Körperkult, Schönheitswahn und Essstörungen

Hintergründe und Ursachen, Möglichkeiten der Intervention und Prävention in der Sozialpädagogik und interdisziplinär


Diplomarbeit, 2012

146 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Schönheitsideale
1.1 Erklärungsansätze für Schönheit
1.1.1 Der philosophische Bezugspunkt
1.1.2 Ist Schönheit messbar?
1.1.3 Welchen Sinn hat Schönheit?
1.2 Schönheitsideale des Körpers im Wandel der Zeit
1.3 Resümee

2. Körperkult und Schönheitswahn
2.1 Körpermanipulationen und Körpermodifikationen
2.2 Körpermanipulation und -modifikation am Beispiel der kosmetischen Chirurgie
2.3 Der Körper als Ware
2.4 Körperkult und Schönheitswahn als Ablehnung der Natur
2.5 Körperideal und Medienideal

3. Essstörungen: Symptomatik, Epidemiologie und Diagnostik
3.1 Anorexia nervosa
3.2 Bulimia nervosa
3.3 Adipositas
3.4 Binge-Eating-Störung
3.5 Körperschemastörung

4. Erklärungsansätze für Essstörungen
4.1 Biologisch-genetische Ansätze
4.2 Psychoanalytisch-objektbeziehungspsychologische und sozialpsychologische Ansätze
4.3 Psychoanalytisch-triebtheoretische Ansätze
4.4 Familiendynamische Ansätze
4.5 Neo-behavioristische Ansätze
4.6 Soziokulturelle Ansätze
4.6.1 Feministische Ansätze
4.6.2 Kulturtheoretische Ansätze
4.6.3 Medien und Essstörungen
4.7 Identitätstheoretische Ansätze
4.8 Resilienz und protektive Faktoren

5. Essstörungen behandeln
5.1 Stand der Therapieforschung
5.2 Verhaltenstherapien
5.3 Gesprächspsychotherapien und Psychoanalyse
5.4 Familientherapien
5.5 Gestalt- und Körperpsychotherapien
5.6 Feministische Therapie
5.7 Beratung und Selbsthilfe
5.8 Inhalt und Ziele der interdisziplinären Essstörungstherapie
5.8.1 Motivationsarbeit
5.8.2 Anamnese
5.8.3 ANAD – Intensivtherapeutische Wohngruppen
5.9 Sozialpädagogische Begleitung und Unterstützung bei Essstörungen
5.10 Beispiel für ein sozialpädagogisches Behandlungsmodell
5.11 Prävention von Essstörungen
5.11.1 PriMA – Primärprävention Magersucht bei Mädchen ab der 6. Klasse
5.11.2 TOPP – Teenager ohne pfundige Probleme
5.11.3 Torera – Gemeinsam gegen den Stier
5.11.4 Evaluation von PriMa

Schluss

Quellen der Abbildungen

Literaturverzeichnis

Internetquellenverzeichnis

Anhang: EAT-26 D (Eating Attitudes Test 26, deutschsprachige Version)

Einleitung

Die amerikanischen Psychologen Feingold und Mazzella wiesen anhand von 222 Einzelstudien nach, dass sich die Körper-Unzufriedenheit bei Frauen innerhalb von 50 Jahren nach Kriegsende dramatisch gesteigert hat.[1] Auch Ess-Störungen nahmen rapide zu. Kaum eine Kultur ist so stark körperfixiert wie die westliche. Der Körper soll Selbstzufriedenheit ermöglichen, Sympathie und Liebe erwirken, er soll zu Erfolg und Ansehen verhelfen und als Lustobjekt taugen. Dabei soll er fit und gesund sein, aber in erster Linie schön. Dies betrifft insbesondere Frauen, jedoch zeigt sich zunehmend auch bei Männern eine steigende Unzufriedenheit mit ihrem Körper. Ein Psychiater-Team an der Harvard Medical-School untersuchte die zunehmende Körper-Verzweiflung der Männer in den USA und in Europa und stieß immer wieder auf das auch bei Männern weit verbreitete Eingeständnis: „Ich hasse meinen Körper”. Was bei Frauen schon lange nachgewiesen ist, nämlich dass ihre Körperunzufriedenheit in den letzten Jahrzehnten anstieg, wird jetzt auch bei Männern festgestellt. 1972 waren nach einer amerikanischen Studie nur 15 % der männlichen Probanden mit ihrer Gesamterscheinung unzufrieden. 1997 dagegen hatte sich dieser Anteil schon verdreifacht. Bei den weiblichen Probanden war ein Anstieg von 25 % im Jahr 1972 auf 56 % im Jahr 1997 festzustellen. Außerdem zeigte die Studie auch, dass 40 % der befragten Männer mindestens die Hälfte ihrer Freizeit damit zubrachten, ihr Gewicht unter Kontrolle zu halten, 58 % hatten bereits eine Diät hinter sich und 4 % brachten sich zum Erbrechen, um nicht zuzunehmen.[2] Das Auftreten von Körperverachtung und -ablehnung und das Phänomen der Körperschemastörung, bei gleichzeitiger exzessiver Beschäftigung mit dem Körper, ist in dieser Form historisch einmalig. Nicht-westliche Kulturen kennen sie nicht in dieser Weise und in Entwicklungsländern ist Magersucht rar, bei schwarzen Amerikanerinnen selten, und auch in der ehemaligen DDR kam sie kaum vor. Dies legt nahe, dass diese Störungen mit den sozialen Lebensformen zusammenhängen. Während in nicht-westlichen Gesellschaften die Beschaffenheit des Körpers kaum ein Thema ist, stehen die Menschen in den Industrienationen unter dem Diktat, schlank sein zu müssen. Will man zu einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft gehören, setzt das nicht selten intensive Arbeit am Körper voraus. Es gibt bereits viele Möglichkeiten, derer man sich bedienen kann, um den Körper zu verändern. Das beginnt beim einfachen Make-up, geht über Diäten und Fitnesstraining, bis hin zu gefährlichen Schönheitsoperationen. Doch was führt dazu, dass der Körper so in den Fokus gesetzt wird wie in unserer westlichen Gesellschaft? In meiner Arbeit beleuchte ich die Thematik Essstörungen im Zusammenhang mit soziokulturellen Faktoren. Zunächst setze ich mich mit dem Begriff „Schönheit” auseinander und zeige daraufhin auf, dass das Verständnis von Schönheit starken kulturellen und epochalen Veränderungen unterliegt. Anschließend zeige ich am Beispiel der kosmetischen Chirurgie auf, in welchem Maß in unserer heutigen Zeit Manipulationen am Körper vorgenommen werden, um dann näher auf die heutige Sicht auf den eigenen Körper einzugehen und darauf, wie die Medien diese Sicht beeinflussen können. Daraufhin befasse ich mich ausführlich mit der Thematik Essstörungen. Die verschiedenen Arten von Essstörungen wie Magersucht, Bulimie, Binge-Eating-Störung, Adipositas und die Körperschemastörung werden mit ihrer Symptomatik und Diagnostik vorgestellt. Anschließend geht es darum, wie Essstörungen behandelt werden können und welche Möglichkeiten der Prävention bestehen. Dabei gebe ich zuerst einen Überblick über verschiedene Behandlungsmodelle und –ansätze, indem ich diese kurz umreiße und beschäftige mich daraufhin näher mit den sozialpädagogischen Möglichkeiten der Intervention bzw. Prävention. In diesem Zusammenhang stelle ich drei Projekte zur Primärprävention von Essstörungen vor, wobei mein Fokus jedoch auf dem Projekt zur Primärprävention von Magersucht (PriMa) liegt, welches sich an Mädchen in der 6. Klasse richtet.

1. Schönheitsideale

Liegt Schönheit ganz einfach im Auge des Betrachters? Woran liegt es, dass wir einige Menschen als schön bezeichnen und andere nicht? Im folgenden Kapitel setze ich mich unter anderem mit diesen Fragen auseinander. Zunächst stelle ich Erklärungsansätze vor, die versuchen Schönheit messbar zu machen oder bestimmte Merkmale für Schönheit und Attraktivität herauszustellen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage diskutiert, ob Schönheit gleich Gesundheit bzw. genetischer Fitness entspricht. Im letzten Teil dieses Kapitels schildere ich den Wandel von Schönheitsidealen des Körpers von der Steinzeit bis heute um aufzuzeigen, in welcher Hinsicht Schönheitsideale gleichbleibend sind oder aber starken Veränderungen unterliegen können.

„Die Schönheit der Dinge lebt

in der Seele dessen, der sie betrachtet.“

(David Hume)

1.1 Erklärungsansätze für Schönheit

Schönheit und Attraktivität haben in der heutigen Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert. Aber was genau ist Schönheit? Gibt es einen Unterschied zwischen Schönheit und Attraktivität? Und warum erhält das Schön-Sein eine so immense Beachtung in der Gesellschaft? Kann man Schönheit überhaupt definieren oder liegt sie im Auge des Betrachters? Mit Fragen wie diesen setze ich mich im ersten Kapitel meiner Diplomarbeit auseinander. Weiter zeige ich auf, dass die herrschenden Schönheitsideale kulturellen und epochalen Wandlungen unterliegen, d.h. keinesfalls immer und überall konstant sind oder waren. Durch das Aufzeigen von, in unserer westlichen Gesellschaft wohl als absurd empfundenen Schönheitshandlungen aus fremden Kulturen und vergangenen Epochen, fällt es uns leichter, die eigenen, bekannten und vielleicht unbewusst übernommenen Ideale des „schönen Körpers“ zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund ist auch der Begriff „Schönheitswahn“ als Kritik an gegenwärtigen Körperpraktiken im Sinne der Schönheit besser zu verstehen. Die Begriffe „Körperkult“ und „Schönheitswahn“ beanstanden diese Praktiken und richten die Kritik an die Konsum- und Mediengesellschaft, weniger aber an diejenigen, die sich solchen Praktiken unterziehen.

1.1.1 Der philosophische Bezugspunkt

Ein unbekannter Sophist schreibt: „Ich glaube, wenn jemand allen Menschen beföhle, alles Hässliche, was jeder dafür hält, auf einen Haufen zusammenzutragen, und wenn sie dann aufgefordert würden, von diese Haufen das Schöne zu nehmen, was jedem gefalle – ich glaube, dass kein Stück zurückbliebe, sondern dass alles wieder einen Besitzer bekäme. Denn nicht alle meinen über alles dasselbe.“[3] Die Sophisten bestritten die objektive Geltung der Schönheit. Allein die subjektive Wahrnehmung, der persönliche Geschmack des einzelnen, entscheide darüber, was jemand schön nenne. Schön sei schlicht das, was für Auge und Ohr angenehm sei. Platon hingegen konnte dem nicht zustimmen. Für ihn geht es um das Gemeinsame der schönen Dinge. Dieses Gemeinsame zu finden, ist bis heute das Hauptproblem in der Schönheitsdiskussion geblieben. „Die Schönheit der sinnlichen Erscheinung sei nur ein Abglanz jener wahren und einzigen Schönheit, die der Mensch einmal als körperlose Seele geschaut habe, bevor ihn seine Schwäche auf die Erde und in die Leiblichkeit hinein habe fallen lassen. Durch die Schau schöner Dinge werde der Mensch an die Schau jener Schönheit erinnert, so dass er sie aufs Neue ersehne und sich bemühe, von der sinnlichen Schönheit stufenweise hinaufzusteigen über die Schönheit der Seelen, die Schönheit eines aufrechten Lebenswandels, die Schönheit des Wissens, bis zu jener unwandelbaren und einen Erkenntnis, der Schau der höchsten Schönheit, die zugleich die höchste Wahrheit und die Idee des Guten sei“.[4] Ästhetische Urteile basieren nach Kant auf privaten, subjektiven Empfindungen des Gefallens oder der Abneigung, der Lust oder Unlust. Insofern könnte man meinen, schön sei einfach, was uns persönlich angenehm sei. Kant stellt jedoch einen Unterschied fest: Über das Angenehme lässt sich nicht streiten, denn jeder empfindet etwas anderes als angenehm und wird dies auch zugeben. Ästhetische Urteile dagegen sind zwar subjektiven Ursprungs, sie haben jedoch Anspruch auf Allgemeingültigkeit – wer über die Schönheit eines Gegenstandes urteilt, behauptet zugleich, ein Urteil zu fällen, dem auch andere zustimmen müssten. Schönheit hat daher den Anspruch subjektiver Allgemeinheit. Anders als über das Angenehme lässt sich über Schönheit und Geschmack durchaus sinnvoll streiten, da jedes Geschmacksurteil sich anmaßt, über die Empfindungen anderer mit zu urteilen. Die Grundlage dieser Argumentation ist die Abgrenzung zwischen dem Guten, dem Angenehmen und dem Schönen. Das Gute ist etwas, an dem wir ein motiviertes Interesse haben – es macht für uns einen Unterschied, ob etwas Gutes vorhanden ist oder nicht. Auch am Angenehmen haben wir Interesse, da die Empfindung des Angenehmen für uns begehrenswert ist (und wir das Unangenehme meiden). Das Gute, das Schöne und das Angenehme beruhen auf unserer subjektiven Empfindung des Wohlgefallens, der Lust im Gegensatz zum Missfallen und zur Unlust. Das Urteil über das Schöne allerdings ist das einzige, welches das persönliche Interesse an dem Gegenstand nicht berücksichtigt (und nicht berücksichtigen darf, da es sonst verfälscht wird). Daher definiert Kant Schönheit in einer berühmten Formulierung als „interesseloses Wohlgefallen“.[5] Für Kant realisiert sich in der Schönheit also das Grundprinzip der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, als „ein Wohlgefallen ohne alles Interesse […]. Was immer der Gegenstand sei (Ding oder Blume, Tier oder Mensch), wird er nicht in Begriffen der Nützlichkeit, nicht entsprechend irgendeinem möglichen Zweck vorgestellt und auch nicht im Hinblick auf seine innere Endgültigkeit und Vollständigkeit. In der ästhetischen Phantasie wird der Gegenstand vielmehr als frei von all solchen Beziehungen und Eigenschaften vorgestellt, frei, er selbst zu sein.“[6] Keupp hält fest, dass Schönheit also etwas ist, das in sich ruht, was um seiner selbst willen besteht, das entweder nur als subjektives Gefühl geäußert wird, welches niemand bestreiten kann oder das in seiner überwältigenden Einmaligkeit als Ausdruck eines höheren Schöpfungsprinzips angesehen wird und somit auch nicht verfügbar und manipulierbar ist. Jedoch merkt der Autor an, dass, allen Bemühungen der Philosophen zum Trotz, der Schönheitsdiskurs real im Griff von Interessen ist.[7]

1.1.2 Ist Schönheit messbar?

Jeder Mensch beurteilt spontan, welches Gesicht ihm gefällt und welches nicht. Die meisten Menschen wissen aber nicht, warum sie sich so leicht entscheiden. Ende des 18. Jahrhunderts wurden bereits Maßeinheiten für die Schönheit von Gesichtern aufgestellt. Immer wieder hat man das Geheimnis der Schönheit mathematisch zu entschlüsseln versucht und dabei häufig auf das Prinzip des „Goldenen Schnitts“ Bezug genommen. Dieses Gesetzt besagt folgendes: Teilt man eine Linie so in zwei ungleiche Hälften, dass die kleinere sich zur größeren verhält wie die größere zur ganzen Linie, so nennt man diese Teilung den Goldenen Schnitt. Der Goldene Schnitt hat auch einiges mit den Verhältnissen in der Natur zu tun. Beispielsweise bestimmt der Goldene Schnitt das Aussehen eines Seesterns oder eines Efeublatts (siehe Abbildung 2 auf der folgenden Seite). Beim Efeublatt verhält sich Strecke a zu b wie der Goldene Schnitt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Der Goldene Schnitt in der Mathematik Abb.2: Goldener Schnitt beim Efeublatt

Diese Proportionen wurden auch als „göttliche Proportionen“ bezeichnet. Man ging davon aus, dass ein schöner Körper eines Menschen den Regeln des goldenen Schnittes folgen müsse. Die ganze Länge des Körpers müsse in der Taille nach dem Goldenen Schnitt geteilt sein, während die Länge von der Taille bis zum Scheitel wiederum so im Goldenen Schnitt geteilt wird, dass die Kopflänge den kleineren Teil bezeichnet. Die Taillenbreite, die beim weiblichen Körper der Kopfhöhe entsprechen soll, verhält sich zur Schulterbreite wie der kleinere Teil zum größeren Teil des Goldenen Schnitts.[8] Laut Keupp ging es sogar so weit, dass Normtabellen mit Zahlenwerten und teilweise qualitativen Urteilen erstellt wurden. So wurden z.B. als Normmasse für eine Frau folgende genannt: In die Körperhöhe passen 10 Gesichtshöhen, 9 Handlängen, 8 Kopfhöhen und 7 Fußlängen. Die Beinlänge entspricht 4 Kopfhöhen und die Schulterbreite 2 Kopfhöhen. Zwischen Schultern und Hüften ist ein Abstand von 4 cm normal, zwischen Hüften und Taille sind es 12 cm und zwischen den Brustwarzen ein Abstand von 20 cm. Zunächst werden allgemeine Merkmale der Schönheit genannt und ihnen jeweils Fehlervarianten zugeordnet. Die Merkmale mit den zugehörigen Fehlervarianten sind in tabellarischer Form auf der folgenden Seite aufgelistet.

Norm Fehler

Für den Körper bei beiden Geschlechtern:

Symmetrie beider Körperhälften Asymmetrie beider Körperhälften

Schmale, gerade Nase breite Nase

Rundes Kinn und Grübchen Doppelkinn, Hakenkinn, fliehendes Kinn

flacher, runder Leib Spitzbauch, Hängebauch

längere zweite Zehe längere erste Zehe

Für den weiblichen Körper:

runde Formen eckige Formen

hochgestellte, runde pralle Brüste tief angesetzte, sinkende, schlaffe Brüste, Hängebrüste, fehlende Brüste

breites Becken schmales Becken

runder Schädel eckiger Schädel

enges Handgelenk plumpes Handgelenk

runde Hüften schmale Hüften

vorstehende, gewölbte Hinterbacken kleine Hinterbacken[9]

Keupp erklärt, dass sich daran nicht nur eine rechnende, sondern auch eine instrumentelle Vernunft zeigt. Sie hält die Welt für gestaltbar und manipulierbar und somit auch Körper und Schönheit. Was machbar ist, kann auch gefordert werden. Doch gibt es tatsächlich klare Regeln für Schönheit, die für das Empfinden der meisten Menschen zutreffen? Bei wissenschaftlichen Befragungen wurde festgestellt, dass es tatsächlich ein recht einheitliches Empfinden für Schönheit gibt. Die Forschung hat herausgefunden, dass Schönheit im Zusammenhang mit Harmonie steht, d.h. wenn die Proportionen des Mundes zu denen der Nase und denen der Augen in einem harmonischen Einklang stehen.[10] Es finden sich jedoch viele verschiedene Erklärungsansätze, die sich auf die Attraktivitätswahrnehmung beziehen. Untersuchungen haben ergeben, dass es ein Muster für die Attraktivität des Gesichtes einer Frau ergibt. Dieses Muster wird das „Kindchenschema“ genannt, bei welchem die Proportionen des Gesichtes weitgehend denen von Kindern entsprechen. Konrad Lorenz postulierte 1943 den Begriff „Kindchenschema“ als Bezeichnung eines Merkmalaggregats des Kleinkindergesichts. Zu diesen Merkmalen zählt ein großer Kopf, eine große Stirnregion und damit einhergehend eine relativ weit unten liegende Platzierung der Gesichtsmerkmale. Darüber hinaus zählen große, runde Augen, eine kleine Nase, ein kleines Kinn, rundliche Wangen und eine elastische, weiche Haut zu den Charakteristika. Der kindliche Kopf ist im Vergleich zum Körper größer als beim Erwachsenen, und die Gliedmaßen (Arme, Beine, Finger) sind kürzer. Thomas Alley wies 1983 nach, dass diese Merkmale ein Schutz- und Pflegeverhalten bei dem Betrachter aktivieren. Der Forscher fand heraus, dass Erwachsene mehr positive, schützende und fürsorgliche Reaktionen und weniger aggressives Verhalten gegenüber stereotypischen kindlichen Merkmalen, im Vergleich zu Merkmalen älterer Individuen, zeigen.[11] Dies führt nun schon zum nächsten Erklärungs- und Forschungsansatz, nämlich dem evolutionspsychologischen oder der Frage nach dem „Sinn von Schönheit“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.3: Kindchenschema

1.1.3 Welchen Sinn hat Schönheit?

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen Forscher systematisch die menschliche Schönheit zu erforschen. Zunächst lag das Augenmerk der Attraktivitätsforschung hauptsächlich auf der Auswirkung von körperlicher Attraktivität auf die verschiedensten Arten der zwischenmenschlichen Beziehungen. Während die ersten Attraktivitätsforscher noch davon ausgingen, dass Schönheit „im Auge des Betrachters“ liege, brachten die in den 1980er Jahren durchgeführten Untersuchungen zur Urteilübereinstimmung die Erkenntnis, dass sich unterschiedliche Menschen in ihrem Schönheitsurteil durchaus ähneln. Damit rückte nun verstärkt die Frage ins Blickfeld, welche Merkmale attraktive Gesichter bzw. Körper auszeichnen. Seit Mitte der 1980er Jahre spielen in der Attraktivitätsforschung zunehmend evolutionspsychologische Ansätze eine Rolle, die nach dem biologischen „Sinn“ von Attraktivität fragen.[12] Forscher fanden heraus, dass das Verhältnis von Taille zu Hüfte bei Frauen, die als schön galten, über Jahrtausende immer gleich blieb, obwohl die Vorstellungen vom Idealgewicht des Körpers im Laufe der Zeit stark variierten. Aus diesen idealen Proportionen wurde eine mathematische Formel aufgestellt, die die Masse der Taille und der Hüfte berechnen kann. Die Forschung kam somit auf einen Idealwert von 0,7 (der Umfang der Taille geteilt durch den Umfang der Hüfte = 0,7). Dieses Phänomen wird biologischen Hintergründen zugeschrieben, da ein Zusammenhang zwischen der Fruchtbarkeit und dem Taille-Hüft-Verhältnis festgestellt wurde.[13] Laut Hauner und Reichart wird die Attraktivität des Gesichtes einer Frau durch zwei weitere Merkmale erhöht. Erstaunlicherweise stehen diese beiden Merkmale jedoch im Widerspruch zum Kindchenschema. Zum einen sind dies ausgeprägte, hohe Wangenknochen und zum anderen konkave Wangen. Sie kennzeichnen die Reife der Frau, da sie sich erst im Jugendalter ausbilden. Laut Cunningham entscheidet erst die Kombination von kindlichen Merkmalen mit Merkmalen von Reife bei Frauen über ihre Attraktivität für Männer. Der Autor stellt fest, dass Reifemerkmale verschiedene Attribute eines Gesichtes beinhalten, die erst während oder nach der Pubertät in Erscheinung treten und die typisch geschlechtsspezifische Erscheinung betonen. Bei Frauen sind damit Merkmale wie hohe, hervortretende Backenknochen, schmale Wangen und dickes Haar gemeint.[14] Eine andere Theorie geht davon aus, dass ein Gesicht dann als besonders schön empfunden wird, wenn es durchschnittlich ist. Zu dieser Schlussfolgerung sind Langlois und Roggman gekommen, nachdem sie mit Hilfe von Computertechniken ein Durchschnittsgesicht entworfen haben und dieses dann von Probanden beurteilen ließen. Diese Studie beruht auf der photomechanische Methode des Anthropologen Sir Francis Galton. Hierbei hat er durch Übereinanderlegen von Fotos verschiedener Gesichter eines Geschlechts ein Durchschnittsgesicht entworfen.[15] Es wird diskutiert, ob die Attraktivität durchschnittlicher Gesichter einen psychologischen Mechanismus widerspiegelt, der dazu dient, Partner mit hochwertigen Genen zur Fortpflanzung zu erkennen. Thornhill und Gangestad stellen fest, dass die natürliche Selektion gegen die Ausprägung von Extremen innerhalb einer Population arbeitet und versucht, das genetische Material der Gruppe zu normalisieren. Individuen, die nahe dem Mittelwert der Population liegen, lassen vermuten, dass sie weniger schädliche genetische Mutationen mit sich tragen und dadurch frei von Abnormitäten und Krankheiten sind. Deswegen werden von den Artmitgliedern durchschnittliche vor extremen Merkmalsausprägungen bevorzugt und die höchsten Attraktivitätsbewertungen Gesichtern in der Mitte der Populationsverteilung zugeordnet.[16] Schönheitsideale scheinen also mit evolutionär vorteilhaften Eigenschaften zusammenzuhängen. Der gesunde (fitte) Mensch ist also attraktiv für Andere, weil er gutes Genmaterial in sich trägt? Kann Schönheit also weitgehend auf eine biologische Funktion reduziert werden? Diese Frage stellt sich auch Keupp und weist auf die Gefahren einer solchen biologistischen Verkürzung des Schönheitsthemas hin. Der Autor merkt an, dass die nahtlose Verkoppelung von Gesundheits- und Schönheitsdiskurs durch die Brückenfunktion des Rassendiskurses sichtbar wird. Er zitiert in diesem Zusammenhang die Nationalsozialistin Elisabeth Bosch, die in den 30er Jahren „wahre Schönheit“ als „leib-seelische Gesundheit“ bezeichnete und „Schönheit als Kraft, Anmut, Natürlichkeit, Reinheit und Sauberkeit des Körpers“. Schönheit ist, laut Keupp, in diesem Zusammenhang die Idealnorm, das neue Normalitätsprinzip und damit zugleich der Inbegriff der gelungenen Faschisierung des Subjekts. Diese neue Normalität bestimmt zugleich ihr Gegenteil: Schönheit schafft ihr Gegenbild und alle Formen von Hässlichkeit, die im rassischen Diskurs als Symptom von Entartung und Rassenmischung gedeutet wird.[17]

1.2 Schönheitsideale des Körpers im Wandel der Zeit

Möchte man sich einen Überblick über die jeweils geltenden Schönheitsideale des Körpers in verschiedenen Epochen machen, ist es hilfreich, den Blick auf Kunstwerke und Darstellungen menschlicher Körper in der Kunst zu wenden. Schon in der Steinzeit wurden Frauenkörper künstlerisch dargestellt, wie z.B. die Skulptur Venus von Willendorf, die um 25.000 v. Chr. – in der jüngeren Altsteinzeit – entstand. Die Skulptur stellt einen Frauenkörper dar mit stark ausgeprägten Hüften und Gesäß, einem runden hervorstehenden Bauch, großen, hängenden Brüsten und stattlichen Beinen. Auch die Venus von Laussel, die ebenfalls in dieser Zeit entstanden ist, zeigt die gleichen Körperformen wie die Venus von Willendorf. Aber auch Ritzzeichnungen und Malereien an den Wänden von Höhlen sind aus dieser Zeit erhalten geblieben. Laut Didou-Manent, Ky und Robert zeichnen sich die Darstellungen von Weiblichkeit aus rund zwanzig Jahrtausenden, die an zahlreichen prähistorischen Fundstätten entdeckt wurden, stets durch die oben genannten ausladenden Körperformen aus. Interessant ist auch, dass aus dieser Zeitraum kaum männlichen Statuetten existieren. Häufig werden jedoch Gebärszenen dargestellt, was darauf schließen lässt, dass mit den Skulpturen der Fruchtbarkeit gehuldigt wurde. Ob diese Statuen Kultobjekte für rituelle Zeremonien waren, die Fruchtbarkeit und Überfluss

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.4: Venus von Willendorf

schenken sollten oder ob sie Abbilder von Frauen sind, die tatsächlich gelebt haben, ist nicht in Erfahrung zu bringen.[18] Eine Erklärung für den Vorzug üppiger Körper könnte sein, dass in einer Zeit vor der Entwicklung der Landwirtschaft solche Körperformen von Vorteil waren, da Fettreserven bei Krankheit, Kälte und Nahrungsmangel das Überleben sichern konnten. Später, ca. 5000 v. Chr., wurde bei den Ägyptern die Schönheit über die Bräuche des Schminkens und der Körperpflege definiert, welche ausgiebig betrieben wurden.[19] Auch finden sich in Papyrusrollen und Grabmalereien Dokumentationen von vielen Schönheitsprodukten und Mitteln, die für eine schlanke Taille sorgen sollten. In verschiedenen Abhandlungen wird die Herstellung von Salben beschrieben, die den Körper bis ins hohe Alter schlank erhalten sollen. Auch die ägyptischen Künstler stellen Göttinnen und Frauen aus dem Volk stets schlank und mit einer schmalen Taille dar.[20] In der Epoche des Pharao Echnaton wurden, laut Mang, auch extreme Körpermodifikationen an Kindern der Oberschicht vorgenommen. Diesen Kindern wurde ein Holzkorsett auf den Kopf gesetzt, das immer fester und enger fixiert wurde, sodass sich im Laufe der Jahre ein hoher, nach hinten gerichteter, zylinderförmiger Schädel entwickelte. Er hatte das dreifache Volumen eines natürlich gewachsenen Kopfes und galt als Ausdruck ganz besonderer Schönheit.[21]

Der Mediziner Mang berichtet, dass im 10. Jahrhundert im alten China der Brauch entstand, kleinen Mädchen ab zwei Jahren die vier kleinen Zehen mit langen Bändern unter die Fußsohlen zu binden, bis die Knochen brachen. Nur der große Zeh blieb stehen. Dann schnürte man Zehen und Ferse so fest zusammen, dass sich der Mittelfußknochen bogenförmig nach oben wölbte oder brach. Jeden Tag wurden diese Bandagen fester geschnürt, sodass die Haut abfaulte und Zehennägel einwuchsen oder abstarben. Der Autor erklärt, dass der Fäulnisprozess gewollt war und bewusst beschleunigt wurde, indem Porzellanscherben, Erde oder Würmer unter die Binden gegeben wurden. Die gewollte Deformierung der Füße dauerte in der Regel drei Jahre; dann waren die Füße praktisch abgestorben. Der somit verkrüppelte Fuß wurde „Goldlotus“ oder „Lilienfuß“ genannt. Eine Frau mit normal gewachsenen Füßen hatte zu dieser Zeit keine Heiratschancen. Auf ihren gebundenen, abgestorbenen Füßen konnten die Frauen im besten Fall nur noch humpeln. Da es in China als tugendhaft für eine Frau galt, das Haus nicht zu verlassen, war dies eventuell ausschlaggebend für diesen schrecklichen Brauch, der über tausend Jahre anhielt und erst 1910 schließlich verboten wurde.

Im alten Griechenland glaubte man, dass die Regeln der Schönheit auf dem Zusammenspiel von Zahlen und Proportionen beruhen. Diese Proportionslehre wird bis zur Renaissance als der Schlüssel zur Schönheit angesehen. Im antiken Rom wiederum sind massige Körper ein Zeichen von Wohlstand und Macht. Magerkeit ist verdächtig und wird mit Krankheit und Armut verbunden oder gar mit einer „unheimlichen neuen Sekte, die sich Christen nennt“.[22] Die ersten christlichen Gemeinden bestanden nämlich zum Großteil aus Bedürftigen, Alten, Waisen und Witwen, Kranken oder Gebrechlichen. In diesen Gemeinden halfen sich die Mitglieder gegenseitig, gaben einander Obdach, Nahrung und Kleidung, ohne eine Gegenleistung vom anderen zu erwarten. Dies ist Ausdruck eines tiefgehenden geistigen Wandels, der nicht ohne Auswirkungen auf die Lebensweise und das Denken und somit auch auf die Vorstellung von körperlicher Schönheit blieb.[23] Die Nahrung wurde bei den ersten Christen auf einfache Art zubereitet und die Speisen waren weitgehend schlicht und karg. Da von nun an das Seelenheil den Mittelpunkt des Lebens darstellte, wurde der Körper eher gering geschätzt und Körperkult und die moralisch verwerfliche Nacktheit wurden abgelehnt. Besonders ab dem Mittelalter, der Zeit des ausgeprägten Christentums, wurde der Leib als Quelle der Versuchung angesehen. Vor allem der weibliche Körper wird zwischen zwei Polen akzentuiert. Auf der einen Seite steht die Schönheit der bösen, verführerischen Erbsünderin Eva, die der Menschheit das Verderben gebracht hat und auf der anderen Seite die Schönheit der reinen Jungfrau Maria, deren Körper unberührt geblieben ist.[24]

Vom 11. bis zum 14. Jahrhundert galten straffe Regeln für weibliche Schönheit wie weiße Haut, runde feste Brüste – die mit Jugendlichkeit und somit mit Jungfräulichkeit in Verbindung gebracht wurden –, lange Gliedmaßen, ein graziles Profil, schmale Hüften, ein runder Bauch und eine schlanke Taille. Da in dieser Zeit nackte Körper nicht abgebildet werden durften, wurden sie beschrieben. In Romanen oder Balladen und Liedern werden schöne Frauen immer auf die oben genannte Art beschrieben.[25]

Am Ende des Mittelalters sind die Darstellungen von weiblicher Schönheit wieder von Üppigkeit und Rundungen dominiert. Jedoch erscheint nun das Schönheitsideal illusorisch, da Oberschenkel, Hüfte und Gesäß zwar sehr massig, die Brüste jedoch klein und die Gesichter schmal und sehr kindlich wirken. In der Renaissance wird ein pausbäckiges Gesicht mit Doppelkinn als Ideal weiblicher Schönheit angesehen. Der Arzt Jean Liebault schreibt 1582, dass Frauen dann die Blicke auf sich ziehen wenn sie „einen vollen, ausladenden, weißen Oberkörper haben mit zwei runden, festen Äpfeln, die wie kleine Wellen auf und ab wogen; die Arme sollen fleischig und kräftig sein; die Hände weiß, keinesfalls länglich und nicht sehr breit, und auf dem Handrücken darf man keine Knoten oder Venen sehen, die Füße sollen klein, kurz, trocken und rund sein, frisch und leicht. Das Kinn kurz und in der Mitte vertieft und im unteren Bereich so fleischig und fett, dass es zum Hals hin hinabhängt und ein zweites Kinn zu formen scheint; die leuchtenden blutroten Wangen müssen hoch sein, mit kleinen Grübchen in der Mitte, in denen ein hübsches Lachen sitzt; die Ohren sollen rund, kurz und nicht hängend sein, Hals und Kehle wohlgerundet.“[26] An dieser Beschreibung lässt sich erkennen, dass der Körper der Frau stark systematisiert wurde. Der Künstler Giovanni da Bologna stellte in zahlreichen Werken das ideale Menschenbild dar: wohlgenährte Männer und Frauen. Die Frauen malte er stets mit vollem Busen, rundem Bauch und Po und oft mit einem leichten Doppelkinn. Der Maler Peter Paul Rubens hat diesem Typus in zahlreichen Gemälden ebenfalls ein Denkmal geschaffen. In der anschließenden Ära des Barock und Rokoko wurde dieses Schönheitsideal der üppigen Körper noch verstärkt.

Im 18. Jahrhundert und Klassizismus wurden rundliche Körper mit sanften, zarten Gesichtern, einer kurzen Nase, vollen Lippen, einem spitzen Kinn und einer Haut wie Porzellan für schön befunden.[27] Im Gegensatz zum 17. Jahrhundert, in dem viel Schminke und Perücken verwendet wurden, war Schönheit nun schlichter. In der Romantik kam ein ungesundes Aussehen in Mode. Bräune galt zwar schon seit der Antike als Zeichen von geringem Stand, jedoch sollte die Haut im 19. Jahrhundert fast durchscheinend sein und der Körper mager und zerbrechlich wirken. Erstaunlicherweise lieben die Männer, die Mitte des 19. Jahrhunderts oft korpulent sind, das Essen, zugleich jedoch grazile, melancholische Frauen mit romantischem Charme, wie es der Zeitgeist verlangt.[28]

Nach den Napoleonischen Kriegen und mit dem Aufkommen des Bürgertums wird es Mode, die Taille der Frau mit einem Korsett stark zusammen zu schnüren. Teilweise wurde so die Taille einer Frau bis zu einem Umfang von nur noch 35 cm eingeschnürt. Bei der Prozedur des Schnürens wurden die inneren Organe schmerzhaft gequetscht, nicht selten brachen auch Rippen, oder ungeborene Kinder wurden erdrückt. Mang schildert einen dokumentierten Todesfall, bei dem eine 23-jährige Frau 1859 starb. Bei der Autopsie stellte man fest, dass sich drei Rippen in die Leber gebohrt hatten und das Opfer innerlich verblutet war.[29] Mang berichtet weiter, dass es Ende des 19. Jahrhunderts sogar einen Reklamespruch gab, nach dem es junge Korsettträgerinnen gewöhnt seien, Unannehmlichkeit und Schmerzen mit einem Lächeln zu ertragen. Sie seien also belastbarer und duldsamer als andere Menschen.

Im 20. Jahrhundert ändert sich die Ansicht über gebräunte Haut vollkommen. Die Menschen arbeiten nun vorwiegend in Gebäuden und nicht mehr draußen auf dem Feld wie in früheren Zeiten. Somit wird eine gebräunte Haut erstrebenswert, da sie Beweis dafür ist, dass man genug (Frei)Zeit hat, um sich in der Sonne aufhalten zu können. Das 20. Jahrhundert ist jedoch geprägt durch ständige Wechsel von weiblichen Schönheitsidealen. In den 20er Jahren waren schlanke Körper, männliche Kurzhaarschnitte, flacher Busen, blasse Haut, rot geschminkte Lippen und schwarz umrandete Augen in Mode.[30]. In den 50er Jahren waren aufgrund der Armut nach dem zweiten Weltkrieg wieder ausladendere Körperformen, wie ein großer Busen und runde Hüften bei Frauen erwünscht. Ein typisches Beispiel hierfür ist Marilyn Monroe. In den 60er Jahren verkehrte sich das vorherige Ideal der Schönheit. Das Model Twiggy war mit nur 42 kg bei einer Körpergröße von 1,70 m das neue Schönheitsideal. In den 70er Jahren war Magerkeit immer noch gewünscht. In den 80er Jahren sollten Körper vor allem stark und durchtrainiert sein. Bodybuilding wurde sehr populär und Aerobic-Videos wurden vertrieben. Ein großer Busen kam wieder in Mode und Diäten hielten Einzug in viele Haushalte. In den 90er Jahren entwickelte sich dieser Trend weiter. Der dünne Körper war das Idealbild und Models wurden wie Superstars gefeiert.[31] Der sehr dünne Körper mit zugleich großem Busen ist jedoch kaum natürlich. Eine Frau die diesem surrealen Bild gerecht werden kann, zeigt, dass sie den finanziellen Hintergrund hat, sich eine dementsprechende Operation an ihrem Körper zu leisten.

In unserer heutigen modernen Gesellschaft erscheint das Idealbild des weiblichen Körpers eher dem eines Mädchens als dem einer geschlechtsreifen Frau. Jedoch, um die fehlenden typisch weiblichen Merkmale der früheren Zeit auszugleichen, zählt heute ein großer Busen als erstrebenswert für eine Frau.[32] Dieses Bild ist allerdings surreal, da ein sehr dünner Körper kaum eine sehr große Brust entwickeln kann. Der männliche Körper sollte, um dem heutigen Schönheitsideal unserer westlichen Kultur zu entsprechen, möglichst sehr muskulös und durchtrainiert sein. Schönheit hat heute auch viel mit finanziellen Hintergründen zu tun. Schönheitsoperationen und anderweitige Manipulationen am Körper sind zu Statussymbolen geworden. Wer sich plastische Chirurgie, Fitnessprogramme, Ernährungsberatung und allerhand kosmetische Behandlungen leisten kann zeigt einen Status, der für die gesellschaftliche Mehrheit erstrebenswert ist. Des Weiteren zeigt sich in der modernen westlichen Gesellschaft zunehmend die Diskriminierung von „dicken“ Menschen. Dick-Sein ist längst nicht mehr nur eine ästhetische Frage, sondern wurde in unserer modernen Gesellschaft auch zu einem medizinischen Problem gemacht. Die Zeiten, in denen Körperfülle Eindruck machte sind vorbei. Heute macht sie Angst oder löst Mitleid, sogar Abscheu aus. „Dicke“ Menschen werden oft als minderwertig, unattraktiv, faul und weniger kompetent betrachtet.[33]

Jedoch zeigen sich nicht nur durch verschiedene Epochen hindurch Unterschiede in Hinblick auf das Schönheitsempfinden. Wie bereits die o.g. Beispiele des Kopf-Einschnürens bei den Ägyptern oder das Verstümmeln der Füße im alten China gezeigt haben, lassen sich auch große kulturelle Unterschiede aufzeigen. Diese Schönheitsideale träfen in der westlichen Gesellschaft eher auf Unverständnis oder würden gar als abstoßend empfunden. So auch ein Brauch, der von dem Volksstamm der Padaung im Grenzgebiet zwischen Thailand und Burma vereinzelt noch heute gepflegt wird: Junge Mädchen im Alter von fünf Jahren bekommen Metallringe um den Hals gelegt. Jedes Jahr kommen weitere Ringe hinzu, wobei somit der Kopf immer weiter von den Schultern weggedehnt wird. Nach einigen Jahren ist die Halsmuskulatur so geschwächt und verkümmert, dass sie das Gewicht des Kopfes nicht mehr tragen könnte. Die Ringe übernehmen die Aufgabe des Halses und der Halswirbelsäule, andernfalls würden die Frauen ersticken oder sich das Genick brechen. Die Ringe können also nie wieder entfernt werden. Die Messingringe haben teilweise ein Gewicht von bis zu zehn Kilogramm. Für die Entstehung dieses Schönheitsideals wird vermutet, dass die Frauen mit ihren langen Giraffenhälsen Sklavenjäger abschrecken sollten, oder, dass die Padaung ihre Frauen bewusst verunstalteten, um sie für den Maharadscha von Burma, der das Recht hatte, unter den Töchtern des Landes seine Konkubinen auszuwählen, unattraktiv zu machen.[34] Ein weiteres Beispiel ist ein Schönheitsideal, das aus Äthiopien stammt. Mang berichtet von dem Volk der Surma, das bei Frauen den Brauch der Tellerlippe pflegt. Dabei wird den Mädchen nach Eintritt der Pubertät die Unterlippe durchbohrt und durch Einsetzen immer größerer Holz- oder Tonteller auf bis zu 15 Zentimeter Durchmesser ausgedehnt. Damit dieser Lippenteller auch horizontal Halt findet und nicht durch sein Gewicht nach unten hängt, wird er in einer Zahnlücke des Unterkiefers fixiert, bei dem die beiden unteren Schneidezähne herausgebrochen werden. Es wird vermutet, dass diese „Mode” von Männern erfunden wurde, die damit ihre Frauen für Sklavenjäger uninteressant machen wollten. Heute sind die Tellerlippen bei den Surma ein Schönheitsideal, ein Mädchen ohne Verstümmelung gilt als unattraktiv und ist als Ehekandidatin unvermittelbar.

1.3 Resümee

Zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten strebten die Menschen nach Schönheit. Jedoch hat keine universelle Norm es geschafft, Schönheit einer Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Doch mangels einer goldenen Regel existiert eine intuitive Vorstellung von dem, was schön ist. Diese Vorstellung vom „schönen Körper“ schwankt jedoch je nach Epoche und Kultur zwischen Extremen. Nichts hat sich derart unvorhersehbar gewandelt wie das Bild von einem schönen Körper. Wurden bestimmte Formen an einem Ort abgelehnt, so wurden sie an einem anderen angestrebt. Wurden sie zu einer bestimmten Zeit verabscheut, so wurden sie zu einer anderen Zeit verehrt. Der Rückblick auf vergangene oder fremde Schönheitsideale gezeigt, dass diese verschiedenste Ursachen haben können. Seien es biologische Faktoren, die bestimmte Merkmale des Körpers als Indiz für Fruchtbarkeit deuten lassen oder aber Manipulationen am Körper, die verhindern sollen, dass Frauen Sklavenhändlern zum Opfer fallen. Weiter hat sich als mögliche Ursache des Schönheitsideals des „Lilienfußes“ die Unterdrückung von Frauen durch Verstümmelung ihrer Füße gezeigt, die dazu diente, sie sprichwörtlich an das Haus zu fesseln. Es hat sich auch gezeigt, dass sowohl die Leibesfülle, als auch ihr Gegenstück, die Magerkeit, untrennbar mit der Veränderung der Geisteshaltung – die, je nach Epoche, mal das eine, mal das andere Ideal favorisiert – verknüpft ist. Die Vorstellung von „Schönheit“ ist immer einem Schema von Idealisierung unterworfen, auf das ungeahnte Kräfte aus der Vergangenheit (und Gegenwart) einwirken.

2. Körperkult und Schönheitswahn

2.1 Körpermanipulationen und Körpermodifikationen

Körpermanipulationen, sei es die plastische Chirurgie, die Diät, die Tätowierung, das Piercen oder nur der Friseurbesuch, sind weder neu noch singulär. Der Mensch hat naturgegeben einen Körper und kann über ihn verfügen, fast so wie er über Objekte verfügen kann. An dieser Tatsache entzünden sich auch die ethischen Fragen, die die Körperlichkeit des Menschen betreffen. Im Kern laufen diese immer auf die Frage zu: Wie sehr ist die körperliche Natur verfügbar? Wie sehr kann der Mensch mit ihr instrumentell umgehen? Laut Villa ist es unbestreitbar, dass unsere genuin menschliche Kreativität eben auch darin besteht, unsere Körper und auch unsere physiologische Natur zu gestalten.[35] Die Verfügbarkeit unseres Körpers ist also nicht eine kontingente Dimension von Sozialität, sondern ein zwingender Konstituens dieser Sozialität. Jedoch ist die Art und Weise dieser Verfügbarkeit historisch, politisch und sozial spezifisch. Jede noch so individuelle Verfügung über den eigenen Körper ist immer beeinflusst von gesellschaftlichen Normen, Traditionen und Phantasien. Es geht bei Kleidungsstücken, Haarlängen, Diäten und selbst bei der Fingernagelform immer auch um die angemessene Verkörperung sozialer Positionen und Ambitionen. Gerade auch dann, wenn diese nicht bewusst sind. Es gibt laut Villa keinen Weg zurück zu einer Authentizität, die den Körper als Ausdruck einer nicht-entfremdeten Existenz postuliert. Frisuren, Diäten, Kleidungsmoden, Sport, alle Arten von Drogen, Tätowierungen und Piercings sowie plastische Chirurgie sind in diesem Sinne alle auf einem Kontinuum angesiedelt.[36] Die plastische Chirurgie ist seit einigen Jahren nicht nur als gesellschaftliches Phänomen quantitativ gewachsen, sondern auch in den Medien zunehmend präsent. Sie steht dabei nicht allein da, sondern muss laut der Autorin als Teil einer „visuell unterfütterten Diskursivierung von Körpermanipulationen“ verstanden werden, die unsere Massenmedien flutet.[37]

2.2 Körpermanipulation und -modifikation am Beispiel kosmetischer Chirurgie

Die Begriffe „kosmetische-“ „plastische-“ und „ästhetische-“ und „Schönheits-Operation“ können synonym verwendet werden. Jedoch unterliegen sie unterschiedlichen Konnotationen. Als „Schönheitsoperation“[38] oder kosmetische Operation wird ein chirurgischer Eingriff ohne medizinische Indikation bezeichnet. Sie dient damit einer subjektiv wahrgenommenen Verschönerung des menschlichen Körpers. „Schönheitschirurgie“ und „kosmetische Chirurgie“ sind von den medizinischen Berufsverbänden nicht als Fachgebiete definiert. Kosmetische Operationen werden in Deutschland meist „ästhetische Operationen“ genannt. Die kosmetische Chirurgie ist in vielen deutschen Bundesländern Teil der Facharztkompetenz „Plastische und Ästhetische Chirurgie“ zugeordnet. Sie ist, gerade wenn sie als „Schönheitschirurgie“ betitelt wird, zugleich Medizin und „Wellness“ sowie Wissenschaft und Kommerz. Die Thematisierung der kosmetischen Chirurgie (z.B. in Medien und Politik) stellt die Frage nach einer Grenzziehung zwischen Medizin und Kommerz bzw. medizinischer Therapie und „Wohlfühlbehandlung“. Villa beschreibt die politischen Debatten um dieses Thema als „schwankend“ zwischen „Voyeurismus und Alarmismus, zwischen tabuisierenden Verbotsgelüsten und intensiver Diskursivierung“.[39] Bevor ich jedoch weiter auf die gesellschaftlichen Dimensionen hinsichtlich kosmetischer Chirurgie eingehe, stelle ich zunächst kurz einige Daten zu Häufigkeit, Formen und Auftreten von kosmetischen Eingriffen vor, um den Gegenstandsbereich eindeutiger zu klären.

Laut der 14. Shell-Jugendstudie von 2002 ist für 88 Prozent der 12- bis 25-Jährigen „tolles Aussehen“ das Wichtigste, noch vor Karriere und Markenkleidung.[40] Und nach einer repräsentativen Internetbefragung des Meinungsforschungsinstituts „zehnvier“ sind knapp drei Viertel der Befragten in Deutschland der Ansicht, dass jeder für sein Aussehen selbst verantwortlich ist. Laut der Amerikanischen Gesellschaft für Plastische Chirurgie ist die Anzahl der Schönheitsoperationen in den USA auf 10 Millionen in 2006 angestiegen, was einen Anstieg von 48 Prozent im Vergleich zum Jahr 2000 bedeutet. Eine Studie im Auftrag der Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft (BLE) besagt, dass sich in Deutschland im Jahr 2005 gut 420.000 Menschen einer Schönheitsoperation unterzogen. Die operative Faltenbehandlung ist laut Studie mit hochgerechnet 200.000 Fällen die häufigste kosmetische Operation in Deutschland, dicht gefolgt von 192.000 Laserbehandlungen des Gesichts (bei Laserbehandlungen werden u.a. ebenfalls Falten reduziert oder Altersflecken und Narben verringert). In insgesamt 56.000 Fällen ließen sich Patientinnen die Brüste verkleinern, vergrößern oder straffen. Auch Korrekturen von Nase (39.000), Augenlid (34. 000) und Ohren (23.000 Fälle) gehören zu den häufigeren Operationen. Für die Studie befragte das Münchner Institut für Grundlagen- und Programmforschung 497 Frauen und 123 Männer und wertete die Angaben von 225 Ärzten und Einrichtungen aus.[41] Die Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC), die 1972 gegründet wurde, gibt an, dass es keine offiziellen und allgemein gültigen, statistischen Erhebungen auf dem Gebiet der Ästhetisch-Plastischen Chirurgie in Deutschland gibt. Sie führte jedoch 2008, 2009 und 2010 Patientenbefragungen (einseitige, anonymisierte Multiple-Choice-Fragebögen) unter den Patienten aller Mitglieder durch. Die Ergebnisse geben allerdings nur Informationen über die Arbeit der Fachärzte für Ästhetisch-Plastische Chirurgie in Deutschland. An der Befragung im Jahr 2008 nahmen 1.086 Patienten teil.

Im Folgenden stelle ich einige der Ergebnisse dieser Befragungen vor, um einen Überblick zu schaffen über Alters- und Geschlechtsverteilung der Menschen, die sich einer Schönheitsoperation unterziehen und darüber, welche die populärsten Eingriffe in den letzten Jahren waren. In der ersten Befragung 2008 ging es hauptsächlich um die Kriterien für die Facharztwahl der Patienten, in der zweiten Befragung 2009 lag der Themenschwerpunkt auf der Einbeziehung von Freunden und Verwandten. Es nahmen diesmal 582 Patienten teil. Es sollte herausgefunden werden, wie offen die Patienten und Patientinnen in ihrem sozialen Umfeld mit der ästhetisch-plastischen Operation umgehen. Zudem gaben die Befragten Auskunft über Geschlecht, Alter, Familienstand sowie den gewählten medizinischen Eingriff. Die dritte Patientenbefragung 2010 beschäftigte sich vor allem mit der Vorbereitung der Patienten auf eine Schönheitsoperation. Das Interesse lag auf den Fragen: Welche Informationsquellen nutzen Patienten zur Orientierung? Wie viel Zeit nimmt sich ein Patient zur Entscheidungsfindung? Wird die Entscheidung eher spontan oder gut überlegt getroffen? Wie wichtig ist die fachärztliche Beratung im Vorfeld? In dieser Befragung steht also die Phase vor einer Operation im Mittelpunkt. An der 2010 durchgeführten Patientenbefragung beteiligten sich insgesamt 854 Patienten.[42] Im Folgenden werde ich Daten und Informationen aus allen drei Patientenbefragungen zusammentragen, um so einen Überblick zu ermöglichen (siehe auch Diagramme auf der folgenden Seite).

2010: Altersstruktur der befragten Patienten in Prozent

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der größte Teil der in der DGÄPC-Studie im Jahr 2010 befragten Patienten ist zwischen 18 und 30 Jahren alt. Der zweitgrößte Teil ist in einem Alter zwischen 30 und 40 Jahren. Das Durchschnittsalter der Befragten liegt bei etwa 38,5 Jahren. Besonders auffällig ist, dass die männlichen Patienten mit einem Durchschnittsalter von 36 Jahren im Vergleich zur Studie im Vorjahr jünger werden. 2009 lag der Altersdurchschnitt der männlichen Patienten noch bei 41 Jahren. In der Befragung von 2010 führt bei den weiblichen Patienten die Brustvergrößerung die Rangliste der durchgeführten chirurgischen Operationen an. Männer lassen am häufigsten eine Lidstraffung durchführen. Vergleicht man weiter die Angaben von männlichen und weiblichen Patienten, kommt man zu folgendem Ergebnis: Männer und Frauen gleichen sich in Bezug auf die Altersstruktur an.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Studie 2010: Altersstruktur nach Geschlecht

So ist der Großteil der Patienten zwischen 18 und 30 Jahre alt, wenn sie einen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen aufsuchen, 2010 ist jeder dritte Mann und jede dritte Frau unter 30 Jahre alt. Als Beziehungsstatus gab die Mehrheit der befragten Frauen an, in einer Partnerschaft zu leben. Männer sind häufiger Single. Befragt nach der Eingriffsart, liegen Faltenkorrekturen sowie Korrekturen der Körpersilhouette bei Frauen und Männern gleichermaßen ganz weit vorn. Während bei Frauen die Brustvergrößerung dominiert, sind es bei Männern häufiger Korrekturen im Gesichtsbereich, wie Lidstraffungen und Nasenkorrekturen.[43]

In der Patientenbefragung von 2009 wurde wie zuvor erwähnt auch darauf eingegangen, wie offen die Patienten mit den Operationen im Freundes- und Verwandtenkreis umgehen. Die Studie zeigt, dass jede vierte befragte Patientin (25 Prozent) angibt, niemandem – abgesehen vom Partner – im sozialen Umfeld von dem Eingriff berichtet zu haben. In einem von zehn Fällen wird nicht einmal der Partner ins Vertrauen gezogen. Der Grund dafür liegt jedoch nicht immer in der Angst vor Zurückweisung. Nur sieben Prozent aller Patienten erzählen niemandem aus dem Freundes- und Familienkreis von der Operation, weil es ihnen unangenehm wäre. Über die Gründe der verbleibenden 18 Prozent gibt die Studie keine Auskunft. Von den Partnern, die über den Eingriff Bescheid wissen, sind 8 Prozent nicht damit einverstanden.

Allerdings ist diesen Zahlen mit Skepsis zu begegnen. Die Dimensionen mögen zwar stimmen, aber verlässliche Zahlen über das Ausmaß der plastischen Chirurgie sind deshalb schwer zu bekommen, weil sie nicht von einer neutralen Stelle erfasst werden. Die Selbstaussagen der Berufsverbände sind durchaus auch als (Eigen-)Werbung zu verstehen. Das sozialwissenschaftlich Interessante sind jedoch weniger die quantitativen Details, sondern ist vielmehr die Relevanz des Phänomens für das Leben und den Alltag der Menschen. Villa wirft in diesem Zusammenhang wichtige Fragen auf: „Geht es dabei überhaupt (noch?) um Medizin oder (bereits?) um Lebensstil und Optimierung? Sind die betroffenen Menschen Patienten/innen oder Kunden/innen? Sind sie Opfer eines perversen ‚Körperkults‘, der nur vordergründig etwas mit Schönheit zu tun hat, in Wirklichkeit aber auf die Zurichtung wettbewerbsfähiger Körper abzielt? Oder sind diejenigen, die sich etwa Zähne richten, Bauch straffen oder die Augenlider heben lassen, besonders selbstbewusste und handlungsmächtige Personen, die ihren Körper selbst in die Hand nehmen und damit im besonderen Maße die moderne individuelle Autonomie in rationaler Absicht praktizieren?“[44] Die Autorin stellt die These auf, dass ökonomisch inspirierte Körperarbeit zur Erzeugung der Geschlechter-Differenz herangezogen wird. Weiter erklärt sie, dass z.B. in den Medien die „mühsame Arbeit” der Herstellung von Geschlechter-Differenz offensiv zur Schau gestellt wird. Die Differenz ist nicht mehr natürlich gegeben, sondern wird durch Körpermanipulationen sichtbar. Körperarbeit – auch die geschlechtlich relevante – folgt mehr und mehr der Logik eines „unternehmerischen Selbst“, das unter „dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes“ steht.[45] Nicht mehr die Entfaltung einer inneren Natur, sondern die andauernde Optimierungsarbeit am körperlichen Selbst ist also Leitmotiv der Geschlechter-Differenz. Villa vertritt den Standpunkt, dass die feministische Selbstermächtigung mittels des Körpers („Mein Bauch gehört mir“; „Our Bodies, Our Selves“) zu einer Individualisierungsideologie beigetragen hat. Wesentlicher Gegenstand der Zweiten Frauenbewegung ist der (Geschlechts-)Körper und fast alle Forderungen der Frauenbewegung konzentrieren sich auf Körperliches. Villa erklärt, dass diese Konzentration auf Körperliches die „theoretische und praxeologische[46] Ent-Naturalisierung des (Frauen-)Körpers“ bedeutet.[47] Damit wurde der Körper explizit zu einer Ressource und somit zu etwas, dessen man sich bedienen konnte. Die radikal individualistische Manipulation des Körpers unterliegt jedoch unbewussten Zwängen, welche jede noch so autonome Entscheidung beeinflussen. Somit ist jede selbst-ermächtigende Körperpraxis immer auch eine Unterwerfung unter soziale Normen. Andererseits zeigt Katy Davis z.B. in ihren Interviews mit Frauen, dass den Motiven der Patientinnen eine Ambivalenz innewohnt, die das Phänomen komplexer macht, als es zunächst scheint. Der Normierungs-Charakter der kosmetischen Chirurgie wird zwar auch von Davis betont, jedoch wird in ihrer Analyse der Interviews auch deutlich, welche Handlungsmächtigkeit sich in den Entscheidungen durchaus informierter Frauen konzentriert. Aus geschlechtersoziologischer Sicht ist es wichtig zu sehen, dass individuelle Körperentscheidungen sowohl souveräne Entscheidungen handlungs-mächtiger Personen sind, die auch das Recht haben, ihren Körper zu verändern, andererseits aber auch eine Anpassung an vorherrschende Normen darstellen.[48]

2.3 Der Körper als Ware

Laut dem Psychologen und Psychoanalytiker Ettl versucht die moderne Medizin, den Leib vom Körper zu trennen. „Der Leib schmutzt, riecht, ermüdet, schmerzt, wirft sich in Falten, altert, zeigt Spuren von Geburten und Krankheiten. Er verleiht dem Körper Lebendigkeit. „Dem Schönheitskult ist er als solcher Inbegriff des Unsauberen, Hässlichen oder Ekligen und wird, da mit Schönheit unvereinbar, geschmäht.“[49] Der Leib wird, so Ettl, zum fäkalen Objekt. „Schönheitsarbeit“ wird zur „Ekelvermeidungsstrategie“. Der Leib werde gar zum Feind, den es zu besiegen gilt, weil er das Idealbild eines Körpers angreift. Der Schönheitschirurg soll mit dem Skalpell oder der Spritze gegen den Leib vorgehen. Paradigma sei das Botox-Gesicht. Durch die Behandlung bleibt zwar die Physiognomie erhalten, aber die Lähmung der Muskulatur vertreibt die Lebendigkeit aus dem Gesicht. Laut dem Diplompolitologen Waldrich empfinden Menschen sich ursprünglich selbst als unmittelbar identisch mit dem Leib, der als Lebensbasis des Ichs erfahren wird. Erst unter dem Einfluss gesellschaftlicher Erwartungen wird der Körper als Objekt von dieser Einheit abgespalten und als etwas Fremdes betrachtet, als ein Artefakt. Der Autor erklärt: Der Körper als Symbol einer Ablehnung und als „verweigerte Natur“ ist nichts weiter als ein Artefakt. „Er kann als solches in Teile zerlegt und am Markt zum Verkauf angeboten werden.“[50] Laut Waldrich passen Körperkult und Schönheitswahn deshalb so gut in das Gefüge der kapitalistischen Warenproduktion, weil das Individuum in einer Gesellschaft mit sich zunehmend auflösenden sozialen und lokalen Bindungen nicht nur einer „Sinn“-Leere unterworfen ist, die durch einen „Tanz ums goldene Kalb“ Körper auszufüllen versucht, sondern auch, weil der Mensch ökonomisch genötigt ist, „Leistungsfähigkeit“ zu demonstrieren. Anerkennung erhält das Individuum nur dann, wenn es sich den Spielregeln der Warengesellschaft unterwirft. Hinter dem Mythos der Schönheit steckt, so der Autor, die „Verwertungsgesetzlichkeit kommerzieller Märkte“.

2.4 Körperkult und Schönheitswahn als Ablehnung der Natur

Die Begriffe „Körperkult“ und „Schönheitswahn“ beanstanden gegenwärtige Körperpraktiken, die den Körper als mangelhaft voraussetzen und suggerieren, dass diese „Mängel“, die durch ästhetische Normen bestimmt werden, über die aktive Arbeit oder Manipulation am Körper behoben werden können bzw. sogar müssen. Die Einstellung, dass der natürliche Körper mangelhaft ist, zeigt eine ablehnende und abwertende Haltung der Gesellschaft gegenüber der Natur. Die Bezeichnungen „Körperkult“ und „Schönheitswahn“ sind keineswegs wertneutral, sondern eindeutig negativ konnotiert und werden in gesellschaftskritischer Absicht genutzt.

Körperverachtung und Körperablehnung bei gleichzeitiger exzessiver Beschäftigung mit dem Körper und dem Körperlichen sind, so Waldrich, in dieser Form historisch einmalig. In der ehemaligen DDR kam Magersucht kaum vor, in Entwicklungsländern ist sie rar und sogar bei schwarzen Amerikanerinnen tritt sie selten auf. Der Autor hält fest, dass eine so deutlich körperzentrierte Neurose in manchen Kulturen fehlt, während sie in anderen rapide zunimmt. Dies legt einen Zusammenhang zwischen dieser Körperneurose und bestimmten sozialen Lebensformen nahe. Diese Erkenntnis, dass Neurosen zeitgebunden sind, ist bereits bekannt. Freuds „klassische“ Hysterie ist zum Beispiel heute kaum noch auffindbar. Dagegen existieren andere Formen seelischer Störungen, die zu Freuds Zeiten nicht bekannt waren. Laut Waldrich stehen Psychosen im Verdacht, nicht so sehr Krankheiten „von innen heraus“ zu sein, sondern stärker Folge bestimmter Rollenerwartungen zu sein. Diese „interaktionistische“ oder „konstruktivistische“ Deutung seelischer Erkrankungen kann zwar auch zu weit geführt werden, jedoch zeigt sie auf, dass die kulturellen und sozialen Einflüsse in diesem Zusammenhang allzu oft wenig berücksichtigt werden oder zumeist unbewusst bleiben und stattdessen die Problematik auf stabile Persönlichkeitsmerkmale zurückgeführt werden. Das Ausufern neurotischer Haltungen gegenüber dem eigenen Körper ist nicht in erster Linie ein individuelles Problem, sondern viel mehr eine Reaktion auf einen gesamtgesellschaftlichen Kontext, welcher im psychologischen Zusammenhang oftmals wenig berücksichtigt wird.[51] Körper sind, so der Autor, Symbole. Dass Körper immer in bestimmten Präsentationen auftreten und sich in dieser Drapierung gleichen, hat eine Bedeutung. Sie sind Teil der Symbolwelt und dadurch Mittel der Kommunikation, wenn auch einer verschlüsselten und oftmals unbewussten. Die Körper sind aber auch Ergebnis dieser Kommunikation. Am Ende dieser Kommunikation steht der gegenwärtige Körper, der sich so präsentiert, wie er die Botschaften, mit denen er konfrontiert wird, verstanden hat. Diese Botschaften sind auch solche des sozialen Rollenspiels, insbesondere Botschaften ökonomischer Verhaltensmuster. Demnach erzählt jeder Körper nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale Geschichte und sagt somit etwas über eine Kultur, Gesellschaft und Ökonomie aus. So ist ja auch die Bekleidungskultur Ausdruck gesellschaftlicher Beziehungen, wirtschaftlicher Interessen und konkreter Lebenszusammenhänge. Gesellschaftlich zu sein gilt also in allen Zusammenhängen auch für den Körper. Waldrich merkt an, dass eine intensive Körperablehnung, wie sie in unserer westlichen Gesellschaft auftritt, vor allem Abwehr und Kampf darstellt. „Viele Körper der Gegenwart sind eine lebendige Verneinung. Man könnte erwarten, dass ein Leib, sofern er nur gesund ist, einfach hingenommen wird. Der Zustand des Leibes könnte die selbstverständliche Voraussetzung und die vitale Basis von Lebenszufriedenheit sein.“[52] Dies ist jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil werden Körper nicht als mitgegeben oder als elementare Phänomene gesehen, sondern als Instrumente und Produkte. Das Natürliche wird abgewertet und das Künstliche, das Gemachte, wird aufgewertet. Waldrich stellt die These auf, dass die Natur im Grunde deshalb abgelehnt wird, weil sie dem Menschen seine Zeitlichkeit und Hinfälligkeit vor Augen führt. Des Weiteren setzt der Körper Grenzen. Er bindet den Menschen an ein Geschlecht, teilt limitierte Ressourcen an Vitalität, Gesundheit und Intelligenz zu und begrenzt die Erlebnisfähigkeit und Verarbeitungsmöglichkeiten. Da unsere Gesellschaft jedoch seit ein paar hundert Jahren die Welt in erster Linie ökonomisch interpretiert und somit vor allem Dinge, die sich zur Verbesserung und Vermehrung von irgendetwas anderem eignen, als sinnvoll betrachtet, muss der Körper in diesem Sinne als relativ nutz- und zwecklos gesehen werden. Er kann zwar im besten Fall für körperliche Arbeit und zur Zeugung von Nachkommen nutzen, jedoch ist in vielen Fällen fraglich, inwieweit das eine notwendig und das andere noch von Bedeutung ist, da der subjektive Lebenssinn wohl kaum nur aus der Reproduktionsfunktion abgeleitet wird. Waldrich erklärt, „während wir gelernt haben, dass alles, was nicht wächst und zulegt, im Verdacht steht, völlig ineffizient zu sein, richtet sich die biologische Entwicklungslinie des Körpers schon während des ersten Viertels der Lebensspanne grundsätzlich ins Negative (...)“.[53] Die Hinfälligkeit und Sterblichkeit des Körpers ist demnach der eigentliche Schrecken des Körperkults. Durch die Ersetzung, Neuformung und Haltbarmachung des Fleisches soll im Grunde genommen die Sterblichkeit aufgehalten, verzögert werden.[54]

2.5 Körperideal und Medienideal

Schönheit und Attraktivität sind heute sehr präsente Themen in den Medien. Das Angebot reicht hierbei von Schönheitsberatung über Casting Shows bis hin zu Sendungen, in denen sich Menschen einer Schönheitsoperation unterziehen. Eine von der Bundesärztekammer vorgestellte Untersuchung der Universität München zeigt, dass im Zeitraum zwischen Februar und Mai 2005 (auf den Sendern ARD, ZDF, RTL, Pro 7, Sat 1, RTL 2 und VOX) insgesamt 1.263 Sendungen zum Thema Schönheit gezeigt wurden. Hiervon befassten sich 105 (8%) ausschließlich mit kosmetischen Operationen.[55] Vertreter der „Koalition gegen Schönheitswahn“ (Vereinigung der Bundesärztekammer) weisen in diesem Zusammenhang auf die mangelnde Aufklärung über Risiken von Schönheitsoperationen in den TV-Formaten hin. Außerdem befürchten sie einen weiteren Anstieg der Bereitschaft Jugendlicher, sich einem operativen Eingriff zu unterziehen. Besonders begünstigt wird eine Assoziation mit den Medienfiguren, wenn ein hoher Medienkonsum besteht und wenn es den Jugendlichen an „realen“ Vorbildern mangelt.[56] Jugendliche sind besonders aufnahmebereit für Medieneinflüsse, da sie sich in der Phase der Entwicklung von Körper und Persönlichkeit befinden. Sie versuchen ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Getrieben von der Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung beschäftigen sich Jugendliche sehr viel mit ihrem eigenen Erscheinungsbild und ihrer Wirkung auf andere.[57]

Laut der Medienwissenschaftlerin Baumann ist sich die Fachwelt insgesamt einig, dass subjektive körperbezogene Vorstellungen und das gesellschaftliche Schlankheitsideal bezüglich der Entstehung von Essstörungen eine wichtige Rolle spielen. Besonders den Medien wird in dieser Hinsicht ein wichtiger Stellenwert beigemessen. In der Mode, Werbung und in Fernsehserien dominieren überschlanke Akteure, die meist einen BMI (Body-Mass-Index) im anorektischen Bereich haben.[58] Levitt stellt fest, dass die Verbreitung von Essstörungen in den Medien überbetont wird und gleichzeitig die Ernsthaftigkeit der Erkrankung heruntergespielt wird. Vor diesem Hintergrund hat Levitt untersucht, was junge Frauen mit Essstörungen assoziieren und kommt zu dem Ergebnis, dass diese als gängiges Phänomen junger Frauen, als moralische Schwäche oder als ein Mittel zur Gewichtsreduzierung, jedoch weniger als Krankheit betrachtet werden. Ferner werden sie einer prominenteren Gesellschaftsschicht zugeordnet und es wird ein Zusammenhang zu medialen Leitbildern gesehen. Essstörungen werden als Symbol der Elite und des medien- und schönheitsbezogenen Lifestyle betrachtet.[59] Am Beispiel Prominenter lässt sich nachvollziehen, dass Medien die Bedeutung eines Menschen meist weniger über Persönlichkeit und Leistungen, sondern eher über das äußere Erscheinungsbild definieren. Somit entsteht eine Fokussierung auf Körperlichkeit. Zudem sind übergewichtige Menschen in den Medien unterrepräsentiert, bzw. werden sie häufig – wenn sie dargestellt werden – in lächerlicher Weise gezeigt. In der Boulevardpresse werden Menschen gepriesen, die es, auf welche Art auch immer, geschafft haben, Unmengen an Körpergewicht zu verlieren, wogegen über Gewichtszunahme gespottet wird. Ein solches Umfeld, in dem Untergewicht als Ideal gezeigt wird und gleichzeitig Übergewicht stigmatisiert wird, suggeriert, dass man nur glücklich sein und anerkannt werden kann, wenn man dem Schlankheitsideal entspricht.[60] Baumann erklärt weiter, dass, entgegen dem Trend der zunehmend steigenden Körperfülle in der Bevölkerung, das in den Medien gezeigte Idealbild immer dünner wird. Das weibliche Schönheitsideal in den Medien ist ein äußerst seltener und für die meisten Frauen unerreichbarer Körpertyp. In der Werbefotografie werden durch digitale Nachbearbeitung unrealistische Körperformen als normal und real dargestellt. Wie stark aber ist der Einfluss der Medien auf das Körperbild und Essstörungen? Baumann erklärt, dass in Studien kein signifikanter Zusammenhang zwischen der absoluten Dauer der Fernsehnutzung und dem Körperbild, Gewichtssorgen, Schlankheitsstreben oder der Körper(un)zufriedenheit festgestellt werden konnte. Jedoch legen Studien, die den Wirkungszusammenhang für die Nutzung von Medieninhalten messen, welche schlanke Körperideale besonders deutlich und häufig zeigen, einen leichten aber signifikanten Zusammenhang nahe. Es erweist sich deshalb empirisch als sinnvoller, die Mediennutzung differenziert zu betrachten.[61] Auch Harrison stellt fest: Je schlanker die als attraktiv empfundenen Mediencharaktere sind und je höher die Affinität zu diesen Personen ist, desto stärker zeigt sich insgesamt der Zusammenhang zur Symptomatik eines gestörten Essverhaltens der Rezipienten.[62] Zudem stellt der Autor fest, dass die ständige Präsenz attraktiver dünner Frauen in den Medien, über die Wirkung auf Jungen und Männer, indirekt eine Wirkung auf Mädchen und Frauen hat, da sich Mädchen und Frauen mit den unrealistischen Erwartungen und Bewertungen und der Selbstverständlichkeit von Maßnahmen der Körpermodifikation durch die Peers und potenziellen Partner konfrontiert sehen.[63] Auch Festingers Theorie des sozialen Vergleichs, welche besagt, dass das Individuum sich über den Vergleich mit anderen Menschen versucht selbst zu evaluieren, legt nahe, dass eine übermäßige Darstellung von aktuellen Schlankheitsidealen in Zeitschriften und Fernsehen, einen negativen Einfluss auf das Körperbild und die Körperzufriedenheit von Konsumenten jener Medien hat. Laut Festinger liefert der Vergleich mit ähnlichen Personen die genaueste Selbsteinschätzung. Der aufwärts gerichtete Vergleich ist dabei eine Art Ziel, an der sich das Individuum orientieren kann, um das Bestmögliche zu erreichen. Der abwärtsgerichtete Vergleich dient dagegen dazu, die eigene Selbsteinschätzung aufzuwerten. Der Vergleich mit den Schönheitsidealen, welche in den Medien vermittelt werden, ist dabei langfristig gefährlich, da diese nicht die durchschnittlichen Körper von Männern und Frauen zeigen, sondern ein nicht zu erreichendes Ideal darstellen.[64] Aronson et al. erklären weiter, dass der sogenannte „Mere Exposure Effekt“ dazu beiträgt, dass die ständige Präsenz von sehr dünnen Frauen in den Medien zu einer Gewöhnung an dieses Aussehen führt. Durch diese Gewöhnung wird – nimmt man an, dass die Beobachtungen zum Mere Exposure Effekt zutreffen – die „dünne Frau“ mit der Zeit als sympathischer empfunden und als Idealbild erstrebenswerter. Der Mere Exposure Effekt wird nach Aronson et al. definiert als „Die Erkenntnis, dass wir umso eher dazu neigen einen Reiz zu mögen, je mehr wir diesem Reiz ausgesetzt sind“.[65] Zudem berichtet die Publikumspresse ausführlich über die Essstörungen von Filmstars, Models, Sportlern, Popmusikern oder Angehörigen von Adelshäuser, sodass der Eindruck entstehen kann, dass es „in“ oder zumindest normal sei, Untergewicht oder gar eine Essstörung zu haben. Baumann berichtet, dass auch jenseits der klassischen Medienangebote das Zelebrieren des Schönheitswahns eine hohe Anziehungskraft beim Publikum ausübt: Große Beliebtheit hat zur Zeit ein Online-Spiel für neun- bis sechzehnjährige Mädchen, welches sich „Miss Bimbo“ nennt und in dem die virtuelle, weibliche Spielfigur unter Einsatz von Geld geeignete Outfits, Diätpillen und Schönheitsoperationen sowie unterstützende Sitzungen beim Psychiater zum perfekten, untergewichtigen Erscheinungsbild verholfen werden soll. Dies bringt der Figur die erstrebte soziale Anerkennung in der virtuellen Welt, welche im Idealfall die Heirat eines reichen Mannes im Online-Spiel ist. Diese Art von Medienangeboten kann bei Heranwachsenden zur Verinnerlichung eines rückständigen Frauenbildes und eines auf gesundem Weg nicht erreichbaren Schönheitsideals führen.[66] Allerdings warnt die Autorin davor, Medienkonsum generell zu „verteufeln“ und, plakativ formuliert, zu behaupten, dass Medienkonsum bei den einen zu Adipositas und bei den anderen zu Magersucht und Bulimie führt. Dies würde die Komplexität des Phänomens nicht angemessen beschreiben.[67]

3. Essstörungen: Symptomatik, Epidemiologie und Diagnostik

Im 3. Kapitel setze ich mich mit Essstörungen und ihren verschiedenen Ausprägungen auseinander. Zunächst gehe ich auf die Essstörungen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Adipositas, Binge-Eating-Störung und die Körperschemastörung ein. Zu jeder Störung trage ich erst allgemeine Informationen zur Symptomatik und Epidemiologie zusammen und schildere mögliche physische und psychische Folgen für Betroffene bzw. nenne Begleiterscheinungen und Risikofaktoren. Im Anschluss an die Vorstellung der einzelnen Erkrankung stelle ich die Möglichkeiten zur Diagnostik heraus.

3.1 Anorexia nervosa (Magersucht)

Die Magersucht ist, nach dem heutigen Verständnis der Erkrankung, eine neue Erscheinung, die erstmals im 19. Jahrhundert auftaucht und die sich zwischen den 20er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ausbreitete. Zugleich finden sich durchaus auch Ähnlichkeiten zu früheren Formen extremen Fastens, jedoch unterscheidet sie sich von diesen durch die zentrale Rolle, die bei ihr auf das Körpergewicht bezogene Befürchtungen und Praktiken spielen.[68] Laut Magersucht-Online e.V. zählen die biologischen, die psychologischen und die gesellschaftlichen Einflüsse zu den bündigen Faktoren der Anorexie. Unter den biologischen Einflüssen versteht man die Veranlagungen einer Störung der Hirnregionen, die das Essverhalten steuern. Von psychischen Einflüssen kann gesprochen werden, wenn die Krankheit zu dem Zeitpunkt auftritt, zu dem auch eine Überforderung der Identitätsbildung in der Pubertät oder Adoleszenz ersichtlich wird. Die Kontrolle über den Körper und das Gewicht erscheint als einzige Eingriffsmöglichkeit in das eigene Leben. Typisch für die Konstellation der Familien von Magersüchtigen ist ein stark ausgeprägt behütendes Verhalten und ein Stillschweigen über Probleme seitens der Eltern. Hinzu kann eine gesellschaftliche Komponente kommen: Schönheitsideale, die Zwänge und Druck ausüben und vor allem junge Menschen in der Zeit ihrer Identitätsentwicklung verunsichern, sind häufig mitverantwortlich für den Wunsch abzunehmen und für ein verzerrtes Körperbild.[69] Die Anorexia nervosa ist mit einer geschätzten Prävalenz von 0,7% unter weiblichen Teenagern zwar seltener als die Bulimie, zeigt aber nicht selten mit schweren körperlichen Komplikationen einen deutlich ungünstigeren Verlauf. Die Erkrankung beginnt am häufigsten im Teenager-Alter, wobei eine Diät, die anschließend außer Kontrolle gerät, ein Einstieg sein kann. Die Krankheit kann jedoch auch bei Erwachsenen oder bereits vor Eintritt der Pubertät auftreten. Nur einer von zwölf Erkrankten ist männlich. Die Erkrankung kann nur selten durch eine kurze Behandlung geheilt werden. Häufig ist der Krankheitsverlauf langwierig, ebenfalls häufig lässt sich mit den zur Verfügung stehenden Therapien keine Heilung erreichen. Magersucht zählt zu den psychischen Krankheiten mit der höchsten Sterberate. Etwa 15 Prozent der Erkrankten sterben daran, entweder durch Komplikationen wie Herzstillstand oder Infektionen, oder aber durch Suizid. Ein Teil der überlebenden Patienten leidet zeitlebens an Langzeitfolgen wie Osteoporose (Knochenschwund) oder Niereninsuffizienz (chronisches Nierenversagen). Das starke Untergewicht führt zu zahlreichen körperlichen Folgen. Dies sind unter anderem: verlangsamter Herzschlag, niedriger Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, Hypokaliämie (Kaliummangel im Blut), Erosionen der Zähne durch häufiges Erbrechen, Unfruchtbarkeit, Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation), chronische Verstopfung, Inkontinenz und Nierenversagen.[70]

Diagnostik der Anorexia nervosa

Wie schon erwähnt, wurde die Magersucht erstmals im 19. Jahrhundert als einheitliches psychosomatisches Krankheitsbild erwähnt. Etymologisch bedeutet der Begriff „Anorexie“ fehlendes Verlangen, d.h. keinen Hunger oder Appetitlosigkeit. „nervosa“ bedeutet nervlich bedingt bzw. psychisch bedingt. Allerdings trifft diese Bedeutung des Begriffs nicht auf die Krankheit zu, da die Betroffenen von Anorexia nervosa keinesfalls unter Appetitlosigkeit leiden oder keinen Hunger verspüren. Gerade in der Anfangsphase werden Hungergefühle von den Betroffenen bewusst unterdrückt.[71] Eine übereinstimmende Klassifikation des psychosomatischen Krankheitsbildes geht aus der Forschungsliteratur nicht hervor. In der Praxis werden zur Diagnostik häufig die von Feighner et al.[72] erarbeiteten Gesichtspunkte sowie die DSM-III-Kriterien (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatrie Association von 1980 verwendet. Diese Kriterien wurden jedoch 1987 einer Revision unterzogen; dies zeigt, dass die Diskussionen über eindeutige diagnostische Kriterien nicht beendet sind. Im Folgenden nenne ich zunächst die, nach Feighner et al., das Krankheitsbild beschreibenden Symptome zur Klassifikation:

Der Gewichtsverlust der Erkrankten[73] muss mindestens 25 Prozent des ursprünglichen Körpergewichtes betragen und die Krankheit dabei in einem Alter von unter 25 Jahren ausbrechen. Zudem zeigt die Betroffene eine verzerrte Einstellung gegenüber Nahrung, Gewicht und dem Essen. Hungergefühle, Ermahnungen und Versprechungen haben keinen Einfluss auf die Nahrungsverweigerung. Die Krankheit wird verleugnet, die Ernährungsgewohnheiten werden nicht erkannt und der Gewichtsverlust wird als lohnend empfunden. Extreme Dünnheit wird angestrebt und als angenehmer Zustand angesehen. Dabei werden jedoch oft Nahrungsmittel gehortet. Es liegt keine medizinische Erkrankung oder andere psychiatrische Erkrankung vor, die die Anorexie und den Gewichtsverlust erklären könnte. Zudem müssen nach Feighner et al. mindestens zwei der folgenden Manifestationen vorliegen: Amenorrhoe, Lanugo (feiner, flaumartiger Haarwuchs an Körperstellen wie Unterarmen, Rücken, Kinn und Oberlippe, selten auch an den Wangen aufgrund der verminderten Östrogenproduktion), Bradykardie (Herzschlag unter 60 Schläge pro Minute), Perioden der Überaktivität, Episoden der Bulimie (Ess-Brech-Anfälle), Erbrechen (möglicherweise selbst induziert).

Als Kriterien für Anorexia nervosa nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen DSM-III-R werden folgende genannt: Das Körpergewicht wird absichtlich unter dem Minimum des – für die Körpergröße oder dem Alter entsprechendem – Gewichtes gehalten. Das Gewicht liegt 15 Prozent oder mehr unter dem zu erwartenden Gewicht. Ferner zeigen die Betroffenen eine große Angst vor einer Gewichtszunahme. Obwohl ein offensichtliches Untergewicht besteht, zeigen erkrankte Personen eine Störung der eigenen Körperwahrnehmung. So leiden sie an einer „Gewichtsphobie“ und sind z.B. davon überzeugt „zu dick“ zu sein oder sehen Teile ihres Körpers als „zu dick“ an, wobei der Schweregrad des gegenwärtigen geringen Körpergewichts geleugnet wird. Bei Frauen ist zudem das Aussetzen der Menstruation von mindestens drei aufeinander folgenden Menstruationszyklen Kriterium einer Anorexia nervosa. In der später überarbeiteten Fassung DSM-IV sind die gleichen Kriterien festgehalten. Jedoch wird die Anorexie dort, wie im ICD-10 (International Classification of Diseases) in zwei Untertypen eingeteilt: Den Restriktiven Typus und den Binge-Eating/Purging-Typus. Beim Binge-Eating/Purging-Typus[74] treten während der aktuellen Episode der Anorexia nervosa regelmäßige Essanfälle oder Purging-Verhalten (selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxantien, Diuretica oder Klistieren) auf, beim Restriktiven Typus jedoch nicht.

In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 sind die diagnostischen Kriterien sehr ähnlich beschrieben (ICD-10, F 50.0). Jedoch ist hier gegenüber dem DSM-IV nicht ausschließlich von Frauen als Betroffene die Rede, sondern das entsprechende Kriterium ist weiter gefasst. Die Kriterien für Anorexia nervosa nach dem ICD-10 sind folgende: Das tatsächliche Körpergewicht liegt mindestens 15 Prozent unter dem zu erwartenden Gewicht, bzw. der Body-Mass-Index (BMI) liegt bei 17,5 kg/m² oder weniger. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch: Vermeidung von hochkalorischen Speisen sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen: selbst induziertes Erbrechen, selbst induziertes Abführen, übertriebene körperliche Aktivitäten, Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika. Es liegt zudem eine Körperschemastörung in Form einer spezifischen psychischen Störung vor. Die Angst zu dick zu werden besteht als tiefverwurzelte überwertige Idee und die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest. Des Weiteren legt der ICD-10 eine endokrine (hormonelle/stoffliche) Störung als Kriterium für Magersucht fest: Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, die sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido- und Potenzverlust manifestiert und ein erhöhter Wachstumshormon- und Kortisonspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störung der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen. Im ICD-10 wird zudem festgehalten, dass bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt ist. Außerdem wird die Anorexie in zwei Untertypen (im ICD-10 unter F 50.00 und F 50.01 zu finden) eingeteilt:

F 50.00: Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen,

Abführen etc.), auch „asketische Form“, „passive Form“ oder „restriktive

Form“ der Anorexie genannt.

F 50.01: Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen,

Abführen etc. unter Umständen in Verbindung mit Heißhungerattacken),

auch „aktive Form“ oder „bulimische Form“ der Anorexie genannt.

Die Autoren Stahr, Barb-Priebe und Schulz kritisieren beide Klassifikationsmodelle. Bei Feighner et al. wird zum einen eine zu starke Gewichtung von körperlichen Symptomen vorgenommen, zum anderen wird die Bewertung des Krankheitsbildes sehr starr an ein vorgegebenes Gewicht gehalten. So bleibt z.B. unberücksichtigt, dass die Betroffenen vor der Erkrankung keinesfalls Idealgewicht oder Normalgewicht gehabt haben müssen, sondern auch übergewichtig gewesen sein können. Auch das Alter bei Krankheitsbeginn als Kriterium festzusetzen ist kritikwürdig, da in der Literatur auch Patientinnen beschrieben werden, bei denen das Krankheitsbild erst in höherem Alter auftritt. Ebenso wird die Relevanz der Amenorrhoe zur Bestimmung der Magersucht angezweifelt, weil dieses Kriterium bei männlichen Patienten gänzlich weg fällt und weder bei sehr jungen Frauen noch bei Patientinnen, die orale Kontrazeptiva einnehmen, herangezogen werden kann. Deshalb sei es notwendig, neben somatischen Symptomen insbesondere Einstellungen und Verhaltensmerkmale der Erkrankten als wesentlich zur Beschreibung des Krankheitsbildes heranzuziehen. Neuere Forschungen betonen, dass bei der Diagnose „Magersucht“ einer genauen psychologischen Exploration mehr Gewichtung zukommen sollte als medizinischen Befunden.[75] Wunderer und Schnebel weisen ebenfalls auf Schwierigkeiten in der Diagnose nach DSM-IV hin. So ist das Kriterium der „Gewichtsphobie“, also die ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme oder davor, zu dick zu werden, kulturabhängig zu sehen. In westlichen Kulturen besteht auch bei Mädchen und Frauen ohne manifeste Essstörung vielfach große Angst, zu dick zu werden. Des Weiteren leugnen nicht alle Patientinnen und Patienten den Schweregrad ihres Untergewichts. Vielmehr besteht eine Einsicht, die jedoch rein intellektuell bleibt und aus fehlender Angst vor den Folgen nicht in Handeln umgesetzt wird.[76]

3.2 Bulimia nervosa (Essbrechsucht)

Die Bulimia nervosa wurde zuerst 1979 beschrieben und ist seit 1980 Bestandteil des DSM.[77] Sie ist noch eine relativ „junge“ Essstörung und zeigt noch die größten Lücken und offenen Fragen hinsichtlich der Forschungslage.[78] Jedoch wurde von Ziolko und Schrader nachgewiesen, dass schon seit der Antike ein Krankheitsbild, die sogenannte Kynorexie, bekannt war, welches von konstantem und abnorm starkem Nahrungsverlangen sowie anschließendem Erbrechen gekennzeichnet war.[79] Die Bezeichnung stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Ochsenhunger“ oder „Stierhunger“. Bulimiekranke leiden an immer wiederkehrenden Heißhungerattacken mit darauffolgendem Erbrechen. Die Erkrankten nehmen innerhalb kürzester Zeit sehr große Mengen an Nahrung auf, wobei diese nicht zum Genuss verzehrt wird, sondern eher hinuntergeschlungen und oftmals nicht einmal ganz zerkaut wird. Während der Essanfälle haben die Betroffenen das Gefühl, die Kontrolle über sich selbst und über die Nahrungsmengen, die sie verschlingen, zu verlieren. Die Essanfälle können aber auch geplant stattfinden. Gründe für das anschließende Erbrechen sind vor allem die Angst vor einer möglichen Gewichtszunahme sowie Scham über den eigenen Kontrollverlust. Die Nahrungsmenge kann im Magen auch ein unangenehmes Völlegefühl und Schmerzen verursachen, sodass das anschließende Erbrechen erleichternd wirkt. Durch diesen Wechsel zwischen Hungern und Essen mit anschließendem Erbrechen, Abführen oder Abtrainieren hat die Bulimie auch den Namen Essbrechsucht.[80] Die Bulimia nervosa wird ebenso wie die Anorexie in zwei Untertypen eingeteilt: Den Purging-Typus, der sich dadurch auszeichnet, dass die Betroffenen Medikamente und Abführmittel einsetzen und den None-Purging-Typus, bei dem die Erkrankten keine derartigen Hilfsmittel benutzen, jedoch durch Fasten oder exzessive sportliche Betätigung einer Gewichtszunahme entgegenzuwirken. Mittlerweile wird auch der Begriff der „Sportbulimie“ verwendet. Bei den Betroffenen steht hier als gewichtsregulierende Maßnahme eine übermäßige körperliche Aktivität im Vordergrund.[81] Ebenso, wie bei der Anorexie, erkranken überwiegend Frauen an dieser Essstörung und sie betrifft zwischen drei und acht Prozent der weiblichen Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 30 Jahren.[82] Bei jungen Frauen in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter liegt die Prävalenz bei einem bis drei Prozent. Berufsgruppen, bei denen ein geringes Körpergewicht für das Ausüben des Berufs verlangt wird oder vorteilhaft ist, sind besonders anfällig für diese Krankheit. Man bezeichnet einen Menschen als bulimiekrank, wenn er mindestens zweimal wöchentlich Essbrechanfälle durchlebt. Erkrankte beschäftigen sich ausführlich mit ihrem Gewicht und versuchen in erster Linie abzunehmen sowie jegliche Gewichtszunahme zu vermeiden. Die Beschäftigung mit dem Essen und die Angst vor dem Zunehmen spielt eine zentrale Rolle im Leben der Betroffenen. Erkrankte stehen ihrem Körper immer feindselig gegenüber. Die Zufriedenheit nach einer Gewichtsabnahme hält nicht lange an, da schon bald ein geringeres Gewicht angestrebt wird. Während zu Beginn der Erkrankung der Brechreflex noch durch den Finger im Hals ausgelöst wird, reicht später oft ein Beugen über die Toilette oder die Anspannung von Brust- und Bauchmuskulatur aus, um ein Erbrechen herbeizuführen. Betroffene verspüren Scham und Angst verurteilt zu werden, weshalb sie versuchen, ihr Verhalten zu verbergen. Depressionen sind Begleiterscheinungen der Bulimie und häufig tritt auch selbstverletzendes Verhalten in Form von Schnittwunden oder anderen Verletzungen auf. Viele Bulimiker fühlen sich in sozialen Situationen unsicher und hilflos, was manchmal durch ein betont selbstbewusstes Verhalten zu überspielen versucht wird.[83] Die Essbrechattacken können auch geplant auftreten, wobei gezielt „verbotene“ – also hoch kalorische und fettreiche – Lebensmittel ausgesucht werden. Bulimikerinnen isolieren sich häufig sozial, da sie Situationen im Alltag meiden, bei denen das Thema Essen aufkommen könnte. Aufgrund unzureichender Untersuchungen liegt kein umfassendes Bild über Essstörungen bei Männern vor. Schätzungsweise liegt der Anteil der männlichen Erkrankten bei fünf Prozent der Gesamterkrankten.[84] Der Umgang mit dem Essen wird bei Betroffenen als Reaktion auf Streit und innere Konflikte gesehen, also als eine Art der Stressbewältigung. Oft empfinden Bulimiker einen Ekel gegenüber sich selbst und ihrem Verhalten, was dazu führt, dass sie sich von Familie und Freunden distanzieren. Durch diese Distanz fühlen sie sich allein und einsam. Des Weiteren weisen Bulimiker ein vermindertes Selbstwertgefühl auf und denken häufig in Alles-oder-Nichts-Kategorien (Schwarz-Weiß-Denken): Entweder man ist perfekt oder ein totaler Versager. Dahinter steht eine große Angst, mit Fehlern und Schwächen nicht liebenswert zu sein.[85] Körperliche Folgen der Bulimie sind unter anderem Herzrhythmusstörungen und Niereninsuffizienz (durch den Verlust von Elektrolyten), vermehrte Magensäurebildung und Gastritis (Magenschleimhautentzündung), Zahnschäden durch häufiges Erbrechen, Entzündungen der Speiseröhre und Magen- bzw. Speiseröhrenrisse.[86]

Habermas stellt fest, dass sich die Bulimie auf der Symptomebene eindeutig charakterisieren lässt, eine Beschreibung der Persönlichkeit bulimischer Frauen (er spricht explizit nur von weiblichen Erkrankten) jedoch sehr viel schwerer fällt.[87] Persönlichkeitsfragebögen von Paul[88] bildeten in einer Untersuchung bulimischer Frauen drei Untergruppen, die er als „sozial-phobisch“, „impulsiv“ und „unauffällig“ bezeichnete. Habermas, Neureither, Müller und Horch gelangten, aufgrund verschiedener Verläufe, in einem symptomzentrierten Therapieprogramm zu einer Unterteilung bulimischer Patientinnen in vier Gruppen: zwanghaft-anorektiforme, überperfekt und zugleich süchtige, „ichschwach“-impulsive und eine Restgruppe relativ unauffälliger.[89] Habermas stellt heraus, dass die Betroffenen ohne nennenswerte Persönlichkeitsstörung durch eine besondere Haltung anderen und sich selbst gegenüber auffallen. Sie sind besonders bemüht, stark und unabhängig zu wirken und sind häufig ehrgeizig. Die Erkrankten zeigen sich anderen gegenüber stets entgegenkommend und sind darauf bedacht, es dem Gegenüber Recht zu machen. Oft scheinen sie alle Schwierigkeiten im Griff zu haben und zudem noch ein offenes Ohr für die Sorgen anderer zu haben. Sie haben oft perfektionistische Ansprüche an sich selbst und erleben sich insgeheim als schwach, bedürftig und von anderen abhängig. Ihre Symptomatik empfinden sie als verabscheuenswert und pervers. Offene Auseinandersetzungen mit Anderen werden von den Erkrankten gemieden, stattdessen wird versucht, Enttäuschung und Ohnmacht in Essanfällen auszuagieren. Die Beschreibung einer für Bulimikerinnen typischen Persönlichkeit fällt, laut Habermas, schwer. Jedoch ist es noch schwieriger, unbewusste Konfliktkonstellationen zu beschreiben, die sie zu ihrem Handeln motivieren[90] Am eindeutigsten kann die Symptomatik auf alters- und geschlechtstypische Konflikte bezogen werden. Typisch sind auslösende Situationen wie der Auszug aus dem Elternhaus oder das Ende einer Liebesbeziehung. Weiterhin spielen alterstypische Autonomiekonflikte bei der Ablösung von den Eltern eine zentrale Rolle. Häufig ist bei bulimischen Patientinnen eine frühe Trennung oder Abgrenzung von den Eltern in der Adoleszenz zu beobachten. Nach Habermas führt dies dazu, dass starke, regressive Wünsche aktiviert werden und es durch deren Abwehr zu einer defensiven Unabhängigkeit in Beziehungen zu anderen kommt. Die eigenen Wünsche nach Geliebtwerden und Versorgtwerden tritt die Bulimikerin ab und nimmt anderen gegenüber die Rolle der Bedürfnislosen an. Der Essanfall ist schließlich der Versuch, den emotionalen Hunger regressiv, auf die Nahrung verschoben, zu befriedigen. Häufig werden bei Bulimikerinnen spezielle Abwehr- und Verarbeitungsmechanismen von Konflikten beobachtet. Durch das Unterdrücken der eigenen Wünsche entstehen immer wieder Bedürftigkeit, Enttäuschung und Wut, welche jedoch nicht von den Erkrankten in ihren Beziehungen artikuliert werden. Stattdessen werden die menschlichen Objekte – weil sie als unzuverlässig erlebt werden – durch das Objekt Nahrung ersetzt. Schließlich werden schmerzliche und aggressive Emotionen von den Erkrankten nicht mehr differenziert wahrgenommen, sondern nur noch als eine Art Spannung oder Leere empfunden, die dann zu einem Essanfall führen.

[...]


[1] Vgl. Feingold/Mazzella 1998, S. 190-195.

[2] Pope et. al. 2001, S. 185.

[3] Hauskeller 1999, S. 12.

[4] Ebd. S. 14.

[5] Vgl. Ginsborg In: Höffe 2008, S. 59-75.

[6] Keupp 1997, S. 123.

[7] Vgl. ebd., S. 124.

[8] Vgl. Keupp 1997, S. 138.

[9] Vgl. Keupp 1997, S. 139.

[10] Vgl. Hauner/Reichart 2004, S. 12.

[11] Vgl. Stangl: http://lexikon.stangl.eu/165/kindchenschema/, Abruf 12.08.2011.

[12] Vgl. Degele et al. 2010

[13] Vgl. Hauner/Reichart 2004, S. 25-27.

[14] Vgl. Cunningham 1986, S. 925-935.

[15] Vgl. Müller: http://www.weibliche-attraktivitaet.de/seite-9.html, Abruf 12.08.2011.

[16] Vgl. Thornhill/Gangestad 1993, S. 64-78.

[17] Vgl. Keupp 1997, S. 122-134.

[18] Vgl. Didou-Manent/Ky/Robert 2000, S. 17.

[19] Vgl. Schefer Faux 2000, S. 26.

[20] Vgl. Didou-Manent/Ky/Robert 2000, S. 39-41.

[21] Vgl. Mang 2009, S. 63.

[22] Vgl. Didou-Manent/Ky/Robert 2000, S. 70-73.

[23] Vgl. ebd., S. 100-102.

[24] Vgl. Schefer Faux 2000, S. 34.

[25] Vgl. ebd., S. 42.

[26] Didou-Manent/Ky/ Robert 2000, S. 137 f.

[27] Vgl. Schefer Faux u.a. 2000, S. 64.

[28] Vgl. Didou-Manent/ Ky/Robert 2000, S. 177 f.

[29] Vgl. Mang 2009, S. 64.

[30] Vgl. Schefer Faux 2000, S. 152.

[31] Vgl. ebd., S. 201.

[32] Vgl. Waldrich 2004, S. 146 ff.

[33] Vgl. Didou-Manent/Ky/Robert 2000, S. 220.

[34] Vgl. Mang 2009, S. 66.

[35] Vgl. Villa 2008, S. 252.

[36] Vgl. ebd..

[37] Vgl. ebd., S. 260.

[38] Die Begriffe „Schönheitsoperation“ und „Schönheitschirurgie“ sind m.E. kritisch zu betrachten, da sie

meist ein eitles Streben nach „Schönheit“ und individuellem Wohlgefühl suggerieren. Wohingegen der

Begriff der „plastischen Chirurgie“ oft mit der Position eines krankmachenden Leidensdrucks (z.B.

durch soziale Ausschließung und soziale Sanktionen) in Verbindung gebracht wird. Der Begriff der

„kosmetischen Chirurgie“ erscheint mir persönlich als neutraler als die vorher Beschriebenen.

[39] Ebd., S. 246. Die Autorin bezieht sich z.B. Auf eine Debatte im Bundestag am 23.04.2008 über ein

gesetzliches Verbot der Anwendung der plastischen Chirurgie bei Minderjährigen.

[40] Vgl. Hurrelmann/Albert: Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie 2002.

[41] Vgl. http://www.hautstadt.de/hs/pages/news/list_news.php?we_objectID=9487, Abruf 08.11.2011.

[42] Vgl. Studie der DGÄPC 2010: http://dgaepc.de/files/DGAEPC_Magazin_2010.pdf, Abruf 25.08.2011.

[43] Vgl. Studie der DGÄPC 2010: http://dgaepc.de/files/DGAEPC_Magazin_2010.pdf, Abruf 25.08.2011.

[44] Villa 2008, S. 247 f.

[45] Villa 2008, S. 249.

[46] Praxeologie: Wissenschaft vom (rationalen) Handeln, Entscheidungslogik.

[47] Villa 2008, S. 256.

[48] Davis in Villa 2008, S. 41-54.

[49] Ettl, 2001, S. 39.

[50] Waldrich 2004, S. 39.

[51] Waldrich 2004, S. 16.

[52] Waldrich 2004, S. 17.

[53] Ebd., S. 20.

[54] Vgl. ebd., S. 159.

[55] Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.1.17.3676.3816&all=true, Abruf 04.11.2011.

[56] Vgl. Luca 2007, S. 44.

[57] Vgl. Große-Loheide 2007, S. 68.

[58] Vgl. Baumann 2009, S. 55.

[59] Vgl. Lewitt 1997, S. 169-183 .

[60] Vgl. Baumann 2009, S. 70.

[61] Vgl. ebd., S. 86.

[62] Vgl. Harrison 1997, S. 478-500.

[63] Vgl. Harrison 2000, S. 617-640.

[64] Vgl. Aronson/Wilson/Akert 2004, S. 176.

[65] Aronson/Wilson/Akert 2004, S. 361.

[66] Vgl. Baumann 2009, S. 17.

[67] Für weitere Ausführungen zu Medien und deren Einfluss auf Essstörungen siehe Kapitel 4.6.3.

[68] Vgl. Habermas 1994, S. 41-45.

[69] Vgl. Gawlik: www.magersucht-online//index.php, Abruf 08.08.2011.

[70] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung : www.bzga-essstoerungen.de; Abruf: 24.10.2011.

[71] Vgl. Stahr/Barb-Priebe/Schulz 2010, S. 23.

[72] Vgl. Feighner, et al. 1972, S. 57-63.

[73] Im Folgenden verwende ich, aus Gründen der besseren Lesbarkeit, nur die weibliche Form,

insbesondere auch deshalb, weil Mädchen und Frauen sehr viel häufiger von Essstörungen betroffen

sind als Männer.

[74] Purging: selbst-induziertes. Erbrechen oder Missbrauch von Abführmitteln, Mitteln zur Entwässerung oder

Klistieren.

[75] Vgl. Stahr/Barb-Priebe/Schulz 2010, S. 24-25.

[76] Vgl. Wunderer/Schnebel 2008, S.21-24.

[77] Vgl. ebd., S. 25.

[78] Vgl. Stahr/Barb-Priebe/Schulz 2010, S. 25.

[79] Vgl. Ziolko/Schrader 1985, S. 231-258.

[80] Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: www.bzga-essstoerungen.de; Abruf: 27.09.2011.

[81] Vgl. Wunderer/Schnebel 2008, S. 25.

[82] Vgl. Stahr/Barb-Priebe/Schulz 2010, S. 25.

[83] Vgl. Becker 1994, S. 23-24.

[84] Vgl. Becker 1994, S. 54.

[85] Vgl. ebd, S. 55.

[86] Vgl. Garbsch, http://www.studentenberatung.at/studentenberatung/de/essstoerungen.htm, Abruf

09.08.2011.

[87] Vgl. Habermas, 1994, S. 181f.

[88] Vgl. Paul, 1987, S. 99-114.

[89] Vgl. Habermas 1994, S.182.

[90] Vgl. Habermas 1994, S. 183.

Ende der Leseprobe aus 146 Seiten

Details

Titel
Körperkult, Schönheitswahn und Essstörungen
Untertitel
Hintergründe und Ursachen, Möglichkeiten der Intervention und Prävention in der Sozialpädagogik und interdisziplinär
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Sozialpädagogik / Sozialarbeit, Pädagogik
Note
1
Autor
Jahr
2012
Seiten
146
Katalognummer
V194725
ISBN (eBook)
9783656221869
ISBN (Buch)
9783656222354
Dateigröße
2906 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Körperkult, Schönheitswahn, Essstörungen, Sozialpädagogik, Pädagogik, Diplomarbeit
Arbeit zitieren
S. Dormann (Autor:in), 2012, Körperkult, Schönheitswahn und Essstörungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194725

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