Alzheimer im problemorientierten Bilderbuch: Inhaltliche, künstlerische und sprachliche Aspekte


Examensarbeit, 2009

97 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1 Die Alzheimer-Krankheit

2 Die Situation der Familie und des Kindes

3 Das Bilderbuch als problemorientiertes Medium

4 Kriterien für „gute" problemorientierte Bilderbücher

5 Bilderbücher zum Thema „Alzheimer" im Vergleicht
5.1 Inhaltliche Umsetzung
5.1.1 Der Protagonist
5.1.2 Der Erkrankte und der Knket
5.1.3 Mütter und Väter
5.1.4 Andere Kinder und außerfamiliäres Umfeld
5.2 Die Darstellung der Krankheit
5.3 Die Darstellung des Gedächtnisses
5.4 Bildliche Ästhetik
5.4.1 Titelbild
5.4.2 Komplexität und Dichte
5.4.3 Illustrationstechnik
5.4.4 Text-Bild-Verhältnis
5.5 Sprachliche Analyse
5.6 Zeit und Ort
5.7 Im Anhang: Kuchenrezept undVerständnisfragen

6 Schlussbetrachtung

7 Literaturverzeichnis

0 Einleitung

„Mein Mann heißt Max" steht in Kugelschreiberschrift auf der Hand einer alten Frau. Dieses Bild der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. unterstreicht, wie emotional und grundlegend viele Probleme von Alzheimerpatienten sind. In Deutschland erkranken jährlich 5 Prozent der über 65-jährigen an Alzheimer; Menschen über 85 Jahren haben mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent diese Krankheit. Das sind derzeit mehr als eine Million Menschen. Bis zum Jahr 2030 wird sich diese Anzahl voraussichtlich verdoppeln.[1] An Alzheimer erkrankte Menschen können in späten Krankheitsstadien unter anderem ihre engsten Familienmitglieder nicht mehr erkennen oder sich an deren Namen erinnern. Die Krankheit verändert sie psychisch, körperlich, geistig und in Bezug auf ihre Persönlichkeitsstruktur so massiv, dass von ihrem Leben, wie sie es einst gestaltet haben, wenig übrig bleibt.[2] Oft pflegen die eigenen Angehörigen ihre Verwandten, was auch in ihrem Leben starke Veränderungen und Beeinträchtigungen hervorrufen kann. Kinder, die mit einem Fall von Alzheimer in der Familie oder im sozialen Umfeld konfrontiert sind, belastet es zumeist sehr, den Erkrankten und die Pflegenden in solcher Qual zu sehen. Zusätzlich zu der Sorge um den Erkrankten leiden sie häufig unter den Auswirkungen seiner Krankheitssymptome, die sich in Aggression und Depression äußern können. Durch das Miterleben dieser gravierenden Krankheit können leicht Ängste und Sorgen entstehen. Zudem verändert sich das Familienleben. Pflegende Eltern haben meist nicht mehr genügend Zeit für ihre Kinder.

Ein Medium, das Kinder seit Generationen beim Heranwachsen begleitet, ist das Bilderbuch. Während es ursprünglich zur Vermittlung religiöser und unterrichtender Inhalte genutzt wurde, dann zur Kindeserziehung beitrug und später hauptsächlich der Zerstreuung und Unterhaltung diente, hat es in den letzten Jahren vereinzelt auch in Bezug auf die Verarbeitung von Problemthemen an Bedeutung gewonnen.[3] Indem es Verstörendes aufgriff, veranlasste es Diskussion und Reflektion in den Kinderzimmern.

Viele Kinderbücher widmen sich allerdings auch heute noch dem Trivialen und Idyllischen, das von einer Großzahl der Eltern als „kindgerecht" empfunden wird. Es leitet sie der Gedanke, Problemthemen in der Literatur könnten ihr Kind überfordern und verschrecken. Auch da sich die Wissenschaft nicht ausreichend mit einer Theorie des Bilderbuchs beschäftigt, bestimmen fast ausschließlich die Käufer das literarische Bilderbuchangebot. Dabei lohnt sich eine Untersuchung des Bilderbuchs aus verschiedenen Betrachtungswinkeln: Für Literaturwissenschaft, Linguistik, Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Kunstwissenschaft kann das Bilderbuch einen attraktiven Forschungsgegenstand darstellen. Die Literaturwissenschaft ist diesbezüglich in besonderer Weise herauszustellen, da das Bilderbuch als Erstkontakt zu Texten den Zugang zum Lesen und zum nicht-bebilderten Buch beeinflusst und beim Kind schon vor dem Erwerb eigener Lesefähigkeiten durch Vorlesen den Zugang zu literarischer Sprache schafft.[4] Dabei gehört die Betrachtung der Bilder untrennbar zur Literaturwissenschaft, da nur das Wechselspiel von Bild und Text die volle literarische Qualität eines Bilderbuchs ausmacht. Soziale, pädagogische und psychologische Aspekte sind im Hinblick auf die Gattung des „Problemorientierten Bilderbuchs" nicht außer Acht zu lassen. Das betonen auch Maria Nikolajeva und Jens Thiele, die Autoren der beiden Hauptquellen dieser Arbeit, im Hinblick auf Erzähltheorie und Analyse von Bilderbüchern. Maria Nikolajeva, Professorin für vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität von Stockholm, betrachtet das Einbeziehen der Untersuchungen über Kindheit als einen wichtigen Teil der Kinder-Literaturwissenschaft,[5] während Jens Thiele, Direktor der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Oldenburg, die Untersuchung der pädagogischen Dimension bei einem Thema, „das um Aufklärung und Akzeptanz bemüht ist",[6] für unumgänglich hält.

Die ersten beiden Kapitel der vorliegenden Arbeit geben einen Einblick in die Lebenssituation alzheimerkranker Menschen und deren Angehöriger im Kindesalter. Anschließend stellt das dritte Kapitel die Gattung „Bilderbuch" vor und konzentriert sich dabei auf das Genre „Problemorientiertes Bilderbuch". Darauf folgend widmet sich die Betrachtung der Akzeptanz und Entwicklung problemorientierter Bilderbücher und stellt Kriterien zur Analyse der inhaltlichen, künstlerischen und sprachlichen Aspekte dieser Gattung zusammen (Kapitel 4). In Bezug auf realitätsnahe Darstellung sowie bildliche und literarische Reichhaltigkeit untersucht das fünfte Kapitel vier ausgewählte Bücher. Maßstab der Analyse sind die Erfüllung der in Kapitel 4 aufgestellten Kriterien und der Bezug zur Wirklichkeit von betroffenen Familien, wie sie in Kapitel 1 und 2 ausgearbeitet wurde. Inhaltlich-erzähltheoretisch stehen die Figuren und ihre Konstellationen im Mittelpunkt (5.1). Verhalten sich die Charaktere altersentsprechend und aktiv? Insbesondere die Beziehung zwischen dem Erkrankten und dem Enkel7 (5.1.1 und 5.1.2) stehen hier im Vordergrund, darüber hinaus bildet der Vergleich zwischen den unterschiedlichen Mutter- und Vaterfiguren (5.1.3) und dem Vorkommen anderer Kinder (5.1.4) eine Basis zur Gegenüberstellung der gezeigten Familienverhältnisse. Die Familien werden allerdings nicht nur bezüglich der Konstellation ihrer Mitglieder charakterisiert, sondern auch durch den Umgang mit der Alzheimer-Krankheit. Ihre Darstellung untersucht Kapitel 5.2. Anschließend überprüft Kapitel 5.3 die Vermittlung des Begriffs „Gedächtnis" in den einzelnen Büchern. Vorstellbare Darstellungsmöglichkeiten sind z. B. verharmlosende oder dramatisierende Elemente, erklärende oder verschweigende Umgangsformen, typisierte oder individuelle Krankheitsverläufe. Zentral in der Betrachtung ist die Frage nach Idyllisierung im Bilderbuch. Im Fokus stehen dabei die bildnerischen Mittel (5.4), durch die Niedlichkeit erreicht oder vermieden wird, und der Ersteindruck in Form des Kaufarguments „Titelblatt" (5.4.1). Ferner analysieren die Passagen über Dichte und Komplexität der Illustrationen Anspruch und Tiefgang auf visueller Ebene (5.4.2). Es ist zu erwarten, dass sich die untersuchten Bücher in Bezug auf Farbwahl und Maltechniken (5.4.3), sowie auf die Interaktion von Bild und Sprache unterscheiden (5.4.4). Erzähltechnisch konzentriert sich die Arbeit außerdem auf die Faktoren Ort und Zeit (5.6), zwei Ebenen, für die Alzheimer-Patienten im Laufe der Krankheit das Verständnis verlieren, und analysiert zudem die verwendete Sprache und den Schreibstil in Bezug auf sprach- und lesefördernde Mittel (5.5). Kapitel 5.7 betrachtet die unvergleichbaren Eigenheiten der einzelnen Bücher, die oft charakteristisch für den Gesamteindruck stehen.[7]

Bei den analysierten Büchern Omas Apfelkuchen[8] von Laura Langston und Lindsey Gardiner, Opa ist ... Opa! [9] von Lilli Messina und Herbst im Kopf[10] von Dagmar Mueller und Verena Ballhaus handelt es sich um eine Auswahl aus einer Liste der neuesten Bilderbücher zum Thema Alzheimer. Das vierte Buch, Meine Oma Gisela[11] von Kathy Baumann und Erin Conners, wurde aufgrund seiner Intention und seiner Herausgeberschaft durch die Alzheimer Forschung Initiative e.V. ausgewählt. Es wurde seit 1997 auf Anfrage kostenlos an 25.597 Familien und Beratungsstellen verschickt.[12] Aufgrund dieser hohen Auflage und der leichten Zugänglichkeit gebührt Meine Oma Gisela besondere Beachtung innerhalb der Analyse. Im Speziellen ist die sprachlich­literarische Facette des Buchs dabei Untersuchungsschwerpunkt.

1 Die Alzheimer-Krankheit

Morbus Alzheimer, die Alzheimersche Krankheit oder kurz Alzheimer, bezeichnet nur eine Form von Demenz. Demenz ist definiert als eine Hirnleistungsstörung, die in etwa 50 verschiedenen Arten auftritt.[13] Alle Demenzen haben laut der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme folgende Symptome gemeinsam:

1. Abnahme des Gedächtnisses und anderer kognitiver Fähigkeiten (z.B. Urteilsfähigkeit, Denkvermögen, Sprachfähigkeit)
2. Kein Hinweis auf vorübergehenden Verwirrtheitszustand
3. Störung von Affektkontrolle, Antrieb oder Sozialverhalten (mit emotionaler Labilität, Reizbarkeit, Apathie oderVergröberung des Sozialverhaltens) sowie
4. Dauer der unter 1. genannten Störungen für mindestens 6 Monate.[14]

70 Prozent der Demenzerkrankungen sind vom Typ Alzheimer. Charakteristisch für sie sind Eiweißablagerungen, sogenannte Plaques, die zwischen den Nervenzellen des Gehirns liegen, und die Bildung von Proteinknäueln infolge von chemischen Veränderungen eines Eiweißtyps.[15] Andere Demenzen resultieren aus Durchblutungsstörungen, Stoffwechselerkrankungen, Tumoren oder ähnlichen Verletzungen des Gehirns.[16] Alzheimer ist eine stetig fortschreitende und tödlich verlaufende Krankheit mit einer Vielzahl von Symptomen, die vor allem Menschen über 65, gelegentlich aber auch solche ab 40 Jahren ergreift. Die Stadien der Krankheit verlaufen bei jedem Patienten unterschiedlich, weshalb ihr Verlauf zwischen zwei und 20 Jahre dauern kann. Durchschnittlich haben die Patienten nach Ausbruch der Krankheit noch sieben Jahre zu leben.[17] Alzheimer ist eine lebensbegrenzende Krankheit.[18]

Im ersten Stadium der Demenz wird die Krankheit häufig noch nicht erkannt. Vielmehr zeigen sich Anzeichen, die oft als Depression oder Verwirrtheit wahrgenommen werden. Die Patienten sind antriebsschwächer als gewohnt, verlegen wichtige Gegenstände, vergessen Informationen schnell und sind launischer und ungeduldiger. Besonders das Lernen von Neuem fallt ihnen schwer, Reaktionen verzögern und verlangsamen sich. Dies hat häufig einen sozialen Rückzug zur Folge, was meist mit Einbußen von kommunikativen Fähigkeiten einhergeht. Auch der umgekehrte Fall tritt zum Teil ein: Erschwertes Sprechen und Denken fördert das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Auch die verminderte Orientierungsfähigkeit trägt zu dieser Selbstaufgabe bei. Die Patienten sind im Anfangsstadium in vielen Momenten noch klar denkend und können ihr verändertes Verhalten und den Verlust von Fähigkeiten, Kontrolle und Autonomie reflektieren. Die Folgen können Schwermütigkeit, Gereiztheit und Ängste sein.[19]

Symptome, die bisher noch auf Stress, Unkonzentriertheit oder Trauer zurückgeführt werden konnten, verstärken sich im zweiten Stadium so sehr, dass der Patient auf fremde Hilfe angewiesen ist. Die meisten Alltagstätigkeiten sind alleine nicht mehr zu bewältigen. Sprache und Kommunikation sind stark reduziert und auch hier benötigt der Patient Hilfe. Er kann sich zwar noch an lange Vergangenes, nicht aber an die kurz zurückliegende Vergangenheit erinnern. Abstrakte Skalen wie Zeiteinteilungen (Datum, Uhrzeit) oder den Umgang mit Geld können Patienten nun nicht mehr begreifen. Die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, nimmt ab. Die Realität kann bereits in diesem Stadium nicht mehr verstanden und bewältigt werden. Die Interaktion mit der Umwelt versiegt. Durch die seelisch schwer zu ertragende Situation sind die Patienten in dieser Phase psychisch sehr auffällig. Sie leiden unter starken Gefühlsschwankungen mit schnellen Stimmungswechseln, Weinkrämpfen, Paranoia, Wahnvorstellungen und Wutausbrüchen, haben ein zwanghaftes Verlangen nach Sicherheit, sind einnehmend und zugleich chronisch misstrauisch auch nahen und geliebten Personen gegenüber. Häufig werden bestimmte Handlungen zwanghaft wiederholt - tagsüber und auch nachts. So kann die Alzheimer-Krankheit z. B. ein übersexualisiertes Verhalten hervorrufen.[20] Motorische Einschränkungen wie verminderte Wärmewahrnehmung, gepaart mit der Angst vor unkontrollierbaren Situationen in Zusammenhang mit Wasser können den Verlust eines maßvollen Hygienegefühls und damit des gepflegten Äußeren bewirken. Die Folge all dieser Verunsicherungen ist nicht selten Gewalt auch und gerade gegen medizinische Betreuer und die eigene Familie.[21]

In der letzten Phase ist von der Persönlichkeitsstruktur des Patienten nur noch wenig übrig geblieben; er wird absolut teilnahmslos und bewegt sich nicht mehr. Die eigene Identität und die der anderen sind vergessen. Auch die körperliche Kontrolle über Grundfunktionen nimmt ab. Durch erschwertes Kauen und Schlucken wird der Patient anfalliger für Infektionskrankheiten und stirbt schließlich an den Folgen der Demenz.[22]

2 Die Situation der Familie und des Kindes

Durch die demographische Entwicklung und die zunehmend variablen Familienmodelle gibt es eine große Zahl von Kindern mit dementen Angehörigen. Das vorliegende Kapitel beschreibt die Vorteile eines gemeinsamen Lebens von Alzheimer-Patienten und Kindern, aber auch die Schwierigkeiten, die dies für die Kinder mit sich bringen kann. Zuletzt stellt es Handlungshinweise zusammen, die im Hinblick auf eine Schonung der Kinder als vorteilhaft gelten. Besondere Bedeutung misst dieses Kapitel am Ende der Fragestellung bei, wie viel Aufklärung für ein Kind als entlastend zu bewerten ist. Darauf aufbauend kann dann im folgenden Kapitel erörtert werden, welchen Beitrag Bilderbücher zu dieser Aufklärung leisten können.

In ratgebenden Broschüren wird die Bedeutung der Familie für den Seelenzustand des Patienten immer wieder hervorgehoben. Da mit dem Verlust des Orientierungssinns und des Sicherheitsgefühls eine Neuorientierung immer schwieriger wird, scheint es ratsam, den Patienten in einer gewohnten Umgebung mit nahen Angehörigen leben zu lassen.[23] Im Idealfall sind diese Familienmitglieder Menschen, die den Patienten lieben und ihn auch in seiner Fehlbarkeit akzeptieren. Vor allem in Phase 1 der Krankheit, in der die Symptome noch als gelegentliche Aussetzer, Schusseligkeit und Vergesslichkeit empfunden werden können, ist die Begegnung und das Zusammenwohnen mit Kindern förderlich.[24] Gerade kleine Enkelkinder sind im Umgang mit der Alzheimer-Krankheit häufig unbefangen und konstruktiv. Ihnen fällt es leichter als der Tochter- oder Sohngeneration, welche den Verfall des eigenen Elternteils oft schlecht akzeptieren kann, humorvoll und unbeschwert mit den Betroffenen umzugehen. Leichte, kreative Aufgaben wie malen, spielen oder basteln, die in der Lernphase des Kindes liegen, fordern und beschäftigen auch den Alzheimerpatienten. Bei diesen Beschäftigungen kommt es nicht primär auf verbale Kommunikation an, die den Kranken in diesem Stadium häufig bereits schwer fällt. Instinktiv verfügen Kinder noch über mehr nonverbale Kommunikationsmodelle, was den Patienten entgegenkommt. Da Kinder im Normalfall nicht mit der Pflege und der

Verantwortung belastet sind, sind sie häufig entspannter. Ein gutes Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln tut deshalb meist nicht nur diesen beiden, sondern auch der teilentlasteten Pflegergeneration gut. Auch in der zweiten Phase ist es für die Betroffenen förderlich, Sympathie und Wohlwollen durch die Familie zu erfahren, um dadurch Kräftigung und Motivation zu erfahren.[25] Im letzten Stadium ist der Patient zwar nicht mehr bewegungs- und interaktionsfähig, doch hat der Kontakt zu geliebten Menschen weiterhin einen positiven Einfluss auf den Patienten.[26]

Die Veränderungen des Körpers und der Persönlichkeit des Alzheimer-Kranken sind für die nahen Angehörigen, insbesondere für Kinder, schwer zu verstehen. Wie die Erfahrungsberichte zeigen, spüren Kinder die Umbrüche in der Familie deutlich. Sie bemerken sowohl die Veränderungen des kranken Angehörigen als auch die Besorgnis und Trauer oder womöglich den Gefühlskampf der eigenen Eltern. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu wissen, dass Kinder Veränderungen zumeist als massive Bedrohung der gewohnten Routine oder der eigenen Identität wahrnehmen.[27] Es ist für sie häufig eine einschneidende Erfahrung, die mit vielen Belastungen und Ängsten einhergeht. Die Erfahrungsberichte solcher Familien stellen heraus, wie leicht Kinder aufgrund der zeitintensiven Pflege des Erkrankten nicht die nötige Zuwendung durch die Eltern bekommen. In jedem Fall werden sie die Auswirkungen der elterlichen Pflegetätigkeit zu spüren bekommen.[28] Oft wird von ihnen gefordert, die Situation zu verstehen und eigene Bedürfnisse wie die nach Aufmerksamkeit und Zuspruch zurückzustellen. Gleichzeitig trifft sie die Erwartung der Familie, sich mit um den Erkrankten zu kümmern, obwohl sie durch dessen Verhalten irritiert sind.[29] Es gibt Fälle, in denen die Mischung aus Angst, Ekel und dem Gefühl vernachlässigt zu werden bei Kindern psychosomatische Symptome wie stressbedingte chronische Verdauungsprobleme, Erbrechen, Durchfall und Einnässen bewirkt.[30] Aus Scham vor den eigenen Gefühlen oder aus Angst, das Kind zu überfordern, sind die Sorgen und Probleme oft Tabuthemen in der Familie, was bedrohliche Folgen haben kann: Zumeist bewirkt dieses Schweigen das Entstehen von Vorstellungen, welche viel deprimierender und erschreckender sind als die Realität.[31] Mangelnde Aufklärung und Zuwendung kann zum Beispiel zur Folge haben, dass Kinder sich für schuldig am Tod oder der Krankheit des Angehörigen halten oder befürchten, auch andere, junge und gesunde Familienmitglieder könnten plötzlich krank werden oder sterben. „Familien, die ihre Trauer verbergen oder deutlich machen, dass sie sich unwohl fühlen, wenn sie darüber sprechen, vermitteln ihren Kindern damit den Eindruck, dass der Tod oder die Gefühle etwas sind, dessen man sich schämen müsste und das man besser verstecken sollte."[32] Einen nahe stehenden Menschen zu verlieren, kann Erwachsene und Kinder hilflos werden lassen. Bei Jugendlichen drückt sich diese Machtlosigkeit häufig in aggressiven Gefühlen gegenüber dem häuslichen oder schulischen Umfeld aus. Nicht wenige richten Ärger und Angst gegen sich selbst.[33] Erschwerend kommt hinzu, dass bei gesundheitlichen Krisen in der Verwandtschaft Eltern häufig dazu tendieren, gewohnte Rituale und Grenzen wie Schlafenszeiten und Haushaltspflichten lascher zu handhaben, was die Kinder zusätzlich verunsichert.

Um die Angst, den Stress und die Trauer der Kinder möglichst gering zu halten, betont Eve Herold, Wissenschafts- und Gesundheitsjournalistin mit dem Schwerpunkt „Alterskrankheiten" und Editorin des Altersforschungsmagazins „The Gerontologist", wie wichtig es ist, Besonnenheit, Beständigkeit und Ordnung zu wahren. Dadurch sei es möglich, „einem Kind in seinem Kummer das unbedingt notwendige Gefühl von Sicherheit"[34] zu geben. Sie rät dazu, Kinder aktiv in die Pflege einzubinden, z. B. durch gemeinsames Spielen und das Betrachten von Fotos.

Die Zeit, die [..] Kinder bei Oma und Opa verbringen, hilft ihnen dabei, die Bedürfnisse der Großeltern besser nachvollziehen zu können und Rücksichtnahme auf andere zu lernen. Kinder und Teenager entwickeln außerdem ein gesundes Selbstvertrauen, weil sie wissen, dass sie anderen helfen konnten[35]

Dennoch gibt Herold zu bedenken, dass der optimale Grad an Mithilfe viel Fingerspitzengefühl verlangt und stark von der (Belastungs-)Fähigkeit der Kinder abhängt. Die Aufgaben sollten so angelegt sein, dass das Kind weiterhin Kind sein darf, seine Kindheit subjektiv als „normal" empfindet und keine vorzeitigen Erwachsenenpflichten übernehmen muss. Eine Teilnahme am Pflegeprozess kann aber für einen besseren Familienzusammenhalt und größeres Verständnis für die Hauptpflegenden, z.B. Mutter und Vater, sorgen.[36] Kinder sollen dabei nicht einseitig Unterhalter oder Seelentröster der kranken Alten sein, sondern auch selbst Freude am Umgang mit ihren Großeltern haben. Sie erlernen in dieser Zeit (auch durch das Vorbild der Eltern), „dass Trauer und Verlust Bestandteile des normalen Lebens sind"[37] und lernen das Annehmen, Ausdrücken und Teilen von Gefühlen sowie unterbewusst, dass ihre Familie niemanden, also auch nicht sie, im Stich lässt.[38]

Eine weit verbreitete Einstellung ist es, „das Kind selbst entscheiden zu lassen, wie viel es erfahren möchte."[39] Dieses Credo kann leicht als Schutzbehauptung dienen, sich nicht mit der Thematik auseinandersetzen zu müssen. Ein Kind, welches in Anbetracht der Situation wie gelähmt oder verschüchtert wirkt, benötigt klärende Gespräche, auch wenn es nicht verbal danach verlangt. Sogar sehr kleinen Kindern sollte man erklären, dass die wirkliche Ursache des Todes eine biologische Krankheit ist. Man soll „Kinder oder Teenager weder belügen, was die Todesursache betrifft, noch unnötige oder unangenehme Einzelheiten erwähnen."[40] Vielmehr gehe es darum, Fragen verständnisgerecht zu beantworten und auch unausgesprochene Fragen zu erahnen sowie die kindlichen Gefühle zu akzeptieren. In ihren Veröffentlichungen nähert sich Diplom-Psychologin Eva Poll von der Demenz-Angehörigenberatung dieser Problematik. Ebenso wie Herold betont sie, dass Kinder meist fähig sind, auch schwierige Situationen gut zu verstehen und anzunehmen. Ihrer Meinung nach ist es „sinnvoll, offen mit den Kindern darüber zu reden, was gerade bei Opa und Oma schief läuft. So nimmt man die Kinder ernst und gibt ihnen auch die Möglichkeit, sich auf das veränderte Verhalten von Oma und Opa einzustellen."[41] Poll begrüßt die Unbefangenheit und Offenheit vieler Kinder, die bei Unverständnis nachfragen. Sie plädiert dafür, Kindern „keine Antworten schuldig zu bleiben."[42] Als besonders wichtig erachtet sie es, verständlich zu machen, „dass das Verhalten von Oma oder Opa nicht böse gemeint ist."[43] Dann könne man mit den Kindern vorteilhafte Umgangsweisen wiederholen, so dass sie verstehen, nicht mit den Großeltern über angebliche „Fakten" zu streiten. Kontaktfelder, die Kindern und Großeltern Freude bereiten, wie z. B. ein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Abend, beleuchten die schönen Seiten des Zusammenlebens. Susanna Saxl, die für das „Alzheimer-Telefon" der Deutschen Alzheimer Gesellschaft arbeitet, stimmt der Eva Poll größtenteils zu. Zusätzlich zu Gesprächsangeboten und altersentsprechenden Erklärungen stellt sie noch heraus, dass es wichtig sei, den Kindern „immer wieder Freiräume zu schaffen, in denen sie sich nicht mit der/dem Kranken befassen müssen."[44] Gabriele Kreutzner vom Demenz­Support vermutet, die Probleme der Kinder seien in erster Linie darauf zurück zu führen, „dass wir Erwachsenen uns schwer tun im Umgang mit Menschen, die durch diese Krankheit stigmatisiert sind, (provokant gesagt): denen der Aufkleber ,Vorsicht, dement' angeklebt wird".[45] Kreutzner stellt die These auf, dass Kinder ungezwungen und vorurteilsfrei intuitiv richtig mit kranken Angehörigen umgehen, während sie lediglich mit dem seltsamen Verhalten der nicht-kranken Erwachsenen Probleme haben.

Obwohl die Liebe und Fürsorgejedes einzelnen hilfreich ist, kann dennoch nicht jedes Familienmitglied gleich gut die Betreuung und Pflege des Kranken übernehmen. Manche Menschen, egal ob Kinder oder Erwachsene, sind der Situation emotional und psychisch nicht gewachsen. Sie scheuen sich vor Krankheit und Tod oder können die Diagnose nicht akzeptieren. Daher ist es wichtig, jeden nur nach den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten in die Pflege mit einzubeziehen.[46] Die Konfrontation mit der Alzheimer-Krankheit ist auch immer zugleich eine Konfrontation mit dem Tod und dem sukzessiven Verlust eines Menschen. Diese Situation ist fraglos für alle Beteiligten schwierig. Die Fachliteratur rät daher den Patienten sowie der Familie, sich Hilfe in Form von Beratungen oder Selbsthilfegruppen zu suchen.[47]

3 Das Bilderbuch als problemorientiertes Medium

Seit der Erfindung des Bilderbogens und der Fibel im 16. Jahrhundert begleiten bebilderte Texte und betextete Bilder die Kinder in Deutschland. Diese Vorformen des Bilderbuchs intendierten vor allem die Belehrung der Kinder, brachten ihnen erste Worte, Buchstaben und Zahlen bei. Illustrierte Fabelbücher mit moralischen Botschaften im Sinne der Aufklärung im 18. Jahrhundert leiteten das Bebildern von Geschichten und Märchen ein; im 19. Jahrhundert diente das Bilderbuch wieder vornehmlich als Erziehungsmittel.[48] Während es in der Mitte des 20. Jahrhunderts meist zur Unterhaltung und Belustigung der Kinder genutzt wurde, kreist die Diskussion heute darum, ob sich das Bilderbuch auch zur Vermittlung problematischer Themen eignet und ob es gar als therapeutisches Medium zum Gespräch über Krankheit, Tod und Ängste genutzt werden kann.

In den 80er Jahren kritisiert vor allem Jens Thiele, Direktor der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Oldenburg, die Einheitlichkeit und Naivität von Bilderbüchern. Probleme werden noch immer kaum thematisiert, Illustrationen sind oft stark vereinfacht und pseudo-kindgerecht, ästhetische und inhaltliche Bandbreite ist durch unreflektierte Weitergabe von Büchern kaum vorhanden. Dabei können seiner Meinung nach Bilderbücher [...] für die Sozialisation der Kinder mehr leisten als Zerstreuung und Unterhaltung. Neben diesen unbestreitbar wichtigen Funktionen können sie aufmerksam machen auf bestimmte Probleme, Stellung nehmen zu kindlichen Fragen und somit zu einem konfliktfreieren Leben beitragen.[49]

Die Stilrichtung des „Realismus", „in der es bei Themenauswahl und Darstellungsweise um ein möglichst genaues Treffen der tagtäglichen Probleme von Kindern und/oder Jugendlichen geht"[50], beschäftigt sich per Definition mit dem Alltag und seinen Schwierigkeiten, also mit familiären Problemen, Generationskonflikten, Identitätssuche, Krankheit und Tod. Realistische Jugendromane wie die von Peter Härtling, Max von der Grün oder Elfie Donnelly dienen der Aufarbeitung solcher Fragen und Stressoren aus dem kindlichen Alltagsumfeld. Die Hauptfiguren, welche selbst meist im Kindesalter sind, bieten Identifikations- und Handlungsmuster und geben gerade durch das konsequente Aufzeigen von Hindernissen und Konflikten Hilfestellung in der Bewältigung.

Was im Kinderbuch schon seit etwa 100 Jahren üblich ist, lässt beim Bilderbuch noch auf sich warten. Vielmehr sind die meisten Bilderbücher laut Heike Bürger- Ellermann von einer Entidyllisierung der Kinderwelt weit entfernt. „Es gibt verschwindend wenige Bilderbücher auf dem Markt, die an der Wirklichkeit und der Problemlage von 2- bis 10jährigen orientiert sind."[51] Während also im Bereich der Kinderliteratur in den 70er Jahren im Rahmen einer neuen Aufklärung Problembücher Tabus besiegen und der sozialkritische Realismus eines Peter Härtling Themen wie Behinderung, Alter und Tod zur Sprache bringt,[52] bleibt die Konfliktlosigkeit des Bilderbuchs bestehen. Thiele zufolge ist es versäumt worden, „die Heranwachsenden auf ihre spätere Rolle als Käufer und Vermittler von Bilderbüchern vorzubereiten"[53]. Da die meisten Eltern nach ihrer eigenen Jugend die Beschäftigung mit Bilderbüchern bis zum Vorlesealter der eigenen Kinder beiseite gestellt haben, fänden sie sich ratlos vor einer Auswahl neuer Bilderbücher und griffen darum auf Der Struwwelpeter[54] und Die Häschenschule[55] zurück, die sie selbst schon von ihren Eltern geerbt haben. Im Falle des Struwwelpeters reicht diese Vererbungskette nunmehr bis ins Jahr 1845 zurück.[56] Diese Beispiele für Bilderbücher des Biedermeiers und der Nachfolge des Jugendstils zeichnen sich häufig durch belehrende oder triviale Inhalte aus. Während der Struwwelpeter Horrorszenarien als Konsequenz von Unartigkeit vorstellt (Tod durch Nahrungsverweigerung, Verbrennen durch Unachtsamkeit, Verlust von Körperteilen durch Daumenlutschen),[57] hoppeln die Protagonisten des „Bilderbuch-Evergreens"[58] Die Häschenschule unbeschwert durchs immergrüne Gras. Beide Bücher sind im zeitlichen und literaturhistorischen Kontext als Parodien und Satiren des belehrenden und des trivialen Genres zu verstehen,[59] aus heutiger Sicht betrachtet verkörpern sie aber dennoch das „moralisch Abschreckende" und das „Treuherzigliebe" des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Thiele räumt auch den trivialen Bilderbüchern eine Berechtigung ein, da sie „Entlastungen und Zerstreuungen" bieten, plädiert jedoch für eine Vielfalt von Bilderbuchformen, in der nicht nur das Triviale, bereits Vertraute, immer wieder gezeigt wird.[60] Zumal die Kinder selbst scheinbar nicht ausschließlich auf „vergnügliche Lustigkeit"[61] erpicht sind. Vielmehr genießen sie „langsam betrachten, forschen, lernen",[62] wie es Monika Niermann, Professorin der Universität Osnabrück mit den Schwerpunkten Kunstpädagogik und Kindheitsforschung, beschreibt. Trotzdem wählen viele Erwachsene Bilderbücher der eigenen Sehnsucht nach einer romantischen Kindheit entsprechend aus. Sie halten sich an bekannte Bilderbuchtypen, da sie sich um die emotionale Unversehrtheit des Kindes sorgen.[63] Es ist dementsprechend auch in diesem Jahrtausend noch umstritten, welche Themen in Kinderbüchern angesprochen werden könnten, ohne die Kinder zu überfordern. Diese thematische Zensur beinhaltet Thiele zufolge eine pädagogische Entscheidung und lässt somit auf die allgemeinen Einflüsse der Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen schließen:

Gerade vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen Medienpräsenz gibt es den Wunsch, Kinder vor den negativen, belastenden Seiten des Lebens fernzuhalten. Tod, soziale Not, Gewalt oder Krieg sind tabuisierte Themen des Bilderbuchs, auch deswegen, um sich von ihrer permanenten Anwesenheit in Fernsehen, Computerspielen, Zeitschriften und Kino zu distanzieren. Hier will das Bilderbuch so etwas wie eine pädagogische Schutzfunktion übernehmen.[64]

Die Problematik ist sogar noch grundlegender: Nicht nur vor Problemthemen im Speziellen, sondern vor realistischer Darstellung im Allgemeinen scheut sich die Gattung Bilderbuch, ihr liegen stattdessen „Harmlosigkeit und Beschwichtigung"[65] als Konstruktionsmerkmale zu Grunde. Auch auf die Illustration bezogen neigen laut Thiele die meisten Kinderbücher zu pseudo-„kindgemäßen"[66], vereinfachten Darstellungen, geprägt durch vertraute (Kindchen-)Schemen, niedliche Charaktere, Dekorationen und Vielfarbigkeit. Bis heute gelten Harmonie und Einfachheit für viele Erwachsene als „kindgemäß", obwohl diese Definition des Begriffs bis heute nicht belegt ist.[67] Thiele stellt die These auf, dass dieser naive Stil der Illustrationen nicht nur unnötig ist, sondern auch unterfordernd und lähmend wirkt. Durch die vielfältigen Medienerfahrungen seien Kinder nämlich einem täglichen Wahrnehmungstraining unterzogen und - bei Bereitstellung großer Auswahlmöglichkeiten - auf dem Weg zur unabhängigen Wertung und Beurteilung. Dies qualifiziere sie, Kunst und Vielfalt zu schätzen.[68]

Thiele zufolge können und müssen Bilderbücher auch Ratgeber für seelisch belastende Situationen sein:

[S]ie müssen auch die ernsten, schwierigen, dunklen, bedrohlichen Seiten des Lebens aufschlagen, sie müssen eindringen in die widerstreitende Gefühlswelt des Kindes, sie müssen positive wie negative Gefühle erlebbar machen und nicht falsche Gefühle vorgaukeln.[69]

Seiner Meinung nach gibt es im Bereich der Bilderbücher für Kinder seit den 90er Jahren eine positive Entwicklung, auch bedrohliche Facetten der Wirklichkeit und Gefühlswelt zu zeigen, anstatt eine unechte Harmonie zu kreieren.

Immer mehr Bilderbücher erheben diesen Anspruch, weil sich das Bild des Kindes und das der Kindheit gewandelt haben, weil die Lebensbedingungen und - zusammenhänge komplizierter geworden sind, aber auch, weil immer mehr AutorInnen und IllustratorInnen nach anderen Ausdrucksformen suchen und Kindern mehr mitteilen möchten als farbenfrohe Impressionen phantasierter Tierwelten.[70]

Es handelt sich beim Bilderbuch um ein Medium, welches „elementare soziale, emotionale und ästhetische Erfahrungen [...] gesellschaftliche Verhaltensweisen, Normen und Modelle"[71] transportieren kann, Identifikation mit Rollen und Charakteren ermöglicht und so grundlegend Einstellungen des Kindes prägen kann. Dadurch empfehlen sich Bilderbücher als „potentielles Übungs- und Lernmaterial im sozialen Erfahrungsbereich".[72] Zwar bewirkt nicht das einzelne Bilderbuch ein Hinterfragen und Umdenken, aber in Kombination mit begleitenden Diskussionen, Erklärungen und Unterhaltungen kann das Anschauen von Bilderbüchern soziales Lernen ermöglichen und Ängste abbauen.

Wovor sich Kinder tatsächlich fürchten und welchen Erklärungsbedarf es bereits gibt, kann den Untersuchungen der Pädagogin Anne Dück-von Essen entnommen werden. Sie zeigen, dass es sich bei kindlichen Ängsten nicht nur um abstrakte Monsterfantasien handelt, sondern auch um Angst vor Liebesverlust, Einsamkeit und vor Krieg, Tod und Krankheit.[73] Gerade wenn ein Krankheitsfall in der Familie besteht oder eine Krankheit wie Alzheimer in einem Anfangsstadium ist, kann die Beschäftigung mit der Krankheit helfen, Ängste auszusprechen und einander zu helfen. Gabriele Kreutzner sieht in dem Verfassen und Lesen von Kinder- und Jugendliteratur, die sich mit dem Thema Alzheimer beschäftigt, die Chance, „eine nicht-wertende, unbelastete Perspektive auf eine Person einzunehmen, die anders ist, anders wird ... und dann zu beschreiben, was hierdurch ausgelöst wird, wie andere darauf reagieren, was passiert."[74] Kreutzner schreibt, Kinder schöben im Gegensatz zu Erwachsenen Menschen nicht in Kategorien und Schubladen. Sie hofft, die Thematisierung im Kinderbuch könne einen respektierenden Blick auf einen Betroffenen ermöglichen.

Wichtig für diese Literatur sei es, zuerst den Menschen in seiner Individualität zu sehen und auch trotz der Krankheit noch die positiven Fähigkeiten und liebenswerten Eigenheiten des Einzelnen wahrzunehmen. Ohne dabei zu moralisieren, könne diese Literatur alternative Umgangsweisen aufzeigen [...], die den Menschen mit Demenz in seiner eigenen Wirklichkeit annimmt und akzeptiert ... ohne die Schwierigkeiten zu verleugnen, die sich durch die fortschreitende Krankheit und ihre Auswirkungen ergeben können.[75]

Humor sieht Kreutzner dabei als wichtige und richtige Vorgehensweise, als Bündnispartner.

Funktional könne die Lektüre von Bilderbüchern eine Entwicklungshilfe darstellen und bei der Bewältigung der schwierigen Situation helfen. Selbstgelenkt kann das Kind sich in der Literatur wiederfinden und von den Konfliktlösungsmustern der Identifikationsfiguren profitieren. Abgesehen von den kreativen Anstößen, die ein Bilderbuch gibt, kann es also sowohl zum Dialog anregen als auch eine Selbsttherapie des Kindes ermöglichen, die sogenannte Bibliotherapie.[76] Hierbei wird das Gelesene genutzt, um eine schwierige Situation und Gemütslage zu verbessern, sich mit bestehenden Sorgen und Ängsten zu konfrontieren, innere Spannungen zu entdecken und sich von ihnen zu befreien.[77] Besonders zuträglich sei hierbei das Ansprechen der unbewussten Persönlichkeitsstrukturen und verborgenen Kräfte, welche nach eigenem Ermessen in Eigenregie und ohne Zwang aktiviert und entdeckt werden könnten. Problematische Einflüsse kann das Kind in der Geschichte erkennen und schon durch die Begegnung mit der ähnlichen Situation Aggression und Angst ergründen und überwinden. Dem Bedürfnis nach Konfrontation, Trost oder Anstoß entsprechend kann das Kind ein Buch aufschlagen oder weglegen.[78] In Bezug auf die Literatur zum Thema „Alzheimer" könnte das folgendermaßen aussehen: Ein Kind betrachtet ein solches Bilderbuch, es sieht die Protagonisten und findet Gefühle wieder, die ihm von sich selbst bekannt sind, wie beispielsweise die erschreckende Situation, nicht mehr von der Großmutter erkannt zu werden. Dadurch erkennt es zum einen, dass es nicht allein in dieser Situation ist und dass auch andere Kinder in dieser Situation Trauer und Verwirrung, vielleicht auch Angst und Wut empfinden, zum anderen kann es die Reaktionen der Bilderbuchfiguren sehen und auch, welche Konsequenzen diese hervorrufen.

Zwar kann ein Bilderbuch allein nur einen Puzzlestein in der Sozialisation des Kindes ausmachen, als Anstoß zum sozialen Lernen, zum Gespräch und zum Austausch kann es aber helfen, Konflikte zu bewältigen und Charakterstrukturen zu festigen,[79] denn kindliche Ängste kommen nicht täglich und beiläufig zur Sprache. Vielmehr ist das Kind darauf angewiesen, einen geschützten Raum zu finden für seine Sorgen, ein Milieu, in dem es spürt, dass seine Befürchtungen gefragt sind. Der optische Reiz des Bilderbuchs ist ein geeigneter Anlass, durch das Ansehen und Kommentieren der Bilder unwillkürliche Äußerungen und Stellungnahmen des Kindes freizusetzen. Die Identifikation mit den Protagonisten kann die Hemmschwelle herabsetzen, sich diesen beängstigenden Vorstellungen zu stellen.[80]

Positiv hervorzuheben sind daherjene Bilderbücher, die sich mit dem Behandeln des Themas „Alzheimer" ausdrücklich einem Problem zuwenden. Sie sind als „problemorientierte Bilderbücher" zu bezeichnen. Als ein von Kindern häufig frequentiertes Medium nähern sie sich einer Problematik, die den Alltag und die Sorgenwelt vieler Kinder beschreibt. Literarisch wird hierin die reale Umwelt des Kindes und die soziale Problematik thematisiert. Ob die Umsetzung dennoch die für viele Bilderbücher typischen Merkmale „Idyllisierung" und „naiv-vereinfachende Darstellung" aufweist, oder ob Ungewöhnliches, Aufrüttelndes und Künstlerisches in der Gattung „Problemorientiertes Bilderbuch" Platz findet, wird im Folgenden untersucht.

[...]


[1] Vgl. Leben mit der Alzheimer-Krankheit. Für alle, die mehr wissen wollen. Hg. von Alzheimer Forschung Initiative. Düsseldorf: o. V., 2003, S. 6, vgl. auch Stosberg, Manfred. Alter und Familie. Zur sozialen Integration älterer Menschen - theoretische Konzepte und empirische Befunde. Frankfurt: Lang 1995, S. 10.

[2] Vgl. Engel, Sabine. Alzheimer undDemenzen - UnterstützungfürAngehörige. Stuttgart: Trias, 2006, S. 36ff.

[3] Vgl. Niermann, Monika. Erziehungsziele in Bilderbüchern für Kinder von 2 bis 6 Jahren. Grundlegung eines Modells zur Analyse von Bilderbüchern. Frankfurt: Peter Lang, 1977, S. 24ff.

[4] Vgl. Niermann 1977, S. 87ff.

[5] Vgl. Nikolajeva, Maria. From Mythic to Linear. Time in Children's Literature. Lanham: The Scarecrow Press, 2000, S. 3.

[6] Vgl. Thiele, Jens. Email „Re: Forschung und Bilderbücher". 22. November 2007. 22:18:00.

[7] In Bezug auf die Geschlechtsbezeichnungen verwende ich bei allgemeinen Aussagen, die einen Typen oder mehrere Personen unterschiedlichen Geschlechts bezeichnen, zur Gewährung von Lesbarkeit die männliche Form. Weibliche Personen sind mit eingeschlossen.

[8] Langston, Laura/ Gardiner, Lindsey. OmasApfelkuchen. Kiel: Friedrich Wittig Verlag, 2004.

[9] Messina, Lilli. Opa ist... Opa! Bad Soden: Kinderbuchverlag Wolff, 2003.

[10] Mueller, Dagmar / Ballhaus, Verena. Herbst im Kopf. Meine Oma Anni hat Alzheimer. Wien: Annette Betz.

[11] Baumann Kathy / Conners, Erin. Meine Oma Gisela. Ein Kinderbuch über den Umgang mit Alzheimer-Kranken. Hg. vonAlzheimer Forschung Initiative. Düsseldorf: o. V. o. J..

[12] Bis Oktober 07 vgl. Wiese, Ellen. Email „Ihre Anfrage vom 1. Oktober 2004". www.alzheimer- forschung.de 11. Dezember 2007. 16:23:11.

[13] Vgl. Engel 2006, S. 14.

[14] [ICD-10],

[15] Vgl. Ochmann, Frank. Demenz. In: Stern 49 (2007), S. 154-160, S. 159, vgl. Engel 2006, S. 16.

[16] Vgl. Saxl, Susanna. „Re: ,Demenz im Kinderbuch'". www.deutsche-alzheimer.de Email vom 30. September 2004. 14:24:05.

[17] Vgl. Diagnose Alzheimer. Ehrliche Antworten für Patienten. Hg. von Alzheimer Forschung Initiative. Düsseldorf: o. V. 2002, S. 10, vgl. auch Engel 33.

[18] Vgl. Leben mit derAlzheimer-Krankheit 2003, S. 7, vgl. auch Engel 2006, S. 34.

[19] Vgl. Leben mit derAlzheimer-Krankheit 2003, S. 6f, vgl. auch Engel, S. 29f.

[20] Vgl. Engel 2006, S. 65.

[21] Vgl. DiagnoseAlzheimer 2002 13ff, vgl. auch Viciano, S. 162.

[22] Vgl. Engel 2006, S. 65, 34.

[23] Vgl. Leben mit der Alzheimer-Krankheit 2003, S. 10.

[24] Vgl. DiagnoseAlzheimer 2002, S. 12.

[25] Vgl. DiagnoseAlzheimer 2002, S. 14.

[26] Vgl. DiagnoseAlzheimer 2002, S. 16.

[27] Vgl. Herold, Eve. Ich binfür dich da. Erfahrungsberichte. SorgenfürpflegebedürftigeEltern neben Kindern, Ehe undArbeit. Hg. von Alzheimer Forschung Initiative. Bearb. von Dr. Ellen Wiese. Düsseldorf: o. V. 2003, S. 50.

[28] Vgl. Herold 2003, S. 15.

[29] Vgl. Herold 2003, S.51.

[30] Vgl. Herold 2003, S. 57.

[31] Vgl. Ebd..

[32] Herold 2003, S. 58.

[33] Vgl. ebd.

[34] Herold 2003, S. 52f.

[35] Herold 2003, S. 52f.

[36] Vgl. Herold 2003, S. 53f.

[37] Herold 2003, S. 55.

[38] Vgl. ebd.

[39] Vgl. Herold 2003, S. 58.

[40] Vgl. Herold 2003, S. 58f.

[41] Poll, Eva. „Re: Fragen und Kriterien". www.alzheimerforum.de Email vom 5. Oktober 2004. 17:59:00.

[42] Ebd..

[43] Ebd..

[44] Saxl 2004.

[45] Kreutzner, Gabriele. „Re: Kontakte, Adressen, Fragen, Dank". Email vom 30. September 2004. 14:38:33. www.demenz-support.de.

[46] Vgl. DiagnoseAlzheimer 2002, S. 17.

[47] Vgl. Alzheimer-Krankheit. Sie sind nicht allein. Informationen und Tipps für Angehörige. Hg. von Alzheimer Hilfe. Frankfurt: o. V. 2004, S. 78.

[48] Vgl. Niermann 1977, S. 24ff.

[49] Thiele, Jens (Hg.). Bilderbücher entdecken. Untersuchungen, Materialien und Empfehlungen zum kritischen Gebrauch einer Buchgattung. Oldenburg: Isensee, 1985, S. 17.

[50] Karst, Theodor et. al.. Kindheit in der modernen Literatur. Interpretations- und Unterrichtsmodelle zur deutsch-, englisch- und französischsprachigen Prosa. Kronberg: Scriptor, 1976 (Literatur + Sprache + Didaktik; 1), S. 135.

[51] Bürger-Ellermann, Heike. Schonraum Kindheit? Die soziale Realität von Kindern im Spiegel gegenwärtiger Bilderbuchproduktionen. In: Bilderbücher entdecken. Untersuchungen, Materialien und Empfehlungen zum kritischen Gebrauch einer Buchgattung. Hg. von Jens Thiele. Oldenburg: Isensee, 1985, S. 19-56, S. 26, vgl. auch Marquard 2000, S. 76.

[52] Vgl. Schikorsky, Isa. Schnellkurs Kinder- undJugendliteratur. Köln: DuMont, 2003, S. 156ff.

[53] Thiele 1985, Klappentext.

[54] Vgl. Hoffmann, Heinrich. DerStruwwelpeter. Esslingen: Esslinger Verlag Schreiber, 1992.

[55] Vgl. Sixtus, Albert / Koch-Gotha, Fritz. Die Häschenschule. Esslingen: Hahn's Verlag, 2006.

[56] Vgl. Thiele, Jens. Eltern - Kinder - Bilderbücher. Hinweise zu einem alltäglichen, aber wichtigen Erfahrungsbereich. In: Bilderbücher entdecken. Untersuchungen, Materialien und Empfehlungen zum kritischen Gebrauch einer Buchgattung. Hg. von Jens Thiele. Oldenburg: Isensee, 1985, S. 7f, siehe auch Schikorsky 2003, S. 58.

[57] Vgl. Hirlinger-Fuchs, Franziska. Bilderbücher und ihre Wirklichkeiten. Normen, Werte und Rollenbilder in deutschsprachigen Bilderbüchern von 1844-1996 - vom Struwwelpeter zur Menschenfresserin. Heidelberg: Carl-Auer Systeme, 2001, S.11, 60, vgl. auch Schikorsky 2003, S. 58.

[58] Schikorsky 2003, S. 94.

[59] Vgl. Schikorsky 2003, S. 58, 94.

[60] Vgl. Thiele 1985, S. 8, auch die wörtlichen Zitate sind hieraus entnommen.

[61] Niermann, Monika. Das Bilderbuch in der pädagogischen Diskussion. Materialien zum Bilderbuch in Elternhaus, Kindergarten, Schule undBibliothek. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1979, S. 17.

[62] Ebd..

[63] Vgl. Thiele, Jens. Bilderbücher verstehen. Neue Überlegungen zu einem alten Anspruch. In: Neue Erzählformen im Bilderbuch. Hg. von Jens Thiele. Oldenburg: Isensee, 1991, S. 7-16, S. 7.

[64] Thiele, Jens / Doonan, Jane. Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Oldenburg: Isensee, 2000, S. 164.

[65] Ebd.

[66] Thiele 1985, S. 9.

[67] Vgl. Schikorsky 2003, S. 144.

[68] Vgl. Thiele 1985, S. 9.

[69] Thiele 1991, S. 7.

[70] Thiele 1991, S. 7.

[71] Thiele 1985, S. 15.

[72] Thiele 1985, S. 17.

[73] Vgl. Dück-von Essen, Anne. „Man kannja ruhig zugeben, dass man Angst hat." Kinderängste und ihre Darstellung im Bilderbuch. In: Bilderbücher entdecken. Untersuchungen, Materialien und Empfehlungen zum kritischen Gebrauch einer Buchgattung. Hg. von Jens Thiele. Oldenburg: Isensee, 1985, S. 107-141, S. 110ff.

[74] Kreutzner 2004.

[75] Ebd.

[76] Vgl. Dück-von Essen 1985, S. 110ff.

[77] Vgl. Engelbert-Michel, Angela. Das Geheimnis des Bilderbuches. Ein Leitfaden für Familie, Kindergarten und Grundschule. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 1998, S. 21.

[78] Vgl. Keller, Ursula. Bilderbücher für Vorschulkinder. Bedeutung und Auswahl. Hg. von Heinz Stefan Herzka. Zürich: pro juventute, 1995 (Betrifft: Kindheit. Kinder und Jugendliche - kennen und verstehen. Eine Informationsreihe), S. 84.

[79] Vgl. Thiele 1985, S. 17.

[80] Vgl. Keller 1995, S. 85f.

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Alzheimer im problemorientierten Bilderbuch: Inhaltliche, künstlerische und sprachliche Aspekte
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Germanistisches Insitut)
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
97
Katalognummer
V196086
ISBN (eBook)
9783656221838
ISBN (Buch)
9783656222637
Dateigröße
787 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Alzheimer, Bilderbuch, Pädagogik, Problemorientierung, Problemorientierte Bilderbücher, Kinder- und Jugendliteratur, Krankheit, Tod, Ästhetische Bildung
Arbeit zitieren
Mareike Hachemer (Autor:in), 2009, Alzheimer im problemorientierten Bilderbuch: Inhaltliche, künstlerische und sprachliche Aspekte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196086

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