„Die Psychologie verlockt sogar den ernsthaftesten Menschen zum Verfassen zum Romanen, und zwar völlig unwillkürlich. Ich spreche von der übertriebenen Psychologie, meine Herren Geschworenen, von einem gewissen Missbrauch, der mit ihr getrieben wird.“
Derart verweist der Verteidiger Fetjukowitsch in der zentralen Gerichtsszene von Dostojewskijs Die Brüder Karamasow auf die Gefahren der Verwendung der ‚Seelenkunde‘ zur Erklärung von Mordfällen, da man aus diesem „Stab mit zwei Enden“ „alles ableiten“ könne „was man will“. Mit seinem „berühmte[n] Spott auf die Psychologie“ scheint die fiktive Gestalt Dostojewskijs dementsprechend gewissermaßen die Zugänglichkeit der unbewussten Gedanken bzw. Emotionen selbst anzuzweifeln – eine Annahme, welche die wenig später entwickelte, psychoanalytische Therapiemethode Freuds eindeutig infrage stellt. Dennoch sind die Vorstellungen von der Psyche bei Freud und Dostojewskij offensichtlich nicht vollkommen gegensätzlich. Ob von Natalie Reber oder aus dem Munde Antonio Oliveros – nur allzu oft wird der russische Schriftsteller von Literaturwissenschaftlern als ‚Vorläufer‘ des Wiener Arztes bezeichnet.
In dieser Hauptseminararbeit soll diese – bisher in der Forschungsliteratur nicht annähernd kritisch genug reflektierte – Relation zwischen der den Romanen Dostojewskijs zugrundeliegenden Vorstellung von der menschlichen Psyche und den Grundkonzepten Freuds genauer untersucht werden. Der Fokus auf Dostojewskijs letzten Roman Die Brüder Karamasow (1879/80) bietet sich dabei besonders an, da sich sowohl Freud-Schüler Jolan Neufeld in seiner Schrift Dostojewski – Skizze zu seiner Psychoanalyse (1923) als auch Freud selbst in einem kurzen Artikel mit dem bezeichnenden Titel Dostojewski und die Vatertötung (1928) zu diesem Werk geäußert haben.
Ausgehend von den grundlegenden Axiomen der Freudschen Psychoanalyse und diesen Kommentaren wird daher im Folgenden die Vorstellung von der ‚Seele‘ des Menschen, wie sie in den Brüdern Karamasow entwickelt wird, genauer betrachtet werden. Ziel der Arbeit ist es Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Dostojewskijs und Freuds Grundannahmen über die menschliche Psyche herauszustellen sowie den Besonderheiten des literarischen bzw. wissenschaftlichen Diskurses Rechnung zu tragen.
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITENDE BEMERKUNGEN ZU AUFGABENSTELLUNG UND FORSCHUNGSSTAND
2. SIGMUND FREUD UND FJODOR DOSTOJEWSKIJ: HARSCHES URTEIL ÜBER EINEN „KERKERMEISTER" MIT „ÖDIPUSKOMPLEX"
2.1 Freuds Psychoanalyse: Hysterie, das Unbewusste und der Mensch als ,Wunschwesen'
2.2 Dostojewskij und die Vatertötung: Jolan Neufeld, Sigmund Freud und Die Brüder Karamasow
3. „[ABOUT THE] COMMONPLACE, THAT DOSTOEVSKY ANTICIPATED FREUD" - PSYCHOLOGIE IN DOSTOJEWSKIJS DIEBRÜDER KARAMASOW
3.1 Die Brüder Karamasow als "Hosanna" - Philosophische und religiöse Konzepte als Schlüssel zum Verständnis Dostojewskijs
3.2 „Hier ringt der Teufel mit Gott und das Kampffeld sind die Herzen der Menschen." Innerpsychische Kräfte oder das Unbewusste in Die Brüder Karamasow
3.3 Hysteriker, Epileptiker und andere Verrückte - Geisteskrankheiten in Die Brüder Karamasow
3.4 ,Wunder', TräumeundOffenbarungen- der Weg zum,gesundenGeist'
4. ÜBER DIE PROBLEMATIK EINER PSYCHOANALYTISCHEN LITERATURWISSENSCHAFT- EIN RESÜMEE
5. BIBLIOGRAFIE
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
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