Seit Marcel Duchamps Konzeption der Ready-Mades und der Verwendung alltäglicher Produkte der industriellen Warenwelt in den Collagetechniken der Avantgarde, verweist die Erweiterung des Kunstbegriffs auf die konzeptionellen Felder von Arbeit und Produktion. Die Präsentation alltäglicher Objekte im musealen Kontext offenbart einerseits deren Kunstcharakter und andererseits damit zugleich den Produktcharakter des traditionellen Kunstwerks. In der technischen Bearbeitung von Material konvergieren künstlerische und industrielle Produktion. Die Konsequenzen dieser Parallelisierung künstlerischer mit gesellschaftlichen Produktionprozessen - eine Neudefinition der Konzeptionen von Künstler und Werk, in der gesellschaftliche und künstlerische Praxis zusammenfallen - haben in den 60er Jahren unter Erfindung neuartiger ästhetischer Formen wie Happening und Performance einen Ausdruck gefunden. Im Folgenden sollen anhand der Performances 'Anthropométries de l'époque bleu' (1960) und 'I like America and America likes me' (1974) Reflexionsmodelle von Yves Klein und Joseph Beuys über die Begriffe von Arbeit und Produktion aufgezeigt werden.
Seit Marcel Duchamps Konzeption der Ready-Mades und der Verwendung all- täglicher Produkte der industriellen Warenwelt in den Collagetechniken der Avantgarde, verweist die Erweiterung des Kunstbegriffs auf die konzeptionellen Felder von Arbeit und Produktion. Die Präsentation alltäglicher Objekte im musealen Kontext offenbart einerseits deren Kunstcharakter und andererseits damit zugleich den Produktcharakter des traditionellen Kunstwerks. In der technischen Bearbeitung von Material konvergie- ren künstlerische und industrielle Produktion. Die Konsequenzen dieser Parallelisierung künstlerischer mit gesellschaftlichen Produktionprozessen - eine Neudefinition der Kon- zeptionen von Künstler und Werk, in der gesellschaftliche und künstlerische Praxis zu- sammenfallen - haben in den 60er Jahren unter Erfindung neuartiger ästhetischer For- men wie Happening und Performance einen Ausdruck gefunden. Im Folgenden sollen anhand der Performances Anthropométries de l'epoque bleu (1960) und I like America and America likes me (1974) Reflexionsmodelle von Yves Klein und Joseph Beuys über die Begriffe von Arbeit und Produktion aufgezeigt werden. Aus ihrem Verständnis die- ser Begriffe folgt eine neue Konzeption des Künstlers, die als Verabschiedung klassi- scher Autonomieästhetik und psychologisierendem Geniebegriff jede Art von Produkti- on als schöpferische Tätigkeit interpretiert. Aus diesen Kreativitätsmodellen wiederum lassen sich Forderungen an die gesellschaftliche wie ökonomische Organisation und letzten Endes eine Theorie der Handelns ableiten.
Am neunten März 1960 in der angesehenen Galérie d'art contemporain de Paris präsentiert Klein im schwarzen Frack und mit weißen Handschuhen, nachdem sich neun Musiker und drei nackte weibliche Modelle im Raum eingefunden haben, vor einem ex- klusiven Publikum seine Antropométries. Auf eine Bewegung seines Taktstocks hin be- ginnt das Orchester die Symphonie monoton zu spielen, während die drei Modelle, das dunkelstrahlende IKB auf ihre Haut aufgetragen, ihre Körper unter Kleins Anweisungen auf die auf dem Boden ausgerollten und gegenüber dem Zuschauerraum platzierten Leinwänden pressen, drücken, schleifen. Verstanden als die Aufführung einer Produkti- on von Aktgemälden sind die Anthropométries das Geschehen eines Nicht-Geschehens, die Anwesenheit einer Abwesenheit. Klein greift das traditionelle Topos von (aktivem) Maler und (passivem) Modell auf, um es zu verkehren. Zwischen den Händen des Künstlers und der Leinwand findet kein Kontakt statt. Die ostentativ weißbehandschuh- ten Hände sind eine Absage an das Weiß der Leinwand, das sie nicht mit ihrem Werk er- füllen werden und damit an eine ganze Tradition einer von metaphysisch-theologischen Implikationen durchzogenen Schöpfer-Werk-Beziehung, die in Mallarmés Le blanc souci de notre toile ihre Apotheose findet. Mit dieser Enthaltung vom Akt des Malens verschwindet die Gestalt des Künstlers als Zuschreibungssubjekt einer klassischen Werkhermeneutik, die sich auf Historie, Psychologie und Biographeme stützt. „Le but de ce procédé était de parvenir à maintenir une distance définie et constante entre la peinture et moi pendant le temps de la création.“1 Um diese Distanz einzuhalten, wird in den Anthropométries der künstlerische Schaffensprozess ausgelagert in ein maschinell anmutendes Produktionsgefüge. Als pinceaux vivants malen die Modelle durch das Auf- drücken ihrer Körper auf die Leinwand ihren eigenen Akt. Darstellungsmittel und Dar- gestelltes fallen zusammen. Die Körper berühren die Leinwand, die sie abbilden wird, hinterlassen ihre Spuren auf ihr, sowohl im Sinne eines Abdrucks als auch einer Ästhe- tik des Abjekten: Haare, Schuppen, Schweiß vermischen sich mit der Farbe. Die Aktion wird zu einem drucktechnischen Gefüge, das dem Künstler eine hand lungslose Distanz zur Produktion der Werke gestattet, in der Autorschaft und Originalität sich aufzulösen scheinen. In der Übertragung des Malaktes auf seine Modelle als Enthaltung vom schöpferischen Prozess schafft Klein an der Stelle des Künstlersubjekts eine Leere. Doch aus dieser Leere, dieser Entleerung einer traditionellen Konzeption des Künstlers, tritt die Gestalt des Organisators, des Konstrukteurs. Das Subjekt weicht dem Projekt. Das personale Originalwerk maschineller Reproduzierbarkeit. Klein, der nicht mit sei- nen Händen in die Aktion eingreift, verschwindet innerhalb eines Gefüges, dessen Rah- men er selbst entworfen hat. Nicht länger legt er als Künstler selber Hand an das Materi- al, sondern vermag frei über dessen Organisation zu bestimmen, es zu entwerfen. Leitet sich der Begriff des Handelns ursprünglich von der Tätigkeit der Hände in der Konfron- tation mit der Welt, der Arbeit, ab, so weist die Enthaltung der Hände vom zu bearbei- tenden Material, die Handlungslosigkeit angesichts des zu schaffenden Werks auf eine neue Konzeption des Handelns durch einen veränderten Arbeitsbegriff. Die Organisati- on des Materials in seinen Elementen ist nicht mehr Arbeit als Konfrontation der zugrei- fenden Hände mit der Welt, sondern freies Spiel, das diese durch den zeigenden Takt- stock ersetzt. Damit werden Arbeit und Kunst im Begriff der Kreativität als Spiel des Entwerfens miteinander vereint. In diesem Sinne ist das Verschwinden des Künstlersub- jekts in einem maschinellen Gefüge ein Akt der Befreiung. Der entwerfende Produzent vermag Abstand vom Material zu nehmen, der Künstler von der Farbe und ihrem Auf- trag, der Arbeitende von den zu bearbeitenden Objekten dank eines maschinellen Rah- mens.
Die Vereinigung materieller und künstlerischer Produktion im Begriff der Krea- tivität wird in den Aktionen Joseph Beuys' weitergedacht, deren Bedeutung er darin sah, „den alten Kunstbegriff zu erweitern. So weit, so gross zu machen, dass er jede mensch- liche Tätigkeit umgreifen kann.“2 Ein wesentlicher Bestandteil seiner Erweiterung des Kunstbegriffs im Verhältnis zu Marcel Duchamp und Yves Klein besteht dabei im Aspekt der Kommunikation, des Dialogs mit den anderen/dem anderen und in diesem Verständnis: der Verantwortlichkeit. Die Relation von Sender und Empfänger, Aus- tausch- und Übertragungsprozesse, Dialoge zwischen verschiedenen Stoffen, Energien und Wesen im Modell von Batterie oder Aggregat sind konstante Themen in seinen Werken. Das Prinzip der Sozialen Plastik, zu der die Erweiterung des Kunstbegriffs füh- ren soll, ist die Proportionalität. Der Mensch ist im Verständnis dieses Begriffes nicht al- lein (sich) frei schaffender Entwerfender, sondern vor allem ein Entwerfender im Ver- hältnis zu anderen/anderem. Er gestaltet (sich) immer schon in Bezug auf andere/ande- res: Natur, Gesellschaft, Mitmenschen. Durch ihre Kreativität ist jede Arbeit am sozia- len Organismus zur Sozialen Plastik hin Kunst. Jeder, der an der Sozialen Plastik arbei- tet, kann Künstler sein und jedes Schaffen im Bewusstsein des Mitseins mit anderen und für andere ist künstlerisch. Damit wird die Verantwortlichkeit, verstanden als richtige Nutzung der Kreativität als Kapital, zum zentralen Prinzip von Beuys' Arbeits- und Handlungsverständnis. In seiner dreitägigen America -Performance können verschiedene Ansätze zur Realisation dieses Handlungsverständnisses gefunden werden. Das Zusam- menleben mit dem Kojoten ist nicht nur eine Begegnung mit dem Tier als ganz ande- rem, sondern auch ein Versuch, die mythologischen, historischen und politischen Aspekte, die sich in die Gestalt des Kojoten eingeschrieben haben, zu reaktivieren in ih- rer Widersprüchlichkeit, ihrer Bedeutung des Scheiterns und sie für und in der Gegen- wart zu verändern. Mit dem Kojoten bringt Beuys unumwunden den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern in Verbindung,3 in deren Mythologien dem Kojoten gött- liche Kräfte zugesprochen wurden, weshalb auch das Tier immer noch verfemt und ge- jagt werde. Damit identifiziert er mit dem Kojoten sowohl das traumatische Verhältnis der westlichen zur indigenen Kultur als auch das zivilisatorische zur Natur. „Der Sinn der Aktion war, den Dialog des Menschen mit dem Naturreich wieder in Gang zu brin- gen. Es darf nicht nur eine Kommunikation zwischen den Menschen geben, sondern sie muss auch mit anderen Wesen stattfinden.“4 Als andere Wesen sind Tiere für Beuys „Generatoren zur Produktion von spirituellen Gütern.“5 Beuys' Isolation mit dem Kojo- ten in einem gleichsam exterritorialen Raum dient dazu, an diesen teilzuhaben und sie zur Heilung der Wunden, die das Tier repräsentiert, zu nutzen. Das Zusammensein mit dem Kojoten ist insofern eine Begegnung mit der Geschichte eines ganzen Kontinents, das Zusammentreffen mit anderen, mit den Verstorbenen im Sinne einer Erinnerung an sie. Seine Hirschdenkm ä ler bezeichnete Beuys als „Akkumulationsmaschinen, an denen Menschen und alle anderen Geister sich treffen, um gemeinsam zu arbeiten [...] Ver- nichtete und ausgestorbene Tiere und vernichtete und ausgestorbene Menschen treffen sich an den Maschinen.“6 Mit dem Kojoten als „Außenorgan“7 bildet Beuys in seiner Performance selbst solch eine Akkumulationsmaschine, einen Kommunikationsapparat, ein Denkmal, in dem die Erinnerung der Gegenwart auf das Erinnerte der Vergangenheit trifft und zum Generator wird für eine neue gemeinsame Arbeit zwischen Lebenden und Toten, Tieren und Menschen. Dabei schiebt sich zwischen Mensch und Tier die Idee der Maschine, des maschinellen Gefüges als dritter, die beiden anderen miteinander verbin- dender Term. Mensch und Tier können miteinander Verbindungen, Verknüpfungen und geistige Übertragungsgefüge bilden. Beuys' Ich bin ein Sender, ich strahle aus, ließe sich in diesem Sinne als eine kommunikationstechnologische Metapher interpretieren. Von diesem Verständnis eines maschinellen Gefüges aus, das Beuys mit dem Kojoten zum heilenden, verantwortlichen Dialog mit der Vergangenheit zu bilden versucht, zei- gen sich zugleich die Differenzen seines erweiterten Kunst- und/als Handlungsbegriffs zu dem von Yves Klein. Dieser depersonalisert, immaterialisiert sich als Künstlersubjekt durch seine Enthaltung von der Erschaffung 'seiner' Kunstwerke, nur um zu einem frei Entwerfenden, einem Handelnden ohne die Benutzung seiner Hände, zu werden, der die Schaffung des Werks an den automatisierten und reproduzierbaren Produktionsprozess seiner pinceaux vivants delegiert. Während Klein also ein maschinelles Gefüge, dem er gegenübersteht, zur Schaffung von Werken benutzt, deren Schöpfer er in den Termini einer traditionellen Werkhermeneutik nicht ist, bildet Beuys dialogische Gefüge mit Tie- ren, Toten, Energien, Räumen und Zeiten, „ich selbst bin in diesem Augenblick das Kunstwerk.“ Damit vollendet sich in Beuys' Konzeption der Sozialen Plastik die von den ihm vorhergegangenen Avantgarden betriebene Überschreibung von Werk- zu Ar- beitsbegriffen. Nachdem in Kleins Anthropométries die Erschaffung des Kunstwerks zu einem Produktions-, einem automatisierten Arbeitsprozess gemacht worden ist, wird in Beuys' Erweiterung des Kunstbegriffs jede Arbeit als Handlung in Bezug auf andere/an- deres zum Kunstwerk.
[...]
1 Klein nach: Catherine Francblin, L'artiste au travail: être et ne pas faire, in: Le Nouveau Réalisme, ed. p. La Réunion des musées naionaux, Paris 2007, p.62
2 Beuys nach: Robert Filiou, Lehren und Lernen als Aufführungskünste, hrsg. v. Kasper König, Köln- New York 1970, S.161
3 Vgl. Caroline Tisdall, Joseph Beuys - Coyote, München 1988, S.10
4 Beuys nach: Uwe M. Schneede, Joseph Beuys, Die Aktionen, Ostfildern-Ruit 1994, S.336
5 Beuys nach: Caroline Tisdall, Joseph Beuys - Coyote, München 1988, S.11
6 Beuys nach: Kirsten Claudia Voigt, Joseph Beuys: >I like America and America likes me<, Beuys' Arbeit mit Tieren - Studien im anthropologischen Feld, in: Herausforderung Tier, hrsg. v. Regina Haslinger, München-London-New York 2000, S.68
7 Beuys nach: Uwe M. Schneede, Joseph Beuys, Die Aktionen, Ostfildern-Ruit 1994, S.71
- Arbeit zitieren
- Maximilian Gilleßen (Autor:in), 2009, Die Erweiterung des Kunstbegriffs als Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Arbeit , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194826