Leseprobe
Inhalt
1. Lawrence Kohlberg: Entwicklung des moralischen Urteils
1.1 Moralische Dilemmata
1.2 Stufenkonzept
1.2.1 Präkonventionelle Ebene
1.2.2 Konventionelle Ebene
1.2.3 Zwischen- bzw. Übergangsebene
2.2.4 Postkonventionelle Ebene
2. Carol Gilligans Thesen einer „weiblichen Moralauffassung“
2.1 Konzept der zwei Moralen: Fürsorge- und Gerechtigkeitsmoral
2.2 Gilligans Stufenmodell der weiblichen Moralentwicklung
2.2.1 Präkonventionelle Moral: Orientierung am individuellen Überleben
2.2.2 Konventionelle Moral: Orientierung an Konventionen
2.2.3 Postkonventionelle Moral: Die Moral der Gewaltlosigkeit
2.3 Kritik an Gilligans Theorie (Nunner-Winkler)
3. Bedeutung und Konsequenzen für die Pädagogik
3.1 Gilligans Konsequenzen für die Pädagogik
3.2 Kohlbergs „Just-Community“- Ansatz
4. John Rawls
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis:
In unserer demokratischen Gesellschaft ist die Institution Schule ein wichtiger Ort, an dem Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal Demokratie im übersichtlichen und unmittelbar beeinflussbaren Rahmen ausprobieren können. Der Schule wird daher eine wichtige Verantwortung für die Bildung eines demokratischen Verständnisses und in diesem Zusammenhang auch der Förderung sozialer Kompetenz und moralischer Urteilsfähigkeit zugesprochen. Es stellt sich daher die Frage, ob Moral eigentlich lehr- und lernbar ist. Nach Wolfgang Edelstein ist es nicht die Aufgabe des Lehrers moralisch zu belehren, d.h. durch Unterricht inhaltlich-moralische Überzeugungen zu vermitteln. Seiner Meinung nach sollen Lehrer vielmehr die Voraussetzungen für moralische Diskurse in ihren Klassen herbeiführen.[1] Daher erscheint es als notwendig, pädagogische Konzepte zu entwickeln, welche dieser Verantwortung gerecht werden können. Viele Heranwachsende werden sehr früh von ihrem Umfeld dahingehend beeinflusst, möglichst leistungsorientiert zu denken und zu handeln, um einen gewissen sozialen Status zu erlangen. Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg leistete auf diesem Gebiet Pionierarbeit. Er entwarf eine Sequenz der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit und entwickelte auf dieser Basis Konzepte zur Förderung des moralischen Urteilens und Handels in Gemeinschaften, wozu vor allem auch die Schule zu zählen ist. Kohlbergs Schülerin und langjährige Mitarbeiterin Carol Gilligan brachte 1982 durch ihre Veröffentlichung des Werkes „Die andere Stimme“ einen bis dahin wenig beachteten Aspekt ein, der weite Wellen schlug. Darin behauptete sie, dass Frauen und Männer unterschiedliche moralische Strukturen besäßen und warf Kohlberg und anderen Psychologen wie Freud und Piaget vor, ihre Theorien lediglich auf einem gewissermaßen männlichen Idealbild zu begründen. Auch wenn sie später im Nachhinein einen Teil ihrer Behauptungen zurückgenommen hat und teilweise ihre Thesen widerlegt wurden, werden ihre Thesen bis heute kontrovers diskutiert.
Wenn man sich mit einer solchen Thematik befasst, muss man sich zunächst mit der Wortbedeutung beschäftigen: Im Allgemeinen geht der behandelte Begriff „Moral“ auf das lateinische mos (moris) zurück und wird seit dem 16. Jahrhundert in der Bedeutung „sittliche Nutzanwendung und Sittlichkeit“ und seit dem 17. Jahrhundert auch als Synonym für „Sittenlehre“ (philosophia moralis) verwendet.[2] Im Kontext dieser Arbeit und allgemein psychologisch bedeutsam erscheint zunächst vor allem Moral im Sinne des moralischen Verhaltens. Da das moralische Verhalten nicht unabhängig von den moralischen Normen einer Gesellschaft existiert, sind diese ebenso zu berücksichtigen. Dieses moralische Normensystem gehört für das Individuum, das bei der moralischen Entwicklung im Zentrum stehen soll, gewissermaßen zu seiner „Umwelt“. Moral kann man jedoch nicht nur auf das individuelle Verhalten beschränken. Es umfasst gleichzeitig stets verinnerlichte moralische Denk- und Bewusstseinsprozesse. Moral im Sinne moralischen Bewusstseins und Verhaltens kann somit als individuelle Rekonstruktion gesellschaftlicher Moral verstanden werden. Man geht davon aus, dass sich moralisches Bewusstsein und moralisches Handeln in einem interaktiven Prozess zwischen Individuum und seiner Umwelt entwickeln. Gerade hinsichtlich dieses Wechselwirkungsprozesses und im weiteren Kontext „Schule“ stellt sich erneut die Frage, inwieweit „Moral“ lern- bzw. lehrbar ist.
Fest steht, dass sich moralische Regeln, an denen wir uns orientieren, im Laufe unserer eigenen Entwicklung fortwährend ändern. Weitaus schwieriger stellt sich die Beurteilung dar. Ist die Moral eines Erwachsenen „besser“ als die eines Kindes? Kaum jemand würde auf dem Feld der Moral so weit gehen, jede Verhaltensregel als gleichermaßen akzeptabel anzusehen. Trotzdem nehmen viele in Bezug auf moralische Werte eine eher relativistische Position an. Dabei wird meist vorausgesetzt, dass moralische Wertungen einer einzelnen Person willkürlich sein können. Wohingegen von einer Gruppe auf demokratischem Wege beschlossene Wertungen prinzipiell gültig sind, da sie von der Gesellschaft gemeinsam formuliert und getragen werden. Diese sogenannte Werterelativität geht davon aus, dass es keine universellen, nicht-willkürlichen Moralprinzipien gibt. Es lässt sich letztlich nicht entscheiden was „richtig“ oder „falsch“ ist, wenn unterschiedliche kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse folglich zur Ausbildung unterschiedlicher moralischer Normen führen. Wenn man nun jedoch davon ausgeht, dass es offenbar unterschiedliche Ebenen der Interpretation und damit auch des Verständnisses von Einstellungen gegenüber moralischen, sozialen und politischen Sachverhalten und Problemen gibt, erscheint „Moral“ dann nicht als ein Phänomen, das sich einer empirischen Erfassung vollends widersetzt? Wir wissen, dass manche Menschen „moralischer“ denken und handeln als andere, wir wissen auch, dass manchmal Personen zwar moralisch denken, jedoch im Ernstfall weit weniger moralisch handeln. Dies alles lässt sich empirisch belegen. Weitaus interessanter wäre es jedoch, wenn man wüsste, warum das so ist. Wenn man erklären könnte was bspw. in einem Menschen vorgeht, der keinerlei Gewissensbisse zu haben scheint. Wenn es keine Unterschiede in der Moral von Menschen gäbe, bräuchte man diese auch nicht zu erfassen. Da es diese Unterschiede gibt ist es wichtig sie auch zu verstehen und zu erklären. Auf dem Hintergrund einer theoretischen Vorstellung, wie Moral als Themenfeld eingrenzbar ist, wie sich Moral beim Individuum selbst entwickelt und wie sich Unterschiede in der individuellen Moral auf das Handeln des einzelnen auswirken, erscheint eine empirische Erfassung erfolgversprechend. Andererseits kann man keine Theorie der Moral oder Moralentwicklung aufstellen, wenn man keine Vorstellung davon hat, was Moral eigentlich ist. Wenn man die Entwicklung der Moral untersucht oder sie bei Schülern zu fördern versucht, sollte man sich stets dessen bewusst sein, dass es hierbei nicht nur um die Moral der anderen geht, sondern, dass man immer auch selbst persönlich betroffen ist. Die Konfrontation mit einer Theorie der moralischen Urteilsentwicklung sollte die Auseinandersetzung mit der eigenen moralischen Orientierung ermöglichen.[3] Im Folgenden werden die Theorien von Kohlberg und Gilligan dargestellt, beurteilt und davon ausgehend die Bedeutung und Konsequenzen für die Pädagogik anhand ausgewählter Beispiele herausgearbeitet. Im Anschluss wird zudem Bezug auf John Rawls genommen.
1. Lawrence Kohlberg: Entwicklung des moralischen Urteils
Lawrence Kohlberg, geboren 1927 in New York, gilt als einer der renommiertesten amerikanischen Entwicklungspsychologen. Er forschte 19 Jahre lang mit dem Schwerpunkt der Moralentwicklung an der Harvard-Universität in Camebridge, Massachusetts. Nach einer langjährigen Virusinfektion nahm er sich 1987 das Leben. Heutige Konzepte der Moralentwicklung beruhen auf seinem Stufenkonzept der Entwicklung des moralischen Urteils. Auch der Entwicklung von Methoden und Curricula zur Moral- und Demokratieerziehung an der Schule werden seine Ideen zu Grunde gelegt. Aufbauend auf der Konzeption des moralischen Urteils beim Kind von Piaget hat Lawrence Kohlberg über fast 30 Jahre hinweg seine Theorie der moralischen Urteilsentwicklung erarbeitet und erweitert. Kohlberg selbst stellt jedoch die Orientierung an Piaget eher zurückhaltend dar und verweist auf den Einfluss, den Theoretiker wie Baldwin, Dewey, Mead und Loevinger auf seine eigene theoretische Konzeption gehabt haben. In Bezug auf die psychologische Theoriebildung steht er jedoch ohne Zweifel direkt in der Tradition Piagets, wobei er dessen Ansatz differenziert, teilweise revidiert und vor allem besser begründet.[4] In den 50er Jahren wurden die Untersuchungen Piagets zur moralischen Entwicklung des Kindes von Kohlberg aufgegriffen, der sie dann auf das Jugend- und schließlich auch auf das Erwachsenenalter ausdehnte. Er bezeichnete seine Theorie als eine kognitive Entwicklungstheorie. Unter dem Aspekt des Erkennens und Verstehens kommt es ihm bei der moralischen Entwicklung weniger auf bestimmte Werte und Normen an, als darauf, wie diese begründet werden.[5] Von entscheidender Bedeutung für Kohlbergs Auffassung ist hierbei, dass dieselbe Norm- etwa das Verbot des Stehlens- von Personen unterschiedlich wahrgenommen werden kann und somit auch unterschiedlich begründet wird. Ein Jugendlicher unterlässt das Stehlen aus Angst vor Bestrafung, ein anderer dagegen achtet das Eigentum, weil er sonst die Ordnung der Gesellschaft in Gefahr sieht. An diesem Beispiel erkennt man, dass die unterschiedliche Begründung moralischer Normen auch Folgen für das moralische Handeln haben kann. Es liegt hierbei die Vermutung nahe, dass die Angst vor Strafe einen Diebstahl dann nicht mehr unterbindet, wenn man dieser Strafe durch Heimlichkeit des Regelbruchs entgehen kann. Demgegenüber sollte jedoch die gesellschaftlich begründete Norm auch dann noch wirksam bleiben. Die Tatsache, dass es Kohlberg wichtig ist, auf welche Weise Menschen ihr Handeln beurteilen, begründen und welche praktischen Entscheidungen sie davon ausgehend treffen, wird besonders in seinen Untersuchungen sogenannter moralischer Dilemmata ersichtlich.
1.1 Moralische Dilemmata
Ende der sechziger Jahre entwickelte Kohlberg mit seinen MitarbeiterInnen eine erste Methode zur Förderung der moralischen Urteilsfähigkeit, der sogenannten Dilemmadiskussion. Diese Theorie wurde immer weiter entwickelt und gilt heute als eine sehr effektive Methode im Bereich der Moralerziehung. Bei Kohlbergs Untersuchungen werden den Probanden zu Beginn hypothetische Dilemmata vorgelegt, in denen sich (mindestens) zwei moralisch miteinander nicht zu vereinbarende Werte gegenüberstehen, so dass sich der Befragte zwischen beiden entscheiden muss. Sie sollen die verschiedenen Befragten möglichst ähnlich ansprechen und zugleich eine richtige Mischung zwischen kultureller Nähe und Distanz bieten. Die Geschichten sollen somit den Hörer oder Leser mit einem Problem konfrontieren, welches insofern nicht zu lösen ist, als jeder Lösungsversuch einen Verstoß gegen moralische Normen einschließt. Diese Tatsache soll ihn nun dazu zwingen, seine Begründungen offen zu legen. Da es sich bei Kohlbergs Studie um eine kognitive Entwicklungstheorie handelt, muss an dieser Stelle geklärt werden, was man unter „kognitiv“ zu verstehen hat und auf welchen Grundlagen seine Untersuchungen hinsichtlich der moralischen Urteilsfindung basieren. „Kognitiv“ bezeichnet das Denken und Urteilen über moralische Problemstellungen. Weiterhin durchläuft jeder Mensch (unabhängig von der Kultur in der er aufwächst) nach Kohlberg die im nächsten Abschnitt beschriebenen Entwicklungsstufen des moralischen Bewusstseins, welche wiederum den Stufen einer Entwicklung der kognitiven Prozesse entsprechen. Bei Kohlbergs Dilemma-Geschichten und bei seinen Studien allgemein stellt die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen (Rollenübernahme) einen wesentlichen Bestandteil dar. Die berühmteste Dilemma-Geschichte ist das sogenannte „Heinz-Dilemma“:
„Eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, lag im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 2000 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 20000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 10000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen.
Doch der Apotheker sagte: „Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen." Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll. Sollte Heinz das Medikament stehlen oder nicht?“[6]
[...]
[1] Vgl., Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, München, 2003, S.76.
[2] „Sittenlehre“ und „Moralphilosophie“ werden meist gleichbedeutend mit dem Begriff „Ethik“ benutzt.
[3] Heidbrink, Horst: Stufen der Moral. Zur Gültigkeit der kognitiven Entwicklungstheorie Lawrence
Kohlbergs, Hagen, 1999, S. 4f.
[4] Vgl., Heidbrink, Horst: Stufen der Moral. Zur Gültigkeit der kognitiven Entwicklungstheorie Lawrence Kohlbergs, Hagen, 1999, S. 22.
[5] Vgl., Schweitzer, Friedrich: Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh, 5. Aufl. 2004. Darin: Lawrence Kohlberg: Die Entwicklung des moralischen Urteils, S. 112.
[6] Siehe Referathandout