Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Die Forschungsarbeit
1.1. Einleitung
1.2. Theoretische Verortung
1.3. Über den Künstler
1.4. Jonathan Meese im Spannungsfeld zwischen Revolte und Kanonbildung..
1.5. Resümee
2. Anhang
2.1. Ausstellung „Fräulein Atlantis“ in der Sammlung Essl Privatstiftung
2.2. Ausstellung „Totalste Graphik“ in der Akademie der bildenden Künste
2.2.1. Eröffnungsrede zur Ausstellung von Dr. Björn Egging
2.2.2. Text von Jonathan Meese zur Ausstellungseröffnung
2.2.3. Folder zur Ausstellung
3. Bibliographie
3.1. Dokumentarfilm
3.2. Internettexte
3.3. Literatur
1. Die Forschungsarbeit
1.1. Einleitung
Die Streuung und Mischung von Zitaten bestimmte die Arbeiten Meeses von Anfang an […].1
Der Titel der vorliegenden Forschungsarbeit lautet „ Jonathan Meese als cultural hero zwischen Revolte und Kanonbildung“. Damit wird im Titel der Arbeit ein Quer- verweis auf Bernd Roses Monographie „The Artist as Cultural Hero“ im Sinne von einer Verortung der Forschungsarbeit im Forschungsseminar gebracht, als auch auf Jonathan Meeses künstlerisches und performatives Werk angespielt wird in dem Sinne, dass Meese als Kunstfigur der Kunstszene zwischen kulturellem Kanon und schöpferischer Revolte herumgeistert, ein schmaler Grat zwischen Genie und Wahn- sinn eines Künstlers besteht offenbar doch.2 In dieser Forschungsarbeit zum For- schungsseminar zur Theaterwissenschaft SE Zirkulationen des Politischen soll zu- nächst einmal ausgewählte und dem Thema der Forschungsarbeit adäquate Literatur aus dem Seminar reflektiert werden, diese findet sich „4.3. Literatur“ naturgemäß auch bibliographiert. Bezüglich des Inhaltes und der Ausrichtung der Lehrveranstal- tung soll an dieser Stelle die Beschreibung aus dem kommentierten Vorlesungsver- zeichnis der Universität Wien nicht außer Acht gelassen werden:
Der Körper als Umschlagplatz von Bildern, Repräsentations- und Präsenz- techniken wird in den verschiedenen Varianten von Aktionskunst und Per- formance Art zu Ausdrucksformen der Freiheit, vielmehr auch der Befreiung, d.h. des Bruchs mit Konventionen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den traditionellen Kunstkanon, für die Gattungsgrenzen, Bildhierarchien und Darstellungsregeln. Die Abkehr vom traditionellen Werkbegriff vollzieht sich bei gleichzeitiger Hinwendung zum Ereignis als prozessualer Form. Die Ak- tion wird zum zentralen Modus der Produktion und Rezeption von Kunst. Ein neues aktionszentriertes Kunstverständnis initiieren die Fotoarbeiten Man Rays von Marcel Duchamps Selbstinszenierungen in Rose Sélavy, die foto- grafischen Selbstinszenierungen von Rudolf Schwarzkogler, Jürgen Klauke, Yves Klein (Der Sprung in die Leere,1960) und Joseph Beuys (J. Beuys auf der Fluxus Veranstaltung in Aachen 20. Juli 1964). Die Foto- und Filmauf- nahmen bilden nicht bloß die Kunstpraktiken ab, sondern bringen die Vor- stellung vom Artist as Actor, im Sinne von Handelnder und Darstellender. Der gezielte Einsatz von Aktionsfoto, Film und Video bedienen den Kunst- markt, zeigen Vermarktungsstrategien medien-marktwirtschaftlich orientier- ter Kulturindustrie. Im Bild des Künstlers wird so auch das Bild des Künstlers transportiert: abgebildet wird, was nicht abgebildet werden kann, eine zeit- basierte Performance, und das Foto/Film/Video wird zum Medium der Ver- mittlung, zur Bühne für die Inszenierung des Künstlers. Können die genann- ten Künstler aus Auslöser gelten, soll im Seminar Jonathan Meese im Mittel- punkt stehen. Jonathan Meese, der sich als Selbstausstellungskünstler, als medienbewußter [sic!] Popstar, nach allen Regeln dieser Kunst in Szene setzt, der im Rahmen seiner Installationen und Live-Performances mit Video als Transportmedium unterschiedliche mediale Schnittstellen bespielt. Para- digmatisch kann auch Matthew Barney herangezogen werden, der das Künstlerbild zum Thema seiner Arbeiten macht und auch selbst verkörpert: als Sportstar oder Operndiva. Seine Selbstdarstellung reicht vom Entfesse- lungskünstler bis zum Serienkiller und amalgamiert immer neue Synthesen als Spektakel für den Kunstbetrieb und wird vom Protestkatalysator zum Ob- jekt der Kanonbildung.3
Die Forschungsarbeit über Jonathan Meese zu schreiben ist für den Verfasser ein spannendes Unterfangen, die Entscheidung hierzu fiel nach Recherche der Themati- ken der Lehrveranstaltung, denn Meese ist derjenige Proponent, welcher den Ver- fasser der Forschungsarbeit aufgrund seines Talentes aber irgendwie auch wegen seiner Exzentrik einfach am meisten anspricht sowie im Übrigen auch im Kontext der Lehrveranstaltung an einer zentralen Stelle steht. Erforscht werden soll die Frage, inwieweit Erkenntnisse und Prämissen aus der hauptsächlichen Literatur, welche von der Lehrveranstaltungsleiterin-Leiterin auf der universitären Lernplattform bibliogra- phiert wurde, sich auf das künstlerische Phänomen Jonathan Meese, verortet zwi- schen Revolte und Kanonbildung, abstrahieren lassen beziehungsweise ob man ihn dadurch einordnen kann und wenn ja wie etc. Die Gliederung beziehungsweise Grundstruktur der Arbeit erfolgt in fünf Kapiteln. In „1.1. Einleitung“ wird eine Einfüh- rung in die Arbeit gegeben, in „1.2. Theoretische Verortung“ werden relevante Er- kenntnisse aus der allgemeinen Literatur rezipiert und auch reflektiert, in „1.3. Über den Künstler“ wird mit Hilfe der unten angeführten speziellen Literatur hierfür über Jonathan Meese sowie in dessen Gedankenwelt eingeführt. In „1.4. Jonathan Meese im Spannungsfeld zwischen Revolte und Kanonbildung“ wird dann das nun zusam- mengetragene und komprimierte Wissen aus den Kapiteln 1.2. und 1.3. sozusagen verwoben, damit eine neue Erkenntnis daraus gewonnen werden kann. Abschlie-ßend wird in „1.5. Resümee“ wird dann das Bisherige reflektiert. Intentionen und Vor- gehensweise des Künstlers sollen dann noch im Anhang etwa anhand von Fotos von ausgewählten Gemälden und Skulpturen usw. exemplarisch veranschaulicht werden, damit der Text für sich nicht abstrakt bleibt. Auf diese Weise lässt sich der Ansicht des Verfassers nach, eine dem Umfang einer solchartigen Forschungsarbeit adäqua- te Analyse des Künstlers Jonathan Meese im Kontext zu den Fragestellungen bezie- hungsweise Themenkomplexen des Forschungsseminars erstellen.
1.2. Theoretische Verortung
Der Prozesscharakter der Kunstwerke konstituiert sich dadurch, daß sie als Artefakte, von Menschen Gemachtes von vornherein im >einheimischen Reich des Geistes< ihren Ort haben, aber, um irgend identisch mit sich selbst zu werden, ihres Nichtidentischen, Heterogenen, nicht bereits Ge- formten bedürfen. Der Widerstand der Andersheit gegen sie, auf welche sie doch angewiesen sind, veranlaßt [sic!] sie dazu, die eigene Formsprache zu artikulieren, kein ungeformtes Fleckchen übrig zu lassen. Diese Reziprozität macht ihre Dynamik aus; das Unschlichtbare der Antithetik, daß [sic!] jene in keinem Sein sich stillt. Kunstwerke sind es nur in actu, weil ihre Spannung nicht in der Resultante reiner Identität mit diesem oder jenem Pol terminiert. Andererseits werden sie nur als fertige, geronnene Objekte zum Kraftfeld ih- rer Antagonismen; sonst liefern die verkapselten Kräfte nebeneinander her, oder auseinander. Ihr paradoxes Wesen, der Einstand, negiert sich selber. Ihre Bewegung muß [sic!] stillstehen und durch ihren Stillstand sichtbar wer- den. Objektiv aber ist der immanente Prozesscharakter der Kunstwerke, schon ehe sie irgendeine Partei ergreifen, der Prozeß [sic!], den sie gegen das ihnen Auswendige, das bloß Bestehende anstrengen. Alle Kunstwerke, auch die affirmativen, sind a priori polemisch.4 Vor der Emanzipation des Subjekts war fraglos Kunst, in gewissem Sinn, unmittelbarer ein Soziales als danach. Ihre Autonomie, Verselbstständigung der Gesellschaft gegenüber, war Funktion des seinerseits wieder mit der Sozialstruktur zusammenge- wachsenen bürgerlichen Freiheitsbewußtseins [sic!]. Ehe es sich bildete, war Kunst zwar an sich in Widerspruch zu gesellschaftlicher Herrschaft und ihrer Verlängerung in den mores, nicht aber für sich. Konflikte gab es, seit dem Verdikt im Platonischen Staat, desultorisch, die Idee einer von Grund auf oppositionellen Kunst jedoch hätte niemand konzipiert, und soziale Kontrol- len wirkten weit direkter als in der bürgerlichen Ära bis zur Schwelle der tota- len Staaten. Andererseits integrierte das Bürgertum die Kunst sich vollstän- diger als je eine frühere Gesellschaft. Der Druck des ansteigenden Nomina- lismus trieb den latent stets vorhandenen gesellschaftlichen Charakter der Kunst zunehmend nach außen; im Roman ist er unvergleichlich viel eviden- ter als etwa im hochstilisierten und distanzierten Ritterepos. Das Einströmen von Erfahrungen, die nicht länger von apriorischen Gattungen zurechtge- stutzt werden; die Nötigung, die Form aus jenen Erfahrungen, von unten her, zu konstituieren, sind bereits dem puren ästhetischen Stand nach, vor allem Inhalt, >realistisch<. Nicht länger vorweg durchs Stilisationsprinzip subli- miert, wird das Verhältnis des Inhalts zu der Gesellschaft, aus der er stammt, zu-nächst weit ungebrochener, und keineswegs bloß in der Litera- tur. Selbst die sogenannten niederen Gattungen hatten von der Gesellschaft Abstand gehalten, auch wo sie, wie die attische Komödie, bürgerliche Ver- hältnisse und Vorgänge des Alltags thematisch machten; die Flucht ins Nie- mandsland ist kein Bockssprung des Aristophanes sondern wesentliches Moment seiner Form. Ist Kunst, ihrer einen Seite nach, als Produkt gesell- schaftlicher Arbeit des Geistes stets fait social, so wird sie es mit ihrer Ver- bürgerlichung ausdrücklich.5
Diese Aneinanderreihung von zwei Zitaten aus Adornos „Ästhetischer Theorie“ stellt eigentlich eine Gegenüberstellung von zwei konträren Standpunkten dar, den- noch lässt sich sagen, dass sie sich in ihrem Widerspruch ergänzen. Die Prämissen der Kunst-Begriffe welche die beiden Zitate prägen wären zum einen Polemik, Kunst ist polemisch, zum anderen Bürgertum, Kunst ist bürgerlich. Wenn jetzt die Kunstzo- ne eine moderne Kunstszene ist, so trifft dies noch immer zu, der Grat zwischen Re- volte und Kanonbildung ist ein schmaler. Es offenbart sich also, dass in der Kunst eine Immanenz des polemischen als auch des bürgerlichen als gegeben gewertet werden sollte. In dieser Herangehensweise an den Begriff der Kunst ist das künstle- rische Schaffen des aufmüpfigen weil aufzeigenden Künstlers Jonathan Meese ein Akt der Rebellion gegen eine bürgerliche Gesellschaft, die den Künstler wiederum durch ihr System der Galerien, Ausstellungen etc. in Beschlag nimmt und versucht ihn zu assimilieren, Meese ist also sprichwörtlich salonfähig geworden - der Prozess des gesellschaftsfähig werden vonseiten eines Künstlers hat eine lange Tradition. „Unsere“ heutigen alten Meister sind die Rebellen ihrer damaligen Epochen. „ Mit den neuen Medien Fernsehen, Video und Computer hatte in der Tat eine Art Kulturrevolu- tion stattgefunden, die das postindustrielle Zeitalter ebenso wie die Epoche der Glo- balisierung einläutete. Im Theater war die Verschmelzung, zumindest die Verbindung mit neuen Medien, Performance Kunst oder auch mit anderen Arten von cultural per- formance längst gängige Praxis, postdramatisches Theater zu einer Art Mainstream- Theater avanciert. “6 Performancekunst selbst ist eine Ausdrucksform des 20. Jahr- hunderts. Ihr expressives Potential erwies sich von Anfang an als schwer eingrenz- bar, denn sie überschreitet Genregrenzen des Medialen, ihre Ausdrucksformen um- fassen Klänge, Bewegungen, Geräusche, Elektronik, Bühneneffekte, Formen der Fotografie, des Videos und des Filmes.7
Das Moderne an der modern interpretierten Form von Kunst liegt neben dem Kunst- werk als eigentlichem Exponat oft auch in der Miteinbeziehung des Publikums in Kunstformen wie eben etwa Performances etc., womit der künstlerische Entste- hungsprozess gegenwärtig wird. „ Die Lexikographie künstlerischer Techniken und Phänomene ist bis zu ihrer Unüberschaubarkeit angeschwollen: Akkumulation, Am- biente, Assemblage, Collage, Combine-Painting, D é collage, Event, Environment, Happening, Installation, Intermedia, Materialbild, Montage, Mixed Media, Multiple, Objektkunst, Objet trouv é , Papier coll é , Ready-made, Tableau - die Aufzählung der Fachtermini zur Charakterisierung künstlerischer Ausdrucksformen im 20. Jahrhun-
dert ließe sich beliebig erweitern. “8 Bezüglich Partizipation des Publikums lässt sich „[…] von >Betrachtung< oder >Anschauung< auf der einen und >Beteiligung< oder >Teilhabe< auf der anderen Seite sprechen. >Betrachtung< oder >Anschauung< meint in unserem Verständnis eine visuell-kognitive Rezeptionshaltung, während sich konträr dazu die Begriffe >Beteiligung< oder >Teilhabe< in einer taktil- kinästhetischen Rezeptionshaltung manifestieren. Die Unterschiedlichkeit der damit jeweils verbundenen Erfahrungsmodi besteht darin, daß [sic!] bezüglich der visuell- kognitiven Rezeptionshaltung die körperlichen Aktivitäten des Rezipienten nicht als unabdingbarer Bestandteil der Konkretisation begriffen werden müssen. Natürlich bewegen wir uns als visuell-kognitiv rezipierende Ausstellungsbesucher immer auch vor einem Exponat. “9 Diese grundlegenden Begriffs- und Konzeptdifferenzierungen sind hilfreich da-bei, Meeses spezifische Form der Performance, wie sie etwa bei „Fräulein Atlantis“ zu sehen war, verstehen zu können. Rebentisch zufolge sollte Dis- tanz als Grundvor-aussetzung des ästhetischen Objektbezuges vonseiten des Be- trachters aufgefasst werden. Distanzierungsfähigkeit impliziert Performanzbewusst- sein. Bedeutungen die das Kunstwerk dem Betrachter entgegenbringt, sind weder objektiv am Werk abzulesen, noch werden sie vom Betrachter „gemacht“. Die subjek- tiv wirkenden Kräfte des Betrachters lassen sich nicht unbedingt von ihm kontrollie- ren und wirken weiters per-formativ auf das ästhetische Objekt.10 „ Tatsächlich ist das Konzept, daß [sic!] der Betrachter ganz in die künstliche Welt der Installation aufge- nommen werde und nicht etwa von außen auf sie blicke - wie zum Beispiel auf eine Bühne - für Kabakovs Bestimmung dessen, was er >>totale<< Installation nennt, zentral. Nichts im Innern der >>totalen<< Installation soll an den Museums- oder Ga- lerienraum, an dem sie steht, erinnern. Der Raum der Installation selbst muß- mit seinen Wänden, seiner Decke, seinem Fußboden - ebenso gestaltet sein wie die Anordnung von Dingen in ihm. “11 Die Definition totaler Installation ist gemäß Kabakov ein in seiner Vollständigkeit bearbeiteter Raum.12 Meeses Performance zur Ausstel- lung „Fräulein Atlantis“ wird in dem Moment total, als er auf die Decke mit Pinsel „Demut“ malt, und somit den Raum letztendlich vollständig in Beschlag nimmt.13 Zum Verhältnis von Raum und Kunst lässt sich feststellen, dass es in der Produktion vom Blunck, Lars: Between Object und Event. Noderstedt 2001, S. 13. Ebd. S. 18.
Künstler zwar kalkuliert oder berechnet sein mag sowie die Arbeit im Galerieraum eine entsprechende Installation vorweist, jedoch die produktionsinhärenten Kalkulati- onen nicht die Eigenlogik der Ästhetik garantieren oder vorwegnehmen können, wel- che das Ineinanderspiel von Raum und Kunstwerk in der Konfrontation mit individuel- len ästhetisch Erfahren-den bisweilen entfaltet. Dieser ästhetische Raum hat im Üb- rigen weder etwas mit dem neutralen geometrischen oder mathematischen Raum zu tun.14 Bezüglich Meeses Performance zu „Fräulein Atlantis“ lässt sich dadurch fol- gendes abstrahieren: der Ursprung und auch Mittelpunkt des ästhetischen Raumes in welchem die Performance stattfindet ist die Rotunde, Meese läuft und kriecht hier im Verlauf der Performance im Kreis. Mittelpunkt der Kunst ist ein gemalter Handab- druck, also die Hand mit der Meese seine Kunst produziert.15
„ Um eine Aussageüber die potentielle gesellschaftliche Relevanz der >>interes- sierten<< Installationskunst seit den neunziger Jahren treffen zu können, sollte man diese nicht einfach mit einer bestimmten Aussageüber die Gesellschaft gleichsetzen. Die Relevanz eines Werkes erklärt sich nicht schon, wie Paul de Man mit Blick auf die Literatur zu bedenken gegeben hat, durch dessen Referenz. Tatsächlich sollte man gerade die >>interessierten<< Arbeiten von jenem kruden Inhaltismus abgren- zen, der sich ihnen so häufig assoziiert. Das Problem einer Reduktion bestimmter Arbeiten auf ihren Inhalt tritt zwar meist in Gestalt reduktionistischer Interpretationen auf; wo eine solche Reduktion jedoch zum künstlerischen Programm erklärt wird, affiziert es nicht selten auch die Qualität der Werke. Wo Kunst im Namen von direk- ten politischen Aussagen versucht, sich gleichsam moralisch prämieren zu lassen, daßsie ihre Formseite vernachlässigt [ … ] , reproduziert sie nicht nur, und dies in der x-fachen historischen Wiederholung, die schlechte Alternative zwischen Formalismus und Inhaltismus. “16 Kuspit macht auf einen interessanten Aspekt aufmerksam: der moderne Künstler der Avantgarde steht zunächst vor einem Wall an Tradition - dieser Wall kann nur durch die Willenskraft des Künstlers zerstört werden. Der künstlerische Durchbruch legt die Ruinen des Begrenzungswalles ebenso wie den Korridor zu neuer Offenheit offen. Die Ablösung der Tradition, begriffen als dogmatische Falle, bedeutet auch das Ablegen einer einschneidenden Uniform. Die Nachfolger des Avantgardekünstlers werden seine Formen uniform machen - dies werden sie tun, indem sie ihn kopieren und reproduzieren bis sie selbst ein neues System darstellen und somit ironischerweise selbst dekadent werden.17 Der Begriff des Uniformen, auch der Uniform, ist ein interessanter Aspekt bei der Betrachtung Meeses als Küns- tlers, wo doch geläufig ist, dass er stets Uniform-artig eine Adidas-Trainingsjacke zu tragen pflegt. Dieses uniforme im Auftreten Meeses, ergänzt durch salutieren, kann als symbolische Manifestation seiner Diktatur der Kunst gewertet werden. Dennoch signalisiert das konservierende Tragen des immer Gleichen Kleidungsstückes dieser Prämisse nach eben aber auch die Aufbruchsstimmung des Künstlers, denn die Dik- tatur der Kunst Meeses ‘ ist nichts Konservatives, sondern eine Forderung zu einem Aufbruch zu einer neuen künstlerischen Avantgarde. Um auf Kuspit zurückzukom- men, der Avantgardekünstler gibt das Tempo vor, indem er die, die ihn kopieren, durch seine Widersprüchlichkeit abhängt. Er setzt als Zeichen von absoluter Authen- tizität verbindlich werdende Maßstäbe, bleibt aber zugleich quasi eine Gräte im Hals der Gesellschaft, an welcher sowohl Kunstwelt als auch -geschichte fortgesetzt zu würgen haben. Ein Avantgardekünstler hat die Ambition, dass seine Kunst geheim- nisvoll und provokant ist und auch bleibt, denn jeder neuen Generation an Publikum soll seine Kunst aufgrund der provokativen Macht und der Rätselhaftigkeit erneut ein Gewinn sein, was auch die Person des Künstlers im Lauf der Zeit überlebensgroß wirken lässt. Dies stellt im Übrigen aber auch die ultimative Verfälschung durch Ruhm dar. Einen Künstler erkennt man daher nicht nur anhand der künstlerischen Kreativität, sondern auch an seiner Einstellung zu Ruhm und Geld.18 Kuspit bringt in diesem Zusammenhang die diesbezügliche Meinung von Picasso ein: „ Zugleich „braucht der Künstler Erfolg. Nicht nur, um leben zu können, sondern auch, um seine Werke zu verwirklichen“ , auch wenn „nur wenige Menschen viel von Kunst verste- hen“ und die meisten Leute „ein Kunstwerk nach seinem Erfolg“ beurteilen. Was Geld anbelangt, so meinte er: „Was ich will, ist, mit einer Menge Geld das Leben eines armen Mannes zu führen. “19
Es gibt Kuspit zufolge zwei Arten von Künstlern, der traditionelle Künstler erlebt eine Harmonie mit seinem Publikum vergleichbar mit einer Mutter-Kind-Beziehung, der Avantgarde-Künstler hingegen revoltiert gegen sein Publikum wie ein Pubertie- render gegen seine Familie. Bei Meese ist diesbezüglich interessant, dass er in einer engen Beziehung zu seiner Mutter steht und versucht gegen sein Publikum zu revol- tieren, indem er versucht es zu verstören. Der Avantgardekünstler neigt dazu, sein Publikum indirekt oder auch direkt zu kritisieren und Medien in vertrauter Ausdrucks- weise an die Belastbarkeitsgrenzen zu führen. Der traditionelle Künstler hingegen befindet sich im selben Raum wie das zu adressierende Publikum, seine Kunst ist ohne Schwierigkeiten lesbar.20 Diese beiden Pole sind als die normativen Idealfälle aufzufassen, wie man bei Meese etwa sehen kann, nähern sich die Begriffe auf eine gewisse Weise an beziehungsweise weist ein Künstler bisweilen Merkmale beider Pole auf, denn „[…] jede Kunst entwirft ihr eigenes Publikum. Sein Charakter wird vom Wunschbild des Publikums geprägt, zu dem sich der Künstler während des Pro- zesses des Kunstschaffens eine Beziehung vorstellt. Der Künstler wünscht sich eine bestimmte Art von Publikum, was mit dem Wunsch nach einer bestimmten Art von Selbst gleichzusetzen ist. Seine Kunst verkörpert beide Wünsche. “21 Der Avantgar- dekünstler verkörpert die Tragödie einer Gesellschaft, im Falle Meeses der deut- schen, konkret mitunter der nationalsozialistischen, in harmloser und idealer öffentli- cher Form. Dies ermöglicht der Gesellschaft, sich für weniger tragisch und patholo- gisch zu halten als sie eigentlich ist - denn die Gesellschaft weigert sich, ihre patho- logische Tragik als gefährlich zu sehen und weist diese Rolle auffallenden einzelnen Individuen zu - also etwa Avantgardekünstlern. Meese instrumentalisiert diesen Um- stand, indem er der demokratischen Gesellschaft ein utopisches Modell einer Dikta- tur der Kunst entgegensetzt. In dieser zeitweisen Anspielung auf die NS-Zeit in Mee- ses Kunst (nicht jedes Kunstwerk Meeses verweist übrigens auf die NS-Zeit), hält er somit auch der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit diesbezüglich einen Spie- gel vor.22
Kuspit unternimmt weiters auch eine Differenzierung zwischen tatsächlichen und vermeintlichen Avantgardekünstlern, also Pseudoavantgardekünstlern. Jene Pseu- doavantgardekünstler bieten ihrem Publikum verklausulierte Schmeicheleien und gesellschaftliche Unterhaltung. In der Pseudoavantgardekunstwelt ist weltlicher Er- folg synonym mit weltlicher Macht - dies als Dank der durch sie geschaffenen Kunst- welt. Der künstlerische Erfolg ist hier die Belohnung für die Verbreitung der Werte ebendieser Welt. Die tatsächlichen Avantgardekünstler leisten tatsächliche Pionier- arbeit, die Pseudoavantgardekünstler verwalten diese jedoch nur und sind weiters dem Glauben verhaftet, ebenso authentisch, kritisch und gewagt - sowohl gesell- schaftlich als auch ästhetisch - zu sein.23 „ Das heißt, der Pseudo-Avantgarde- Künstler stellt nicht, wie der Avantgarde-Künstler, den visuellen Status quo in Frage, was ja auch den psychosozialen Status quo - der damit besser erscheint, als er ist - in Frage stellen würde. Er „steigert“ ihn einfach, indem er ihn voll Ironie in einen neu- en Kontext stellt und neu bearbeitet, was nicht notwendigerweise bedeutet, daßer ihn auch neuüberdenkt. Eigentlich blüht und gedeiht unsere Gesellschaft auf „deko- rativer“ Neu-Kontextualisierung, auf dem „kreativen“ Recycling bestehender Ideen und Bilder. Den Status quo in Frage zu stellen, wurde an sich schon zu einem nor- malen Bestandteil des bürgerlichen Status quo, zu einem vertrauten Bestandteil der Kunst- und Gesellschaftsszene. Man erlangt keinen Status in der (Kunst-)Welt, wenn man nicht kritisch ist. Pseudo-Avantgarde-Kunst fördert den Verfall der Kritik und das „Neu-Design“ des Altbekannten durch seine ironische Aneignung. “24 Jener Ruhm und Reichtum welcher die Kunst des Avantgardekünstlers diesem, wenn auch oft verspä- tet, einbrachte wird auch von den Pseudoavantgardekünstlern als zu erreichendes Ziel gesehen, sie vergessen dabei aber die Dialektik der Kunst des Avant-gardisten. Avantgardekünstler betrachten Avantgardekunst demzufolge als Mittel zum Zweck, die narzisstische Jagd nach Reichtum und Ruhm erweist sich aber als Nachgiebig- keit wenn nicht gar Komplizenschaft gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft.25 Der Avantgardekünstler fördert jedenfalls eine Illusion der Massenkreativität - die Kunst hätte doch mit dem nötigen Aufwand doch auch von jedem anderen im Publikum er- schaffen worden sein können. Jeder kann doch kreativ und auch erfolgreich sein, genau diese Illusion vermag nur der Künstlerstar zu erzeugen - jeder kann Star wer- den, doch realiter wird und bleibt es nur der Künstlerstar aufgrund seiner zum Fetisch gemachten Kreativität.26
An dieser Stelle der Forschungsarbeit soll noch kursorisch auf die einstige Etablie- rung von staatlichen Akademien und von privatwirtschaftlich organisierten Ausstel- lungen eingegangen werden. Die oftmals von Meese vorgetragene Ablehnung von Akademien als Mittel zur Institutionalisierung des Künstlertums hat übrigens eine lange künstlerische Tradition, Bätschmann verweist hier auf Asmus Jakob Carstens aus dem 18. Jahrhundert.27 Unechte Künstler sind demgemäß die, die den beque- men staatlichen akademischen Käfig dem freien Schaffen vorziehen, da sie im Ge- gensatz zum Genius nicht per se wegen dem Trieb zur Kunst arbeiten. Treffen also quasi echte Künstler wie Carstens auf widrige Umstände und Voraussetzungen, wer- den sie in weiterer Folge zu Märtyrern der Kunst. Die Freiheit des Künstlers liegt in der Ortlosigkeit in Gesellschaften und Staaten. Das Leben für die Kunst gilt hier als Indikator für eine Echtheit des Künstlers. Die frühen staatlichen Kunstakademien stellten gewissermaßen eine Form der Begrenzung der Kunstregeln dar und konnten höchstens geschickte Künstler im Sinne von Kunsthandwerkern produzieren und rep- roduzieren, aber keine Genies erzeugen. Dem Genie hingegen haftet immer auch etwas Wildes, nicht Institutionalisierbares, an - es verstößt gegen Regeln zur Erlan- gung des Sublimen - dadurch verändern künstlerische Genies die Welt.28 Das Sys- tem der Ausstellungen wiederum etablierte sich auch als Mittel der Ermöglichung finanzieller Freiheit des Künstlertums. Beendigung des Fürstendienstes und ökono- mische Unabhängigkeit sicherten und gewährleisteten Freiheit bei einer gleichzeiti- gen Deckung der Kosten für Materialien, Lebensunterhalt etc. Ausstellungen verhin- derten weiters eine Korrumpierung des Künstlers durch Auftragsarbeiten und verwirk- lichten auch eine Partizipation der Öffentlichkeit, was wiederum der Kunst zu einem allgemeinen Nutzen verhalf. Finanzieller Erfolg durch Ausstellungen brachte dem Künstler Anerkennung, Misserfolg durch Publikumsabstinenz lehrte ihn, innovativ zu bleiben und bei der nächsten Ausstellung sozusagen bessere Kunst vorzuweisen.29 „ Das Publikum bildet seinen Geschmacküber die Künste. “30 Die Regeln des freien Marktes von Angebot und Nachfrage hielten also ab dem 18. Jahrhundert durch das System der Ausstellungen einen institutionalisierten Einzug in die Kunstwelt, das Publikum hiervon erzeugte und bildete einen Kanon in der Öffentlichkeit. Die Unter- scheidung zwischen Kunst und Nichtkunst erfolgt nach einem Prozess mit vielen Beteiligten, etwa Kunsthallen, Museen, Galerien, Besuchern, Kommentatoren, Theoretikern, Medien, Sammlern und Käufern - also dem Publikum, der Kunstöffentlichkeit.31 „ Der Preis hat eine geheimnisvolle Beziehung zum Produkt, zu seinem Hervorbringer und zur Nachfrage, er ist Ausdruck des Kurswertes. Die Beziehung ist so trivial wie die Relation von Nominal- und Kurswert von Aktien. “32
Es ist also festzuhalten, dass das System der Ausstellungen seit jeher einen marktwirtschaftlichen Charakter aufweist, Kunstöffentlichkeit und Kunstmarkt sollten zwar nicht als deckungsgleich aufgefasst werden, eine vorhandene Kunstöffentlich- keit er-zeugt aber auch die Nachfrage nach einem Kunstmarkt. Kunst ist in ihrer Ka- nonbil-dung daher, wenn auch vielleicht unfreiwillig, kommerziell. Doch Kunst ist zu- sätzlich immer, wenn auch unfreiwillig, auch politisch, also selbst dann wenn sie es gar nicht sein will und politisch instrumentalisiert wird. „ Seit ihrer Institutionalisierung wurden Kunstausstellungen als politisches Instrument genutzt. Die Acad é mie royale de pain-ture et de Sculpture in Paris demonstrierte mit dem Salon ihre Kunstpolitik und ihre künstlerische Superiorität in Europa. In allen Weltausstellungen seit London 1851 und Paris 1855 waren die Künste in den Wettbewerb der Nationen und der Produkti-on von Waren und Kriegsmaterial einbezogen. Nach dem Deutsch- Französischen Krieg von 1870/71 konkurrierte das deutsche Kaiserreich in Paris mit den Besiegten auf kulturellem Gebiet. Die Biennale in Venedig, 1895 eingerichtet für die Verständi-gung der Völker, wurde mit dem Bau der nationalen Pavillons zu einem politisch-kulturellem Demonstrationsplatz. 1937 propagierte das nationalsozialisti- sche Deutschland in München mit der Großen Deutschen Kunstaustellung die poli- tisch gültige >>künstlerische Weltanschauung<<, und gleichzeitig mit der Entarteten Kunst die mit allen Mitteln zu verfolgende feindliche Kunst […].“33 Im totalitären Nazi- Deutschland traf also der Staat die politische Entscheidung, was Kunst und was Nichtkunst zu sein hat - real stattgefundene Kunstdiktatur. Doch diese Kunstdiktatur der Nazis ist keinesfalls gleichzusetzen mit Meeses utopischem Konzept einer Dikta- tur der Kunst.34
[...]
1 Becker, Ilka: Hunger nach Meese. In: Texte zur Kunst 34/1999, S. 28-39, hier S. 32.
2 Siehe hierzu Rose, Bernd: The Artist as Cultural Hero. New York 1978. 2
3 SE Zirkulationen des Politischen. In: http://tinyurl.com/3eba24g (01.04.2011)
4 Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 2000, S. 263, 264.
5 Ebd. S. 334, 335.
6 Fischer-Lichte, Erika: Der Zuschauer als Akteur. In: Fischer-Lichte, Erika/Sollich, Robert/Umathum, Sandra/Warstat, Matthias (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen. München et al. 2006, S. 21-41, hier S. 37.
7 Vgl. Bersis, Vanessa: Jonathan Meese - Fräulein Atlantis. Diplomarbeit. Wien 2009, S. 52.
10 Vgl. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main 2003, S. 66-69.
11 Ebd. S. 163.
12 Vgl. ebd. S. 163, 164.
13 Siehe die Dokumentation der Performance. 6
14 Vgl. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main 2003, S. 255, 256.
15 Siehe die Dokumentation der Performance.
16 Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main 2003, S. 276.
17 Vgl. Kuspit, Donald: Der Kult vom Avantgarde Künstler. Klagenfurt 1995, S. 68.
18 Vgl. ebd. S. 83.
19 Pablo Picasso, zit. nach Kuspit, Donald: Der Kult vom Avantgarde Künstler. Klagenfurt 1995, S. 83. 8
20 Vgl. ebd. S. 176, 177.
Bezüglich der Mutter-Kind-Beziehung vgl. auch mit Bersis, Vanessa: Jonathan Meese - Fräulein Atlantis. Diplomarbeit. Wien 2009, S. 16-18.
21 Ebd. S. 175.
22 Vgl. ebd. S. 208.
23 Vgl. ebd. S. 212-214.
24 Ebd. S. 215.
25 Vgl. ebd. S. 227.
26 Vgl. ebd. S. 231.
Vgl. auch Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln 1997, S. 224, 225.
27 Vgl. Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln 1997, S. 64.
28 Vgl. ebd. S. 66, 67.
29 Vgl. ebd. S. 68.
Vgl. auch Pelikan, Werner: Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung. Grundmuster der Kommunikation - Thesen und Beispiele. Dissertation. Kassel 2005, S. 82.
30 Ebd.
31 Vgl. ebd. S. 226.
32 Ebd.
Vgl. auch Pelikan, Werner: Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung. Grundmuster der Kommunikation - Thesen und Beispiele. Dissertation. Kassel 2005, S. 88.
33 Ebd. S. 203.
34 Siehe etwa Eröffnungsrede zur Ausstellung „Totalste Graphik“ von Dr. Björn Egging “ im Anhang. 12