der indigenen Organisationen, die auf den Internetpräsenzen der jeweiligen Organisationen weltweit öffentlich zugänglich sind. Die Internettexte bilden den Materialkorpus der Diskursanalyse und stellen die diskursive Ebene dar, von der aus gesprochen wird und durch die die Positionen der indigenen Organisationen ersichtlich werden. Die Ergebnisse der diskursanalytischen Untersuchung werden dann im Hinblick auf die Strategien zur Intergruppenabgrenzung und auf die Funktionen von sozialen Stereotypen für Gruppen nach Henri Tajfel interpretiert.

Das erste Kapitel der Arbeit setzt sich mit der Entstehung der indigenen Organisationen auseinander, die die indigene Bewegung in Ecuador formen. Zudem wird dargelegt, wie der indigene Diskurs in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit etabliert wurde. Weiterhin wird kurz erörtert, wie eine homogene indigene Bewegung aus den heterogenen Gruppen, die sich in den indigenen Organisationen manifestierten, entstehen konnte.

Im zweiten Kapitel wird die Theorie der sozialen Identität (TSI) von Henri Tajfel erläutert. Tajfel liefert mit ihr eine Erklärung für die Notwendigkeit der Abwertung von Fremdgruppen durch eine Eigengruppe. Somit eignet sie sich als theoretische Grundlage für diese Arbeit. Im Zuge seiner Theorie der sozialen Identität formuliert Tajfel Taktiken, die Gruppen anwenden können, um sich von anderen Gruppen abzugrenzen (Strategien der Intergruppendifferenzierung). Zudem erklärt er, welche Funktionen negative Fremdbilder über Fremdgruppen erfüllen, wenn diese innerhalb einer Gruppe geteilt werden (Funktionen von sozialen Stereotypen). Im weiteren Verlauf der Arbeit werden diese beiden Konzepte noch einmal aufgegriffen. Sie dienen als theoretische Interpretationsgrundlage für die Ergebnisse der Diskursanalyse.

Im dritten Kapitel wird das verwendete Fachvokabular zum Thema Internet erklärt. Zudem wird verdeutlicht, dass auf den Internetseiten verwendbare Textsorten für die hier angestrebte Diskursanalyse zu finden sind. Geleitet von Tajfels Theorie werden die Internettexte mit der Kritischen Diskursanalyse nach Jäger auf Diskurse und deren Bestandteile analysiert. Die Analyse soll Aufschluss über die Konstruktion eines positiven Selbstbildes der indigenen Organisationen und über entworfene negative Fremdbilder der Majoritätsgruppe sowie anderer indigener Verbände und Gruppen innerhalb der Organisationsstruktur geben. Die Ergebnisse werden dann anhand der von Tajfel ausgearbeiteten Intergruppendifferenzierungs -Strategien und Funktionen von sozialen Stereotypen interpretiert. Dies dient dazu, eventuell genutzte Taktiken der indigenen Organisationen bezogen auf die Abgrenzung von Fremdgruppen und auf die Aufwertung der Eigengruppe zu deuten. Ein Fazit fasst die Ergebnisse dieser Arbeit zusammen.

2 Die indigenen Organisationen in Ecuador

Das folgende Kapitel gibt nicht nur einen historischen Überblick über die Entstehung der indigenen Organisationen und über den Ausbau einer Organisationsstruktur mit den wichtigsten indigenen Akteuren, es thematisiert auch die Etablierung des indigenen Diskurses in der ecuadorianischen Öffentlichkeit. Überdies schildern die anschließenden Abschnitte die konfliktreiche Beziehung zwischen den indigenen Organisationen und dem ecuadorianischen Staat. Des Weiteren wird anhand der konstruktivistischen Ethnizitätstheorie erläutert, wie eine einheitliche, nationale und indigene Bewegung[2] entstehen konnte, die in den 1980er und 1990er Jahren durch medienwirksame Aufstände und strikte Forderungen national und international auf sich aufmerksam machte.

2.1 Die Konquista und ihre Folgen

Als 1527 Francisco Pizarro mit seiner Expedition an der Westküste Ecuadors auf die heutige Stadt Manabí stieß, herrschte das Inka-Imperium, das sich über die heutigen Staaten Chile, Argentinien, Peru und Bolivien bis hin nach Ecuador erstreckte. Pizarro blieb nur eine kurze Zeit an der Westküste, bis er nach Spanien umkehrte, um die königliche Erlaubnis und die nötige Finanzierung für eine weitere Expedition zu erbitten. 1531 kehrte er zurück und landete mit seinen Soldaten im heutigen Tumbes (Peru). Von dort kommandierte er seine Expedition ins Landesinnere. Der Prozess der Konquista setzte ein (vgl. Feser 2005: 83f.).

Tzvetan Todorov beschreibt die Konquista als den „größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit“ (Todorov 1982: 13). Dabei steht für ihn die direkte Tötung, also im Verlauf des Krieges oder abseits von Kriegshandlungen, nicht an erster Stelle der Ursachen für die erhebliche Zahl der Opfer. Vielmehr sind für ihn die unmenschliche Behandlung der versklavten Einheimischen, die schlechten Arbeitsbedingungen und ein unerträglicher Arbeitsrhythmus die Ursachen, die zu einem schnellen Tod der Bevölkerung führten. Weitere Folgen der Versklavung waren, dass sich die Bevölkerung, aus Angst einen Sklaven zu zeugen, nicht fortpflanzte. Als dritte Ursache der Dezimierung der einheimischen Bevölkerung nennt Todorov den Tod durch Krankheiten. Die ausgelaugte Bevölkerung war körperlich anfällig für Erreger (vgl. Todorov 1982: 162ff.).

Die Situation der verbliebenen indigenen Bevölkerung änderte sich in den darauffolgenden Jahrzehnten bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht. Die einheimische Bevölkerung, Frauen wie auch Männer, arbeiteten als Huaspungeros, als unbezahlte Arbeiter, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ihren Lehnsherren auf den Großgrund-Haziendas zu dienen hatten. Ihre Arbeitsbereiche waren die Landwirtschaft und der Ackerbau, der Minenbau sowie die Textilherstellung und das Handwerk. Das Prinzip der Leibeigenschaft bot der spanischen Krone die Möglichkeit, Produktion, Einkommen und Steuerabgaben zu sichern und zugleich die Kontrolle und Herrschaft über die indigene Bevölkerung zu erhalten. Meistens arbeiteten die Angehörigen einer indigenen comunidad[3] auf einer Großgrund-Hazienda. Diesen comunidades wurden Missionare zugesprochen, die die Evangelisierung für die Einheimischen vorantreiben sollten (vgl. Garcés Dávila 1992: 50f.).

Wenn hier von der indigenen Bevölkerung gesprochen wird, die unter der spanischen Kolonialherrschaft litt, ist der Großteil der Indigenen, die im südöstlichen Amazonasgebiet lebten, ausgenommen. Die Eroberer trafen vor allem auf die einheimischen Bewohner der Anden- und Küstenregion und des nördlichen Amazonasareals, auch Quijos genannt. Die Bevölkerung des Amazonasgebiets blieb von den Eroberungsversuchen verschont und wurde erst ab 1960 durch die Entdeckung der Naturressourcen im Amazonasgebiet in ihrer Existenz bedroht (vgl. ebd.: 58).

2.2 Die Entstehung indigener Organisationen - Costa,Sierraund Oriente

Während des 19. Jahrhunderts bis hin zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren Aufstände der Sklaven und Landarbeiter auf den Haziendas an der Tagesordnung. Die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen und der damit einhergehende körperliche Zerfall führten zum Widerstand der indigenen Arbeitskräfte. Dabei versuchten sich die Sklaven verschiedener Haziendas zu verbünden und gemeinsam Widerstände zu planen[5]. Es entstanden lokale Gruppierungen, die sich bemühten, unter der Kolonialherrschaft zu existieren (vgl. Moreano 1993: 218ff.).[4]

Diese Gruppierungen und ihre Resistenz wuchsen besonders in den 1940er und 1950er Jahren, als das System der Großgrundbesitzer in eine Krise stürzte. Die Modernisierung Ecuadors und der Nachkriegsboom in den Vereinigten Staaten erhöhten die Nachfrage nach Arbeitskräften sowie Produkten, vor allem nach Bananen und Kakao. Diese wirtschaftliche Entwicklung brachte das starre Herrschaftssystem auf den Haziendas ins Wanken. Die Kommunen forderten die Modernisierung und Öffnung des Systems der Haziendas. Diese Umbruchphase wurde von den indigenen Arbeitskräften genutzt, um sich weiter zu vernetzen und Proteste zu realisieren. Anfang der 1960er Jahre ging die Nachfrage nach Exportgütern in Ecuador zurück und die Wirtschaft fiel in eine Rezession. Besonders im Anden- und Küstengebiet förderte die schlechte Lage den Zusammenhalt der Huaspungeros in Gewerkschaften. Angeregt durch die kubanische Revolution forderten sie in den ersten Aufständen im Jahr 1961 die Abschaffung des Großgrundbesitzertums und der Sklaverei. Diese Forderungen wurden in der Agrarreform von 1964 weitgehend erfüllt (vgl. Albó 2008: 120ff.).

1963 kam eine militärische Regierung an die Macht, die den Kommunismus und alle ihm angeschlossenen Organisationen als verfassungswidrig erklärte. Durch die von ihr verabschiedete Agrarreform von 1964 sollte zum einen dem bäuerlichen Protest entgegen gewirkt und das Großgrundbesitzerregime beendet werden. Zum anderen sollte der Agrarsektor dem Weltmarkt angepasst und einer Modernisierung unterzogen werden. Die leibeigenen Landarbeiter sollten mit dieser Reform zu Kleinbauern und Landeigentümern werden. Auch wenn die Verteilung des Landes pro Kleinbauer minimal ausfiel (rund 3,5 Hektar pro Bauer) und die Qualität des Bodens oftmals schlecht war, da das fruchtbare Land in den Händen der Großgrundbesitzer blieb, wurde die Leibeigenschaft abgeschafft (vgl. Black 1999: 12).

Die Abschaffung des Sklavensystems stimulierte eine Expansion der ökonomischen Aktivitäten der indigenen Bevölkerung. So wurden die indigenen Bauern zu Hauptlieferanten von Agrarprodukten. Außerdem stieg die Zahl derjenigen, die Folklore-Produkte anfertigten und verkauften. Diese wirtschaftlichen Aktivitäten förderten die soziale Differenzierung innerhalb der indigenen Bevölkerung: Es entstand eine kleine Mittelschicht, die die Produkte der indigenen Bauern vertrieb und sich von den armen, indigenen Landarbeitern abhob (vgl. Moreano 1993: 222f.).

Die zweite Agrarreform im Jahr 1973 hatte geringere Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung in der Sierra und Costa als auf die Bevölkerung der Amazonasregion. Mit der Entdeckung des Ölvorkommens im Oriente kam ein großer Migrationsstrom von Bauern in diese Region. Die zweite Agrarreform regelte die Zuschreibung von Parzellen an diese Siedler. Denn die Regierung sah den Ölexport als Alternative zu der in der Krise steckenden Agrarwirtschaft und wollte der Migration ins Amazonasgebiet nachhelfen. Zudem unterstützte die Militärregierung die Abwanderung der Bauern durch den Bau eines Straßennetzes und einer technischen Infrastruktur im Amazonasgebiet. Das Ölgeschäft boomte. Der Export von Petroleum stieg ab 1970 von 204.600 Barrel auf 45 Millionen Barrel im Jahr 1981 an (vgl. Black 1999: 15f.). Schon vor dem Ölboom existierten indigene Gruppierungen im Oriente. Doch erst der zunehmende Ölabbau mit seinen Folgen war der Auslöser für die stärkere Gruppenvernetzung.

Ein weiterer Effekt der beiden Agrarreformen war das entstandene Gesetz Ley de Organización y Régimen de Comunas, das die Zusammenschlüsse der indigenen Gemeinden zu provinzialen Verbänden legalisierte und somit eine Organisationsbildung vorantrieb (vgl. Sánchez-Parga 2007: 81). Die durch das koloniale Herrschaftssystem zerstörten Strukturen der comunidades wurden durch dieses Gesetz wiederbelebt. Die comunidades bildeten einen Raum, in dem sich die indigene Bevölkerung unter extremen Bedingungen in der nationalen Wirtschaft solidarisch füreinander einsetzte. Die indigene Mittelschicht erlebte durch den Handel mit Erzeugnissen und Folklore-Produkten indigener Bauern den Aufstieg in die nationalen und internationalen Märkte. Innerhalb dieser Mittelschicht entwickelte sich eine indigene intellektuelle Elite, die Universitäten im In- und Ausland besuchte und für das Erstarken der indigenen Bewegung eine wichtige Rolle spielte und immer noch spielt (vgl. Moreano 1993: 224f.).

Diese intellektuelle Elite ist die Brücke zwischen den indigenen comunidades und dem Staat, die für die Entstehung der indigenen Bewegung notwendig war. Denn durch den Zusammenstoß mit der Mestizenkultur konnte sich der indigene Diskurs formen: Dadurch, dass die eigene ethnische Identität der Mestizenidentität gegenüberstellt wurde, konnten die Unterschiede der indigenen zur mestizischen Lebenswelt thematisiert und die Forderungen nach Anerkennung und Gleichberechtigung artikuliert werden. Durch diese Elite, die zwischen der comunidad und dem Staat stand, konnte der indigene Diskurs auf nationaler und internationaler politischer Ebene eingeführt werden und sich um 1970 in ganz Lateinamerika ausbreiteten. Um die 1980er Jahre bildete sich die indigene Bewegung, die von den indigenen Organisationen getragen wurde und den indigenen Diskurs nutzte, um sich zu legitimieren. Die indigenen Organisationen regten politische Diskurse an und erschufen Strategien, um die indigene Bevölkerung zu mobilisieren und so die Regierung zum Handeln zu zwingen (vgl. Caudillo Félix 2005: 46-51).

2.2.1 Die Bildung einer Organisationsstruktur

Bei der Entwicklung der wichtigen indigenen Organisationen in Ecuador spalten sich die Meinungen bezüglich ihrer Entstehung[6]. Jedoch kann behauptet werden, dass durch die erste Agrarreform im Jahr 1964, durch das Ley de Organización y Régimen de Comunas und durch den steigenden Ölexport die Organisationsbildung vorangetrieben wurde. Es entstanden viele indigene Vereinigungen, die sich miteinander vernetzten. In den darauffolgenden Jahren nahm der organisatorische Aufbau auf verschiedenen Ebenen zu und es entwickelten sich nationale Dachverbände wie die Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador (CONAIE), die Federación Ecuatoriana de Indígenas Evangélicos (FEINE) und die Federación Nacional de Campesinos Libres del Ecuador (FENACLE). Diese nationalen Dachorganisationen konkurrieren bis heute um die einzelnen Organisationen, allerdings ist die CONAIE der mit Abstand größte Dachverband.

Die Dachverbände haben einen klaren organisatorischen Aufbau, der aus verschiedenen Ebenen besteht. Die Mitgliedschaft ist nicht individuell, sondern kollektiv. Das bedeutet, dass die Mitglieder der übergeordneten Einheiten keine Einzelpersonen sind, sondern die jeweiligen Organisationen der nächsten unteren Einheit. Die Verbindungen zwischen den Ebenen werden durch Delegiertenwahlen hergestellt. Die erste Ebene ist die Basiseinheit, also ein Dorf, beziehungsweise eine comunidad oder ein dorfähnlicher Zusammenschluss. Auf der zweiten Ebene befinden sich mehrere dieser Einheiten, die sich in einer Organisation zusammengeschlossen haben. Die Amtsträger der Organisationen der zweiten Ebene werden von Vertretern der ersten Ebene gewählt. Auf der dritten Ebene befinden sich die Föderationen des Amazonas-Tieflands, der Küste und des Hochlands, die wiederum unter regionalen Dachverbänden vereint sind. Die Führungsgremien der Föderationen wählen bei Zusammenkünften die Leitung ihrer Konföderation. Diese Konföderationen gehören den jeweiligen nationalen Dachorganisationen an (vgl. Blum 2000: 52f.).

Die folgende Abbildung veranschaulicht die Organisationsstruktur innerhalb der CONAIE. Auf der Ebene 1 und 2 sind exemplarisch Auszüge der Mitgliedsvölker beziehungsweise Mitgliedsorganisationen angegeben.

Abbildung 1: Organisationsstruktur (vier Ebenen) der indigenen Organisationen in Ecuador (N.G. 2009).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2.2 Der Levantamiento Nacional Indígena von 1990

„In June of 1990, the mountains of the Ecuadorian Sierra provided the setting for a spectacular display of protest. For an entire week, tens of thousands of Indian peasants stopped delivering farm produce to the towns and blocked the main highways, picketed on the roadsides, and marched en masse in regional capitals. In some places, demonstrates seized the offices of government agencies, and in others, localized skirmishes reportedly broke out where landowners and Indian communities had been embroiled in unresolved land disputes.” (Zamosc 1994: 38)

Dieses Zitat beschreibt die Ausmaße des Levantamiento Nacional Indígena im Juni 1990. Der Levantamiento Nacional Indígena war der erste Aufstand, an dem indigene Gruppen aus allen drei Regionen beteiligt waren. Zudem wurde er von den Medien als Beginn der indigenen Bewegung deklariert. Nach dem Aufstand nahm die Präsenz und Partizipation der indigenen Organisationen in der ecuadorianischen Politik zu, was den indigenen Diskurs in der Öffentlichkeit verstärkte.

Der Aufstand begann mit der Besetzung der Santo Domingo Kathedrale in Quito, in der eine Liste mit 16 Forderungen[7] durch einige indigene Repräsentanten vorgetragen wurde. Neben den Forderungen der Deklaration eines plurinationalen Staates und der Rückgabe von Land und Territorien zugunsten der indigenen Völker wurden infrastrukturelle und ideologische[8] Rechte geltend gemacht.

Die CONAIE hatte im April 1990 die regionalen Dachverbände um Mithilfe bei der Mobilisierung der einzelnen indigenen Organisationen gebeten. Einzelne Initiativen entstanden, die sich in unterschiedlicher Weise beteiligten, zum Beispiel durch Straßensperren, Boykotte, Märsche und Besetzungen von Regierungsbüros (vgl. Selverston-Scher 2001: 58f.).

Der zu dieser Zeit regierende Präsident Rodrigo Borja[9] der sozialdemokratischen Partei Izquierda Democrática setzte die Polizei und Armee ein, um den Aufstand zu unterdrücken. Aufgrund des friedlichen Verhaltens der Teilnehmer kam es zu wenigen Gewaltanwendungen. Der Aufstand wurde nach einer Woche offiziell beendet, nachdem die Regierung einem Dialog mit der CONAIE zustimmte. Die Tatsache, dass sich die Regierung auf Verhandlungen mit der CONAIE einließ und der Präsident persönlich daran teilnahm, demonstrierte der Öffentlichkeit den Erfolg der Demonstration. Die Folge war, dass das Movimiento Indígena an Legitimation gewann. Die indigenen Organisationen erlangten Präsenz und Stimme in der internationalen Öffentlichkeit, was durch die Übertragung des Aufstands durch die Medien begünstigt wurde, aber auch dadurch, dass der tägliche Betrieb des Landes beeinträchtigt wurde (vgl. Cott 2005: 111).

Der Levantamiento Nacional Indígena war das entscheidende Ereignis, das den indigenen Organisationen eine Stimme gab. Es verpflanzte den indigenen Diskurs in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Regierungsebenen. Das erklärt auch die Gründung von staatlichen Organen, die für indigene Belange zuständig sind, wie zum Beispiel der Rat für die Entwicklung der indigenen Völker und Nationalitäten in Ecuador, Consejo de Desarrollo de los Pueblos y Nacionalidades del Ecuador (CONDENPE). Die Liste der Forderungen, die veröffentlicht wurde und Grundlage für die Verhandlungen mit der Regierung war, beinhaltet die Themen, die bis heute den indigenen Diskurs in Ecuador bestimmen.

Es folgten weitere Aufstände und Proteste der indigenen Bevölkerung, durch die bis heute viele Rechte und Zugeständnisse durchgesetzt werden konnten. 1994 verschärfte sich die Lage, als die Regierung unter Sixto Durán Ballén[10] ein Agrargesetz verabschiedete, das die Land- und Wasserprivatisierung modernen Agrarbetrieben und -gesellschaften zuschrieb. Rund 3.500 Teilnehmer indigener Gruppen beteiligten sich an einem Aufstand. Sie besetzten Ölfirmen, blockierten Straßen und demonstrierten gegen das Gesetz. Die Regierung änderte das Gesetz aufgrund von internationalem Druck (vgl. ebd.: 112).

Die Aufstände der indigenen Bevölkerungs- und Interessensgruppen waren und sind bis heute ein geeignetes Druck- und Machtmittel der indigenen Organisationen gegen die Regierung. Diese Demonstrationen dienten und dienen dazu, den indigenen Diskurs in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit aufzufrischen und ihn somit überlebensfähig zu machen.

2.2.3 Das Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik - Nuevo País (MUPP-NP)

Seit den 1980er Jahren konnten Vorsitzende und Leiter von indigenen Organisationen im Bündnis mit Parteien an Wahlen teilnehmen. Viele dieser indigenen Politiker riefen die indigene Bevölkerung zum Wählen auf, vor allem nachdem 1979 Analphabeten zu Wahlen zugelassen wurden. Der Prozentsatz an indigenen Wählern stieg so in den Jahren von 1979 bis 1986 von 19 Prozent auf 45 Prozent an.

Das ecuadorianische Parteiensystem war von 1980 bis 2002 offen für neue, kleine Parteien. Da die vier größten und beständigsten Parteien oftmals nicht mehr als 20 Prozent der Stimmen erreichten, wurden Koalitionen mit mehreren Parteien gegründet. Das gab kleinen Parteien die Möglichkeit, Teil der Regierung zu werden.

Die CONAIE war die erste indigene Organisation in Ecuador, die ihre eigene politische Partei formte. Die 13. CONAIE Versammlung im Jahr 1996 entschied, dem Bündnis zwischen der von der Conferderación de Nacionalidades de la Amazonía Ecuatoriana (CONFENIAE) gegründeten Partei namens Movimiento Político Pachakutik und einer neuen Koalition von linksorientierten Gruppen und Gewerkschaftsführern, Movimiento de Ciudadanos por un Nuevo País, beizutreten und als Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik - Nuevo País (MUPP-NP) an den Parlamentswahlen im Mai 1996 teilzunehmen (vgl. Cott 2005: 113-124).

Die Partei zog mit acht von 80 Sitzen als drittstärkste Kraft ins Parlament ein. Die Beteiligung der Partei an der verfassungsgebenden Versammlung war entscheidend für die Aufnahme kollektiver Rechte der indigenen Völker in die Verfassung von 1998.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 ging Lucio Gutíerrez mit seiner Partei Partido Sociedad Patriótica ein Wahlbündnis mit dem MUPP-NP ein. Das Bündnis hielt allerdings nur sechs Monate. Gutíerrez verwies das MUPP-NP aus dem Bündnis, weil die Delegation im Kongress die Unterstützung für das vorgeschlagene Beamtenrecht verweigerte. Die CONAIE rief daraufhin zum Protest gegen die Regierung auf. Als Antwort darauf bildete Gutíerrez eine neue Organisation, Frente de Defensa de los Pueblos Indígenas, Campesinos y Negros del Ecuador (FEDEPICNE), die das Regierungssekretariat für indigene Belange kontrollieren sollte. Diese Aufgabe oblag vorher der CONAIE.

Zu den Präsidentschaftswahlen 2006 nominierte das MUPP-NP mit Luis Macas erstmals einen eigenen indigenen Präsidentschaftskandidaten. Allerdings erhielt er nur zwei Prozent der Stimmen (vgl. ebd.: 132-137).

Die Anzahl der Kongressabgeordneten des MUPP-NP blieb bis ins Jahr 2008 konstant. Im September 2008 stimmte die ecuadorianische Bevölkerung über eine neue Verfassung ab. Diese neue Verfassung wurde im Oktober 2008 unter Rafael Correa, dem amtierenden Präsidenten, in Kraft gesetzt. Die Verfassung sieht ein kostenloses Gesundheitssystem und den unentgeltliche Zugang zu Bildungseinrichtungen vor. Beides soll durch die Einnahmen aus Privatisierungen im Wassersektor, aus der Ölgewinnung und aus dem Bergbau finanziert werden.

In die Verfassung wurde das indigene Konzept des sumak kawsay (aus dem Quechua übersetzt: harmonisches Leben) integriert. Es steht für die nachhaltige Nutzung der Natur und das gute Zusammenleben der Menschen. Ein Jahr nach Inkrafttreten der Verfassung nahm die indigene Bewegung, angeführt von der CONAIE, immer mehr Abstand von der Gesetzgebung und von Präsident Rafael Correa. Laut Aussagen der CONAIE übergeht die neue Verfassung die indigenen Anliegen bei den Themen Biodiversität, Erdöl und Bergbau und gefährdet somit den Lebensraum der indigenen Bevölkerung. Zudem übt die CONAIE Kritik an der für sie zu neoliberalen Haltung des Präsidenten (vgl. Crncic 2009).

Die indigene Bevölkerung protestierte auch gegen weitere Gesetzeserlasse wie im Februar 2009 gegen das Bergbaugesetz, das den Minenabbau privatisierte. Laut CONAIE stellt der Minenabbau eine Gefährdung des Lebensraumes der Anden- und Amazonasvölker dar (vgl. elcomercio.com 01.07.2009).

Wie hier zu erkennen ist, schafft es die indigenen Organisationen als Diskursträger politische und gesellschaftliche Geschehen mitzubestimmen. Als Träger des indigenen Diskurses nehmen die unterschiedlichen Akteure an wichtigen politischen Entscheidungen teil, wie zum Beispiel an der Entwicklung der neuen Verfassung. Allerdings ist zu festzustellen, dass die Präsenz politischer indigener Vertreter im Vergleich zu nicht-indigenen Politikern gering ausfällt und somit die Entscheidungsmacht bei Letzteren liegt. Diese Machtkonstellation wird von indigenen Repräsentanten kritisiert. Sie sehen die Rechte der indigenen Bevölkerung bis heute nicht vollständig erfüllt und fühlen sich in ihrem Meinungs- und Entscheidungswillen unterdrückt (vgl. Paget 06.06.2008).

2.3 Ethnische Identität als Motor der indigenen Bewegung

Es stellt sich in Hinblick auf die Entwicklung und den Werdegang der indigenen Bewegung in Ecuador die Frage, wie eine solche einheitliche Kraft entstehen konnte, die zusammen für die Rechte aller indigenen Gruppen kämpft. Im Anhang ist in Tabelle I zu sehen, dass mehrere indigene Gruppen[11] die Regionen Ecuadors bevölkern. Sie unterscheiden sich durch Sprache, Tradition, Weltanschauung und besiedeln unterschiedliche Territorien. Zudem wurden sie von der Kolonialzeit bis heute mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert. Umso interessanter ist der Umstand, dass sich diese Gruppen zu einer nationalen Bewegung zusammengeschlossen haben.

Erklären lässt sich das dadurch, dass die indigene Bevölkerung untereinander eine Gemeinsamkeit teilt, auch wenn innerhalb dieser Bevölkerung unterschiedliche Gruppen existieren, die sich durch verschiedene Attribute unterscheiden: Sie fühlen sich alle als Indios beziehungsweise als Indígena - sie besitzen eine kollektive ethnische Identität.

Laut der konstruktivistischen Position ist die ethnische Identität ein Konstrukt, das künstlich fabriziert und als Instrument für bestimmte Machtinteressen genutzt wird (vgl. Heckmann 1997: 46).

Das folgende Zitat spielt auf die Konstruktion von ethnischen Gruppen an, die eine kollektive Identität annehmen und diese für ihre Interessen nutzen. Zudem wird deutlich, dass dieser Prozess mit Selbst- und Fremdzuschreibungen verbunden ist:

„Wenn Indio der Name gewesen ist, mit dem wir unterworfen worden sind, wird Indio der Name sein, mit dem wir uns erheben werden.“ (Vilca Apaza, Pedro 1979, zitiert nach: Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit 2004)

Die Bezeichnung Indio wurde den Angehörigen indigener Völker von spanischen Konquistadoren und den Geschichtsschreibern gegeben und ist somit fremdbestimmt. Die Konquistadoren konstruierten ein Bild des Indio, des fremden, unselbstständigen und primitiv lebenden Ureinwohners. Dieser Terminus wurde von der Wissenschaft übernommen und hielt auch Einzug in die politischen, juristischen, sozialen und kulturellen Bereiche. Dieses Konstrukt, das sich als Konzept des Indigenismus in den verschiedenen Bereichen etablierte, zeigte sich in den politischen und sozialen Praktiken. So bestimmten die Nicht-Indios, was und wer die Indios sind, wie sie sich zu entwickeln haben, welche Sprache sie sprechen müssen und welchen Gesetzen und Bestimmungen[12] sie sich zu unterwerfen haben. Gegen diese Fremdbestimmung erhoben sich die Indios. In dem Aufbegehren gegen die Konquistadoren und Großgrundbesitzer sowie in den späteren Aufständen, beispielsweise beim Levantamiento Nacional Indígena, wurde das Selbstverständnis der indigenen Bevölkerung deutlich und der Willen zur Selbstbestimmung geäußert. Das Konzept der Indigenidad fasst diese Autonomiebestrebungen und die damit verbundenen Forderungen zusammen. Zudem wurde im Zuge der Indigenidad die indigene Kultur neu bewertet. Die von der Gesellschaft konstruierten Attribute eines Indios wurden positiv besetzt und somit identitätsstiftend für alle Teilnehmer, die sich als Indio fühlten (vgl. Hartwig 1994).

Der konstruktivistische Ansatz versucht zu erklären, warum sich Menschen zu einer Gruppe zugehörig fühlen. Warum finden Menschen, die durch ökonomische, politische, soziale und kulturelle Interessen voneinander getrennt sind, Gemeinsamkeiten? Warum fühlen sie sich als Mitglieder einer ethnischen Gruppe und handeln gemeinsam?

Der Konstruktivist Fredrik Barth (1969) postuliert in seiner Theorie der Ethnic Boundaries, dass sich ethnische Gruppen nicht durch ontologische Zuschreibungen bestimmter Eigenarten biologischer und kultureller Art bestimmen, wie es die primordialistische Position behauptet, sondern durch die Erhaltung von sozialen Grenzen gegenüber anderen sozialen Gruppen. Diese Grenzen werden zugeschrieben und unterliegen sozialem Wandel. Im Mittelpunkt seines Ethnizitätsbegriffs steht die Zuschreibung bestimmter Charakteristika als Kriterium der Mitgliedschaft zu einer Gruppe. Dabei wird diese Zuschreibung von der Gruppe selbst und auch von Fremdgruppen jenseits ethnischer Grenzen vollzogen. Ethnisches Bewusstsein lässt sich in der Gruppe als erfahrbar verifizieren und wird durch Symbole und Traditionen konkretisiert. In der Gruppe vermengen sich die verschiedenen Ebenen ethnischen Bewusstseins wie Alltagserfahrungen, Ortsbezogenheit, Mythen und Traditionen. Die Elite der Gruppe manipuliert Symbole oder schöpft sie neu, um den Gruppenzusammenhalt zu festigen. Beispiele für solche manipulierten Symbole sind Flaggen, Embleme oder andere Erkennungszeichen (vgl. Blaschke 1985: 181f.).

So wurde zum Bespiel die Regenbogenflagge das Symbol der indigenen Bewegung in Ecuador. Die einzelnen Organisationen übernahmen dieses Symbol und erweiterten es mit ihren Emblemen. Auch die vielen Levantamientos Nacionales Indígenas können als Mittel zur Festigung des Gruppenzusammenhaltes gesehen werden, da sie das Konstrukt Indio für jedes Mitglied erfahrbar machten und somit dieses Konstrukt stärkten.

Wie konnten sich die vielen unterschiedlichen indigenen Gruppen in Ecuador, die kein gemeinsames Selbstverständnis und keine einheitliche politische Position haben, zu einer einheitlichen indigenen Bewegung formieren? Es ist zu vermuten, dass sie sich im Konstrukt Indígena oder Indio, das soziale und kulturelle Gemeinsamkeiten gegenüber der mestizischen Majoritätsgruppe konstruiert, wiederfinden. Die indigene Elite setzte die ethnische Identität, das Indígen-Sein, in den Mittelpunkt des indigenen Diskurses, woraus ein neues politisches Subjekt entstand. Dieser Ethnisierungsprozess entwickelte sich im Rahmen gesellschaftlicher Prozesse, in denen kolonial verwurzelte Strukturen der Exklusion und Benachteiligung der Indios, trotz demokratischer Staatsverfassungen, nicht überwunden waren. Zudem ist die Entstehung der indigenen Bewegung mithilfe des Konstruktes Indio auch als Chance für die einzelnen indigenen Gruppen und Akteure zu sehen, sich durch dieses Konstrukt zu legitimieren und ihre eigenen Forderungen darin zu platzieren.

Henri Tajfel, dessen theoretische Ansätze zu Gruppen und Gruppenbeziehungen im folgenden Kapitel erläutert werden, behauptet, dass keine Gruppe ohne andere Gruppen existiert: „Alle Gruppen in der Gesellschaft existieren inmitten anderer Gruppen.“ (Tajfel 1982: 104)

Gruppen entwerfen Selbst- und Fremdbilder, um sich als Gruppe zu positionieren und von anderen Gruppierungen abzugrenzen. Warum eine Abgrenzung nötig ist und wie sie vollzogen wird, erläutert das nächste Kapitel.

3 Prozesse der Intergruppendifferenzierung nach Henri Tajfel

Henri Tajfel (* 22. Juni 1919 in Polen; † 3. Mai 1982 in England) hat mit seinen sozialpsychologischen Theorien einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung von Gruppenbeziehungen und -verhalten geliefert.

Seine Theorie der sozialen Identität (TSI) und die darin enthaltenen Konzepte der Strategien der Intergruppendifferenzierung sowie die Funktionen von sozialen Stereotypen werden im Folgenden vorgestellt.

3.1 Die Theorie der sozialen Identität (TSI) nach Henri Tajfel

Tajfel beobachtete soziale Situationen, in denen zwei Gruppen[13] aufeinander treffen. Er stellte fest, dass die Outgroup[14] von Mitgliedern einer Ingroup abgewertet und die Ingroup favorisiert wurde. So stellte er sich die Frage, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe Auswirkungen auf die Einstellung zu anderen Fremdgruppen hat (vgl. Tajfel 1982: 65).

In seiner Untersuchungsreihe mit minimalen Gruppen[15] zeigte sich, dass bereits die Klassifikation in eine Gruppe ausreichte, um Intergruppendiskriminierung[16] auszulösen. Bei den Untersuchungen wurden in mehreren Ländern männliche und weibliche Versuchpersonen unterschiedlichen Alters in zwei Gruppen eingeteilt. Dies geschah anhand völlig belangloser Kriterien, der Präferenz für die Maler Klee oder Kandinsky. Es fanden keine Interaktionen zwischen den Versuchspersonen innerhalb einer Gruppe und zwischen den Gruppen statt, so dass die Identität der Teilnehmer anonym blieb. Diese extrem reduzierte soziale Ausgangslage ermöglichte die Überprüfung der Auswirkungen der bloßen sozialen Klassifikation (in Klee- oder Kandinsky-Gruppe). Die Teilnehmer sollten verschiedenen Empfängern Geldbeträge zuweisen, indem sie Entscheidungsmatrizen ausfüllten. Die Identität der Empfänger blieb unbekannt, jedoch wurde ein Kürzel für die Gruppenzugehörigkeit des Empfängers angeführt. Um Eigeninteresse als Motiv auszuschließen, war es den Versuchspersonen untersagt, sich selbst Geldbeträge zu übertragen

[...]


[1] Der Konflikt besteht darin, dass die indigenen Organisationen die Abschaffung des Gesetzes Ley Minera forderten. Der ecuadorianische Staat ging nicht auf die Einwände der indigenen Organisationen gegen das Gesetz ein und so wurde es von der legislativen Kommission einstimmig verabschiedet. Das Gesetz legalisiert die Privatisierung des Bergbaus.

[2] Die indigene Bewegung in Ecuador wird als eine soziale Bewegung definiert, da sie Änderungen in der Gesellschaftsordnung fordert (vgl. Moreano 1993: 216). Der Begriff soziale Bewegung wird folgendermaßen definiert: „Eine soziale Bewegung ist ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests - notfalls bis hin zur Gewaltanwendung - herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.“ (Rucht 1994: 77) Die indigenen Organisationen und ihre Organisationsstruktur bilden das „Handlungssystem mobilisierter Netzwerke“ (ebd.: 77) und führen die soziale Bewegung an. Sie konstruierten eine kollektive Identität des Indios, mit der sich die indigene Bevölkerung identifizieren konnte und sicherten so das Bestehen des Systems der indigenen Bewegung (siehe Punkt 2.3).

[3] Tibán (2001: 35) definiert comunidad folgendermaßen: „[...] colectividades originarias, conformadas por comunidades o centros con identidades culturales que les distinguen de otros sectores de la sociedad ecuatoriana, regidos por sistemas propios de organización social, económico, político y legal.”

[4] Die spanischen Begriffe Costa, Sierra und Oriente stehen für die drei geographischen Regionen Ecuadors: Costa ist das Küstengebiet, Sierra das Anden- und Oriente das Amazonasgebiet. Im Anhang befindet sich eine Karte dieser drei Regionen.

[5] Der folgende Kommentar beschreibt sehr anschaulich, wie die Planung von Widerstandsaktionen vollzogen wurde: „Nosostros, para ocupar una hacienda, teníamos que hacer todo un estudio con la probia gente que iba a participar, dónde estaba ubicada, cuántos trabajadores tenían, quiénes eran los jefes, tenían seguridad, tenían armas, tenían perros ... si el dueño era influyente políticamente ... las vías por va a llegar la ayuda [...].” (Lluco, Miguel (2006), zit. nach: Albó 2008: 132)

[6] Xavier Albó (2008) nennt als erste indigene Organisation in Ecuador die Federación Ecuatoriana de Indios (FEI), die sich in den 1920er Jahren mit der Confederación de Trabajadores Ecuatorianos (CTE), einer marxistisch orientierten Gewerkschaftsorganisation, verbündete, um die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse auf den Haziendas zu überwinden. Porras Velasco (2005) hingegen nennt als die erste indigene Organisation die Federación de Centros Shuar, deren Ziel die Anerkennung der eigenen Kultur und die Erlangung wirtschaftlicher Eigenständigkeit war.

[7] Die Forderungen können unter folgenden Kategorien zusammengefasst werden: Verteidigung der indigenen Kultur und Förderung eines angepassten Erziehungssystems; Verteidigung der Landrechte; Planung und Realisierung von kommunalen Entwicklungsprojekten im Bereich Produktion, Gesundheit und Infrastruktur zur Verbesserung des Lebensstandards der Mitglieder; Verteidigung der natürlichen Ressourcen (vgl. Selverston-Scher 2001: 135).

[8] Melina Selverston-Scher schildert, dass ihr Indigene auf die Frage, warum sie an dem Aufstand teilnahmen, nicht nur strukturelle Gründe wie z.B. Landrechte angaben, sondern vielmehr ideologische Gründe wie z.B. Gleichberechtigung, Anerkennung, Würde und Aufmerksamkeit nannten (vgl. ebd.: 60).

[9] Rodrigo Borja amtierte von 1988 bis 1992 als Präsident von Ecuador.

[10] Sixto Durán Ballén amtierte von 1992 bis 1996 als Präsident von Ecuador.

[11] Es werden indigene nacionalidades und pueblos unterschieden. In Ecuador sind 13 nacionalidades mit eigener Sprache anerkannt. Der Begriff nacionalidad wird auf eine gemeinsame Geschichte, Sprache, Kultur und/oder eigene Formen des sozialen Miteinanders bezogen. In diesen 13 nacionalidades existieren wiederum pueblos indígenas, die die Sprache mit anderen pueblos indígenas innerhalb der Gruppe teilen, sich aber durch religiöse, dialektale oder äußerliche Merkmale, wie z.B. Kleidung, von ihnen unterscheiden (vgl. Chisaguano 2006). Im Anhang befindet sich eine Auflistung der 13 nacionalidades in Tabelle I. In der Tabelle II sind alle pueblos indígenas verzeichnet.

[12] Beispiele für diese Fremdbestimmung finden sich u.a. in der Convention No. 107 der International Labour Organization (ILO) (vgl. International Labour Organization 2006).

[13] Für Tajfel ist eine Gruppe „[…] das Ergebnis von Wahrnehmungen, die konsensual von innen und außen zur selben Kategorisierung führen. Drei interne Komponenten, die die Gruppenidentifikation betreffen, werden hinzugefügt, wobei die kognitive Komponente mindestens vorhanden sein muss: 1. kognitive Komponente: Das Wissen um die eigene Mitgliedschaft. 2. evaluative Komponente: Positive/negative Bewertung der Gruppenmitgliedschaft bzw. die damit verbundenen Wertkonnotationen. 3. emotionale Komponente: Gefühle, die mit den beiden genannten Komponenten einhergehen (wie Liebe oder Hass, Zuneigung oder Abneigung) und mit der eigenen und fremden Gruppe in Beziehung stehen“ (Tajfel 1982: 70).

[14] Der Begriff Outgroup ist der englische Ausdruck für Fremdgruppe, mit der sich das Individuum nicht identifiziert und sich nicht zu dieser Gruppe zugehörig fühlt. Der Begriff Ingroup ist der englische Ausdruck für Eigengruppe. Die Ingroup ist die Gruppe, der eine Person angehört. Die Angehörigen einer Ingroup fühlen sich dieser zugehörig, entwickeln ein Wir-Gefühl und identifizieren sich mit dieser Gruppe. Die Dichotomie zwischen In - und Outgroup erfolgt durch kognitive Prozesse beim Individuum und, wie man unter Punkt 3.1.1 sehen wird, durch soziale Kategorisierung (vgl. Güttler 2000: 137f.).

[15] Minimale Gruppen sind Ad-hoc-Gruppen, die für experimentelle Verfahren aufgrund willkürlicher Kategorien ohne Interaktion zwischen oder innerhalb der Gruppen und ohne Kenntnis der Mitglieder der Eigen- oder Fremdgruppe zusammengestellt werden (vgl. ebd.: 151).

[16] Intergruppenverhalten liegt vor, „[…] wenn Individuen, die einer Gruppe angehören, kollektiv oder individuell mit einer anderen Gruppe oder mit deren Gruppenmitgliedern interagieren. Voraussetzung dazu ist, dass die Gruppenmitglieder sich mit der jeweiligen Gruppe identifizieren und die Handlungen auf der Basis dieser Gruppenmitgliedschaft erfolgen“ (ebd.: 138).

Bei dem Phänomen der Intergruppendiskriminierung bzw. des Intergruppenkonfliktes wird die Eigengruppe individuell oder kollektiv favorisiert und diskriminierendes, feindseliges und/oder aggressives Verhalten gegenüber der Fremdgruppe und ihren Gruppenmitgliedern geäußert (vgl. Stroebe, u.a. 1990: 415).

Excerpt out of 97 pages

Details

Title
Indigene Organisationen in Ecuador: Abgrenzung durch positive Selbst- und negative Fremdbilder
Subtitle
Eine Diskursanalyse
College
European University Viadrina Frankfurt (Oder)  (Kulturwissenschaften)
Course
Soziokulturelle Studien
Grade
1,3
Author
Year
2010
Pages
97
Catalog Number
V194234
ISBN (eBook)
9783656214038
ISBN (Book)
9783656216742
File size
1125 KB
Language
German
Keywords
Diskursanalyse, Ecuador, indigene Bewegung, Henry Taifel, Siegfried Jäger
Quote paper
Nicole Gabor (Author), 2010, Indigene Organisationen in Ecuador: Abgrenzung durch positive Selbst- und negative Fremdbilder, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194234

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