Compliance als Versuch für die Eindämmung des individuellen Opportunismus im Unternehmen


Bachelorarbeit, 2012

38 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Prolog

2. Wachsender Opportunismus im System der Wirtschaft
2.1 Falsche Orientierung am Shareholder Capitalism
2.2 Fehlende Orientierung im Neoliberalismus

3. Wirtschaftsakteure auf Orientierungssuche
3.1 Relative Deprivation
3.2 Fraud Triangle

4. Wirtschaftskriminalität als Folge des Opportunismus
4.1 Typisches Täterprofil
4.2 Einschätzung der Risikobereiche
4.3 Wirtschaftlicher Schaden

5. Corporate Compliance
5.1 Ursprung und Entwicklung des Compliance-Begriffs
5.2 Gesetze und Werte als Orientierungsgrößen
5.2.1 Rechtsgrundlage
5.2.2 Ethische Grundlage

6. Umsetzung im Unternehmen
6.1 Organisationsformen
6.2 Position und Berichtswege der Compliance-Organisation
6.3 Einführung eines verbindlichen Regelwerks
6.4 Kernaufgaben der Compliance
6.4.1 Präventionsmaßnahmen
6.4.2 Kontrolle der Compliance-Treue
6.4.3 Reaktion auf Compliance-Verstöße

7. Kritische Betrachtung der Compliance
7.1 Methodik der Dekonstruktion
7.2 Dekonstruktion ausgesuchter Compliance-Kodizes
7.2.1 Deutsche Bank: Interessenskonflikte und Insidergeschäfte
7.2.2 Deutsche Bahn: Datenschutz
7.2.3 Siemens: Korruptionsbekämpfung
7.2.4 Shell: Wettbewerbs- und Kartellrecht
7.2.5 E.ON: Umweltschutz

8. Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Fraud Triangle

Abb. 2: Anteil der betroffenen Unternehmen 2009 und 2011

Abb. 3: Abgleich der wahrscheinlichen und tatsächlichen Delikte

Abb. 4: Orientierungsbereiche der Compliance

Abb. 5: Relevante Rechtsgebiete der Risikoanalyse

Abb. 6: Risikoportfolio

1. Prolog

Das Wirtschaftsgeschehen wird spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends von negativen Ereignissen überlagert, welche das öffentliche Vertrauen erheblich geschmälert haben und eine Kritik an der aktuellen Form des Kapitalismus und der Marktwirtschaft aufkeimen ließen. Man denke nur an den Zusammenbruch der damals noch relativ jungen New Economy oder die Insolvenzen mancher bedeutenden Konzerne und zahlreicher kleineren Unternehmen. Nur wenige Jahre später, begann sich die weltweite Finanzkrise wie ein bedrohlicher Schatten über ganze Volkswirtschaften zu legen – ihre Auswirkungen sind heute noch zu beobachten. Des Weiteren sorgen verschiedene Skandale und spektakuläre Managementverfehlungen in der Wirtschaft für einigen Unmut in der Öffentlichkeit. Ungerechtfertigte Abfindungszahlungen und übertriebene Gehälter degradieren das Bild des ehrbaren Kaufmanns zu einem romantischen Anachronismus. Derart vorbelastet, regt sich in der Gesellschaft immer mehr Widerstand gegen das System der Wirtschaft, in dem ethisch korrektes Verhalten zu Gunsten individueller Vorteilsnahme als lästiges Beiwerk abgetan zu werden scheint.[1] Teile der Bevölkerung reagierten jüngst mit der sogenannten Occupy-Bewegung. In der Wirtschaft selbst ist seit einiger Zeit das Thema Compliance sehr populär. Dabei soll die Intention hinter der Compliance in erster Linie nicht die PR-Arbeit oder die Befriedigung eines öffentlichen Interesses sein, sondern vielmehr die Bekämpfung des wuchernden und für die Unternehmen schädlichen Opportunismus einzelner Akteure.

In dieser Arbeit werden zu Beginn die Entwicklungen im System der Wirtschaft skizziert, die das opportunistische Verhalten der Wirtschaftsakteure gefördert, eine gewisse Orientierungsproblematik unter ihnen ausgelöst und dadurch den Weg in eine wirtschaftliche und ethische Krise geebnet haben könnten. Diese Skizze möchte keine uneingeschränkte Gültigkeit proklamieren, sondern versucht vielmehr mögliche Aspekte aufzugreifen, aus denen sich der Bedarf eines Regel- und Kontrollsystems wie der Compliance überhaupt erst ergibt. Im Hauptteil wird das Konzept der Compliance als eine mögliche Reaktion auf den Opportunismus ausführlich vorgestellt. Zu diesem Zweck werden die Entwicklung sowie die Inhalte eines Compliance-Programms beschrieben und die einzelnen Schritte der erfolgreichen Implementierung in einem Unternehmen nachvollzogen. Da oftmals Kritik an der ernsthaften Umsetzung eines solchen Programms und etwaigen investigativen Hintergedanken der Unternehmensleitung geäußert wird, beschäftigt sich der letzte Teil mit einer kritischen Betrachtung des Themas und der Dekonstruktion ausgewählter Verhaltenskodizes.

2. Wachsender Opportunismus im System der Wirtschaft

Es bedarf nicht zwingend eines pessimistischen Blicks, um im System der Wirtschaft einige Fehlentwicklungen ausmachen zu können, die wiederum oftmals auf unmoralischem Verhalten der Wirtschaftsakteure basieren. Beinahe gewinnt man den Eindruck, als hätten sich die Unternehmen zu Sammelbecken für opportunistische Akteure entwickelt, die fernab jedes Bezugs zur „Normalität“ und unter Vernachlässigung der Nachhaltigkeit hauptsächlich ihre eigenen Interessen verfolgen. Das Resultat dieses Verhaltens war und ist in Form diverser Krisen der weltweiten Finanz- und Realwirtschaft zu spüren. Ob dabei die Gier der Investmentbanker oder die der Top-Manager ausschlaggebend war, ist wohl nur schwer nachzuvollziehen.[2] Von größerer Bedeutung als die Schuldzuweisungen ist die Frage, was für ein Klima die opportunistische Befriedigung persönlicher Gier ermöglicht bzw. gefördert hat und ob eine Veränderung der Rahmenbedingungen dem entgegenwirken kann. Da die Ursachenforschung sicherlich sehr umfangreich ausfallen kann, sollen an dieser Stelle der Shareholder Capitalism und die Neoliberalisierung als wahrscheinlich mitverursachende Themen herausgegriffen werden.

2.1 Falsche Orientierung am Shareholder Capitalism

In der Vergangenheit hat sich über weite Teile der Wirtschaftslandschaft die Theorie des Shareholder Value ausgebreitet, deren Befolgung beinahe dogmatische Züge hatte bzw. zum Teil immer noch hat. Viele Unternehmen erklärten zu Gunsten der Aktionäre die Steigerung des Börsenwertes zur obersten Maxime, richteten ihre Corporate Governance danach aus und definierten darüber schließlich ihren Erfolg. Dass realwirtschaftliche Kriterien, wie die Wettbewerbsfähigkeit oder Innovationskraft, dabei an Bedeutung einbüßten, wurde mit Blick auf die Aktienkurse ignoriert oder in Kauf genommen. Sogar der Ur-Zweck einer Unternehmung, die Umwandlung eines potenziellen Bedürfnisses in tatsächliche Nachfrage wurde unter dem Diktat der Finanzmärkte aus dem Fokus gedrängt. Das Hauptaugenmerk lag somit noch vor der Entstehung auf der Verteilung von wirtschaftlicher Leistung.[3] Dabei handelt es sich beim Shareholder Value um eine Kennzahl, der das Management zwar eine gewisse Beachtung schenken muss, ihr sollte jedoch nicht – wie vielerorts geschehen – die gesamte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Selbst der Zusammenbruch der New Economy, welche die substanzlose und auf den Börsenwert gestützte Existenz zelebrierte, konnte die Euphorie um den Shareholder Value zunächst nicht nennenswert einbremsen.

Mit Blick auf die Positionen im Top-Management, zeugen vielerorts auch Personalentscheidungen vom Shareholder-Trend. Wichtige Stellen wurden mit dem Typus Manager besetzt, der relativ moralbefreit weitestgehend in finanziellen Kategorien denkt und das Credo vom Shareholder Value aus Mangel an Wille oder Fähigkeit zur Reflexion bereitwillig übernommen, verbreitet und befolgt hat.[4] Es ist eine Gattung Manager, die sich selbst bei der strategischen Steuerung des Unternehmens stark an Größen aus der Finanzwirtschaft orientiert. Angestachelt von den Erwartungen der Aktionäre verfolgen sie dabei mit riskanten Geschäftsmodellen nach bester, opportunistischer Manier auch ihr eigenes Wohl, da zusätzlich zu ihren Grundgehältern Bonussysteme bestehen, die an die Entwicklung finanzieller Größen, wie dem Aktienkurs, gekoppelt sind.[5] Ein solches Wirtschaftssystem, das sich vordergründig an einem möglichst hohen Gewinnausweis mit entsprechender Verteilung orientiert und im Sinne dieser Orientierung jede Art und Weise des Zustandekommens der Ergebnisse billigt, fördert zwangsläufig fragwürdige Handlungen und den Opportunismus der Manager, die Teil dieses Systems sein möchten oder – mangels einer Alternative – müssen.[6]

Die Orientierung am Shareholder Value führt jedoch nicht nur auf der Managementebene zu einer schlechten Basis für nachhaltiges und verantwortungsvolles Wirtschaften. Schließlich basieren die Abläufe in einem Unternehmen auf einer Verständigung zwischen Managern und Mitarbeitern über gemeinsame Ziele und Werte.[7] Wenn nun die von den Managern verfolgten Unternehmensziele vorrangig an den Interessen der Finanzmärkte orientiert sind, die tendenziell kurzfristige Renditen anstreben, ergibt sich daraus im Normalfall zunächst ein Missverhältnis mit den Interessen der Mitarbeiter, die aus Sicherheitsgründen eher auf eine langfristige, realwirtschaftliche Prosperität bedacht sind. Sobald jedoch die shareholder-orientierten Ziele als solche durchschaut sind, besteht die Möglichkeit, dass auch die Mehrzahl der Mitarbeiter ihr Handeln nach ähnlichen Zielen und Werten ausrichtet. Im schlimmsten Fall droht ein Unternehmen dann durch die kollektive Suche nach kurzfristigen, individuellen Vorteilen auszubluten, wobei zu unterstellen ist, dass jeder Stakeholder umso opportunistischer vorgehen wird, je kurzfristiger sein Interesse ist. Eine Orientierungsgröße für langfristig sinnvolles Wirtschaften sollten somit weder die Interessen der Aktionäre noch die sonstiger Stakeholder darstellen, sondern der Unternehmenszweck an sich. Dies bedeutet auch eine Konzentration auf den Corporate Capitalism noch vor dem Shareholder Capitalism oder Stakeholder Capitalism.[8] Natürlich ist auch unabhängig davon nicht davon auszugehen, dass jeder Mitarbeiter ausschließlich im Interesse des Unternehmens handelt und darauf hofft, dass dies positiv auf ihn zurück fällt.

2.2 Fehlende Orientierung im Neoliberalismus

Der Neoliberalismus fordert die bereits oft zitierte Deregulierung des Marktes und die Gewährleistung eines freien Wettbewerbs. Während eine politische Einflussnahme auf den Markt selbst nicht erwünscht ist, wird nach staatlichen Kontrollen des Wettbewerbs verlangt, um die Versuche der Wirtschaftsteilnehmer, den Wettbewerb beispielsweise durch eine Monopolstellung oder die Errichtung von Kartellen zu umgehen, zu vermeiden.[9] Der Neoliberalismus propagiert die mittlerweile eher negativ konnotierten Prinzipien der Marktradikalität und des (Turbo-)Kapitalismus, basierend auf der Annahme, dass der Markt sich sowohl selbst regeln als auch stärken kann und das persönliche Streben nach materiellem Wohlstand letztlich zum größtmöglichen Wohlstand aller führt. Die individuelle Vorteilssuche ist demnach ein wesentliches Element des neoliberalen Marktes, wenngleich auch versucht wird, sie nicht über ein bestimmtes Niveau wachsen zu lassen.

Hayek, einer der bedeutenden Vertreter des Neoliberalismus, stellte diesbezüglich schon vor mehr als sechzig Jahren die entschuldigende Frage, ob nicht „unser ganzes Streben und Hoffen auf mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand“[10] gerichtet war, als er erkannte, dass sich die menschliche Umsetzung des (Neo-)Liberalismus in einer ausufernden Anspruchshaltung äußert, zu deren Befriedigung auch bestehende Prinzipien aufgegeben werden.[11] Die neoliberale Theorie scheint mit Blick auf den steigenden Opportunismus also verschiedene Schwachpunkte aufweisen. Zum einen wird aufgrund der gewollten Marktradikalität zugleich auch ein bedrohlicheres Klima mit härteren Selektionskriterien im System der Wirtschaft geschaffen. Zum anderen ist es möglich, dass die Bemühungen, den Wettbewerb von sämtlichen institutionellen Regelungen loszulösen, zu gravierenden Unsicherheiten auf Seiten der Anbieter und vor allem Nachfrager führen.

Steigt der Wettbewerbsdruck auf Unternehmen, wie es in einem deregulierten Markt der Fall ist, reagieren die Mitarbeiter darauf mit stärkerem Opportunismus. Scholz beschreibt dieses Phänomen unter dem Begriff Darwiportunismus. Der Markt und Wettbewerb im Neoliberalismus würden nach dieser Theorie einer Umwelt entsprechen, in der die Selektionshärte bzw. die darwinistischen Strukturen besonders stark ausgeprägt sind. In diesem Fall rückt auch die Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Existenz stärker in den Fokus, was auf längere Sicht dazu führt, dass die Wirtschaftsakteure durch einen gesteigerten Opportunismus versuchen, in diesem System bestehen zu können.[12] Zugleich werden Dritte angestachelt, ihre Existenz zu wahren, indem sie den bereits an den Tag gelegten Opportunismus noch übertreffen. Dieses Szenario verspricht unter den gleichen Bedingungen und der völligen Transparenz für alle Marktteilnehmer („homo oeconomicus“) ein vorerst sehr dynamisches High-Performance-System, in dem man andere nur für die kurzfristige Befriedigung eigener Bedürfnisse benötigt. Scholz weist aber auch auf die Gefahr des Integritäts- und Vertrauensverlusts in diesem System hin, die aufgrund des schwachen institutionellen Einflusses ohnehin schon latent über den Akteuren schwebt und sie schlimmstenfalls in völliger Unsicherheit zurücklässt.[13]

Ein ähnliches Bild findet sich auch in der UFO-Falle von Schneider wieder. Er beschreibt in diesem Modell eben jenes Zusammenspiel und die interdependenten Wachstumsspiralen zwischen der Unsicherheit der Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft, bedingt durch die Fäulnis von Institutionen, die sich ihrerseits aus dem wachsenden Opportunismus der Akteure speist.[14] Als Weiterführung der vorigen Überlegungen zum Darwiportunismus, könnte der durch die neoliberalen Bestrebungen angestoßene Opportunismus also eine Art Perpetuum mobile in Gang setzten, welches durch die Fäulnis der Institutionen zunächst größere Unsicherheit[15] erzeugt. Daraus entsteht für die Akteure wiederum die Notwendigkeit, die Unsicherheit durch opportunistische Anpassung zu minimieren, was gegebenenfalls zu einer weiteren Aushöhlung der Institutionen führt, die Unsicherheit für andere erhöht usw. Aus einer (selbstverschuldeten) Opferrolle in einer Umwelt mit mannigfaltigen Selektionskriterien heraus werden die Akteure zu Tätern in dem sie sich opportunistisch auf eben diese Umwelt einstellen. Schneider vertritt die Auffassung, dass eine Unterscheidung zwischen Täter und Opfer scheinbar nicht einmal mehr möglich ist.[16] Um die Kettenreaktion zu unterbrechen, wäre es dementsprechend eine Lösungsmöglichkeit, die institutionelle Regulierung zu verstärken und den Wettbewerb etwas weniger radikal zu gestalten.

3. Wirtschaftsakteure auf Orientierungssuche

Der Gedanke der Liberalisierung beschränkt sich nicht allein auf das System der Wirtschaft. Er durchdringt in ähnlicher Form fortwährend mehr Lebensbereiche und führt zu einem Aufbrechen allgemeingültiger Werte und Leitbilder. Für den Mensch – egal ob nun Akteur in der Wirtschaft oder Gesellschaft – bringt eben jenes Verschwinden allgemeingültiger Leitbilder jedoch nicht nur die Freiheit, sondern auch den Zwang mit sich, nach neuen Orientierungspunkten für sein Dasein zu suchen. Paradoxerweise besteht so trotz – oder wegen – der Liberalisierung bei der Wahl von Beruf, Religion, politischer Einstellung, Freizeitbeschäftigungen und Familienform die Gefahr, dass die Individuen in der Wirtschaft wie in der Gesellschaft mangels gemeinsamer Identifikationsmöglichkeiten entweder vereinsamen oder sich zu einer Kultur bekennen, in der Abgrenzungs- und Zugehörigkeitsbestrebungen nur noch auf materieller Ebene stattfinden.[17]

Betrachtet man hierzu die Untersuchungen von Maslow, welche die Suche nach Befriedigung der Zugehörigkeits- und Anerkennungsbedürfnisse – die wiederum höchst opportunistisch ablaufen kann – als im Menschen fest verankert beschreiben, ist davon auszugehen, dass der Mensch normalerweise versuchen wird, eine Vereinsamung letztlich zu vermeiden.[18] Neben der falschen Orientierung am Shareholder Value könnte es somit vor allem die Desorientierung die von der (Neo-)Liberalisierung ausgeht sein, die die Wirtschaftsakteure zu der Suche nach neuen (materiellen) Orientierungsgrößen zwingt, an denen sie ihr Handeln ausrichten können. In der Regel kommt dem Führungspersonal bzw. der jeweils nächst höheren hierarchischen Instanz eine Vorbildfunktion zu, welche für diese Orientierung sorgen soll. Gleichzeitig werden Menschen auch von anderen auf der gleichen hierarchischen Ebene beeinflusst.

3.1 Relative Deprivation

Die relative Deprivation greift die Theorie auf, dass sich Menschen stark an anderen in ihrer direkten Umgebung orientieren. Sie befasst sich mit sozialen Verhaltensmustern im Zusammenleben von Menschen, die sich aus dem Streben nach Status und Anerkennung – oder nach Maslow der Befriedigung der Zugehörigkeits- und Anerkennungsbedürfnisse – ableiten lassen. Runciman bringt die Bedeutung der relativen Deprivation mit einer einfachen Aussage auf den Punkt: „If A, who does not have something but wants it, compares himself to B, who does have it, then A is relatively deprived with reference to B.“[19] Das Konzept der relativen Deprivation befasst sich speziell mit möglichen Beschreibungen des Anreizes, die eigene relative Position in einem hierarchisch gegliederten sozialen Umfeld zu verbessern. Die Suche nach Orientierung äußert sich hier also in einem sozialen Vergleichsprozess, aus dem subjektive Missempfindungen hervorgehen.[20]

Im Zusammenhang mit opportunistischen und kriminellen Handlungen in der Wirtschaft, ist vor allem die Relativität des Konzepts von Bedeutung, da die Deprivation ausschließlich im Vergleich mit dem Standard bzw. Status einer ausgewählten Bezugsperson oder -gruppe empfunden wird. Der in der deutschen Sprache kaum gebräuchliche Begriff Deprivation kann dabei zunächst als Mangel, Verlust oder Entzug eines erwünschten Gutes, Merkmals oder einer Gelegenheit (materiell wie immateriell) übersetzt werden. Im weiteren Sinne kann man darunter auch Unmut, Unzufriedenheit, Frustration, Neid und Ungerechtigkeit verstehen. Für das Ausmaß der relativen Deprivation ist die Auswahl der Bezugsgruppe relevant.[21] Die Vergleichsmöglichkeiten für eine Person sind nahezu unbegrenzt, somit ist theoretisch jede denkbare Bezugsgruppe als Relation möglich, wenngleich utopisches Wunschdenken zu vermeiden und eine gewisse soziale Nähe zu bedenken ist.[22]

Im Unternehmensumfeld ist zu unterstellen, dass sich die meisten Mitarbeiter entlang der Hierarchieleiter an höher oder vermeintlich besser gestellten Mitarbeitern orientieren und nach Möglichkeiten suchen, zu ihnen aufzuschließen. Dieses Streben kann sich für das Unternehmen sehr positiv äußern, wenn der Mitarbeiter z.B. versucht, ein Mangelempfinden durch gesunden Ehrgeiz auszugleichen. Genauso ist allerdings auch ein aufkeimender Opportunismus unter einzelnen Belegschaftsmitgliedern möglich, besonders wenn diese sich durch ihre Arbeit frustriert oder ungerecht behandelt fühlen. In einer solchen Situation setzen zusätzlich oft kognitive Mechanismen das gewissenhafte, innere Urteilsvermögen durch Vorspiegelung von Legitimationsgründen außer Kraft. Eine ausführlichere Schilderung dieses Phänomens ergibt sich aus dem Prinzip des Fraud Triangle.

3.2 Fraud Triangle

Das Modell des Fraud Triangle skizziert das Zustandekommen von kriminellen oder objektiv moralisch verwerflichen Handlungen. Ihm zufolge sind drei wesentliche Elemente – die Gelegenheit zur Tat, die innere Rechtfertigung dafür und die Motivation des Täters an sich – ausschlaggebend für solche Handlungen. Sowohl die Motivation als auch die Rechtfertigung stehen im Zusammenhang mit der relativen Deprivation. Die Motivation ist auch hier zunächst wieder die subjektive Empfindung eines Mitarbeiters, im Vergleich mit einem Dritten unverschuldet benachteiligt zu sein. Obwohl es sich bei den Tätern meist um gut gebildete Personen handelt, die durchaus mit ethischen Wertvorstellungen ausgestattet sind (siehe auch Kapitel 4.1), begehen sie eine rechtswidrige Tat, um die augenscheinliche Benachteiligung auszugleichen. Wichtig ist dabei nur, dass sie diese Tat vor sich selbst rechtfertigen können. Diebstahl oder die Annahme von Bestechungsgeldern ist oft die Reaktion auf eine ungerecht empfundene Bezahlung. Als Legitimation dient der Gedanke, dass „man sich ja nur nehme, was einem zusteht“ oder die Bestechung „aufgrund der Generierung von Aufträgen schließlich im Sinne des Unternehmens angenommen habe“.[23] Ein typisches Beispiel für hohe Fraud-Anfälligkeit ist auch die variable Vergütung von Managern in Abhängigkeit von kurzfristig beeinflussbaren Bilanzkennzahlen; opportunes Verhalten lässt sich hier leicht durch die Interessen der Shareholder rechtfertigen.[24]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Fraud Triangle; vgl. Behringer (2011), S. 43.

Während Motivation und Rechtfertigung Elemente sind, die eher in der Person des Täters liegen, ist die Gelegenheit zur Tat auf äußere Umstände zurück zu führen. Wenn strukturelle Lücken im Kontrollsystem oder eine dementsprechende laissez faire Mentalität des Führungspersonals vorhanden und auch bekannt sind, ist die Gelegenheit gegen Regeln zu verstoßen naturgemäß besonders groß.[25] Hier ist es die Aufgabe der Unternehmensleitung, dem Opportunismus der Mitarbeiter verbindliche Orientierungsgrößen entgegenzustellen, was in Form der Compliance, die in Kapitel fünf und sechs vorgestellt wird, geschehen kann.

4. Wirtschaftskriminalität als Folge des Opportunismus

Bei der Suche nach theoretisch vorhandenem Optimierungspotenzial, drohen die opportunistischen Versuche dies auszuschöpfen des Öfteren auszuufern. Die aktuelle Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers und der Universität Halle-Wittenberg zur Wirtschaftskriminalität legt diesen Schluss nahe. Untersucht wurde die Wirtschaftskriminalität, mit der sich deutsche Unternehmen konfrontiert sehen. Sicherlich ist nicht jede opportunistische Handlung automatisch rechtswidrig, wenn auch die Definition von Opportunismus im wirtschaftlichen Kontext von einem Nachteil für ein Unternehmen ausgeht.[26] Andererseits erschließt sich ein Wirtschaftsdelikt in ganzem Ausmaß oft nicht in der Art von selbst, wie es beispielsweise bei einem Gewaltverbrechen der Fall wäre.[27] Während also ziemlich klar sein dürfte, dass sich die wenigsten versehentlich opportunistisch verhalten, sondern bewusst, ist dagegen fraglich, ob sie ihr Handeln und die Folgen daraus stets objektiv einschätzen können. Zumindest die in den vorangegangen Kapiteln geschilderten Umstände lassen dies nicht vermuten.

4.1 Typisches Täterprofil

Die deutliche Mehrzahl aller Wirtschaftsverbrechen wird von Mitarbeitern des betroffenen Unternehmens oder externen Tätern mit zumindest engen Verbindungen zu diesem begangen. Die in der Studie befragten Unternehmen gaben an, dass in 67% der Fälle eigene Angestellte Initiatoren oder Komplizen waren, während von den verbleibenden 33% der ausschließlich externen Täter lediglich 24% Personen ohne jegliche Geschäftsbeziehung waren. Der interne Manager oder Mitarbeiter, der in Straftaten verwickelt ist, befindet sich in gehobener Position, ist durchschnittlich zwischen 31 und 50 Jahre alt und schon seit mehreren Jahren im Unternehmen angestellt.[28]

Da der Anteil der Täter mit keinerlei Verbindung zum Unternehmen lediglich knapp acht Prozent beträgt, besteht aus Sicht der Unternehmen die sehr gute Möglichkeit, auf die meisten Verursacher direkt oder indirekt präventiv einzuwirken. Bussmann, der auch an der Durchführung der Studie beteiligt war, erkennt in der Sozialisation der Mitarbeiter durch die Bereitstellung einheitlicher und verbindlicher Orientierungsgrößen eine große Chance, opportunistisches oder wirtschaftskriminelles Verhalten zu unterbinden. Auch wenn natürlich die Familie, Freunde oder Ausbildung die individuelle Einstellung und Wertehaltung enorm prägen, komme insbesondere bei Wirtschaftsstraftätern die um die 40 Jahre alt sind dem Unternehmen eine wesentliche Rolle bei der Normensozialisation zu (siehe dazu auch Punkt 3.1 „Relative Deprivation“).[29]

[...]


[1] Vgl. Malik (2002), S. 59.

[2] Vgl. Schneider (2009), S. 210.

[3] Vgl. Drucker (2005), S. 36 f.; Malik (2008), S. 15-20.

[4] Vgl. Malik (2008), S. 41 ff.

[5] Vgl. Malik (2008), S. 19.

[6] Vgl. Sinn (2009), S. 2; Malik (2008), S. 58-60,

[7] Vgl. Drucker (2005), S. 28.

[8] Vgl. Malik (2002), S. 34.

[9] Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon.

[10] Hayek (2003), S. 28.

[11] Vgl. Hayek (2003), S. 39.

[12] Vgl. Scholz (2003), S. 131 f.; Steber (2011), S. 14.

[13] Vgl. Scholz (2003), S. 91 f.; Steber (2011), S. 18 f.

[14] Vgl. Schneider (2009), S. 210-214.

[15] Unsicherheit soll hier als Unwissenheit darüber verstanden werden, ob man sich im Vergleich mit einem anderen Marktteilnehmer momentan im Vor- oder Nachteil befindet (etwa ob ein Konkurrent Bestechungsgelder vergibt, Kartell- oder Lobbyarbeit betreibt usw.).

[16] Vgl. Schneider (2009), S. 210.

[17] Vgl. Rosa/Strecker/Kottmann (2007), S. 21 f.

[18] Vgl. Maslow (1992), S. 37-51; Steber (2011), S. 8-10.

[19] Runciman (1993), S. 10.

[20] Vgl. Schmidt (2008), S. 11.

[21] Vgl. Schmidt (2008), S. 12.

[22] Vgl. Runciman (1993), S. 10.

[23] Vgl. Behringer (2011), S. 42 f.

[24] Vgl. Bonenberger (2009), S. 420 f.

[25] Vgl. Behringer (2011), S. 42 ff.

[26] Vgl. Kauth (2007), S. 70.

[27] PricewaterhouseCoopers (2011), S. 63.

[28] Vgl. PricewaterhouseCoopers (2011), S. 62.

[29] Vgl. PricewaterhouseCoopers (2011), S. 63, zit. nach Bussmann, K.-D.: Sozialisation im Unternehmen durch Compliance, in: Schröder, C./Hellmann, U. (Hrsg.), Festschrift für Hans Achenbach, 2011, S. 67 ff.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Compliance als Versuch für die Eindämmung des individuellen Opportunismus im Unternehmen
Hochschule
Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
38
Katalognummer
V196199
ISBN (eBook)
9783656221807
Dateigröße
1009 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Compliance, Shared Value, Wirtschaftskriminalität, Shareholder, Capitalism, Neoliberalismus, Opportunismus, Dekonstruktion, CSR, Relative Deprivation
Arbeit zitieren
Manuel Steber (Autor:in), 2012, Compliance als Versuch für die Eindämmung des individuellen Opportunismus im Unternehmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196199

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