Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
II Armut
II.I Ressourcenansatz
II.II Lebenslagenansatz
II.III Capability-Ansatz
II.IV Armut und Armutsmessung bei Kindern
III Die Reproduktion sozialer Lagen nach Pierre Bourdieu
III.I Kapital
III.II Habitus
III.III Habitus und Kapital im sozialen Raum
IV Kinderarmut in Deutschland
IV.I Ursachen von Armutslagen bei Kindern
IV.II Armut und Lebenschancen
V Zur Reproduktion von Armutslagen in Deutschland
V.I Kapital
V.II Habitus
V.III Politische Rahmenbedingungen
VI Armut und Lebenschancen – eine abschließende Betrachtung
VII Literaturverzeichnis
I Einleitung
Kinderarmut galt in Deutschland lange Zeit als unbedeutendes Randphänomen. Ausgelöst durch wirtschaftliche und soziale Umbruchprozesse lässt sich jedoch seit Beginn der 90er Jahre ein Auseinanderdriften der Gesellschaft beobachten, in dessen Verlauf breite Teile der heranwachsenden Bevölkerung als Modernisierungsverlierer zurückbleiben. Diese Entwicklung hat den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs um Chancengerechtigkeit erneut entfacht. Inspiriert davon erschienen innerhalb der letzten Jahre eine Reihe von Studien, die sich explizit mit dem Phänomen der Kinderarmut auseinandersetzen[1]. Diese liefern ein detailliertes Bild der Auswirkungen von Armutslagen auf die aktuellen Lebensbedingungen und Verwirklichungschancen von Kindern. Unklar bleibt jedoch, ob hierbei auch von einer intergenerationalen Verfestigung von Armutsstrukturen zu sprechen ist. Die vorliegende Arbeit widmet sich daher der Frage, inwieweit Kinderarmut in Deutschland, in Anlehnung an Pierre Bourdieu, als spezifische Reproduktionsform sozialer Lagen verstanden werden kann. Ziel ist es dabei aufzuzeigen, welche individuellen und institutionellen Mechanismen eine sogenannte Vererbung von Lebenschancen begünstigen.
Da die Forschung momentan über keinen allgemein anerkannten Armutsbegriff verfügt (vgl. dazu u.a. Beisenherz 2002, Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008, Leßmann 2006), erscheint es notwendig, zunächst die gängigsten Armutskonzepte zu erläutern, um dann auf die Besonderheiten der Definition und Messung von Armut bei Kindern einzugehen. An diesen ersten theoretischen Teil schließt sich eine kurze Erläuterung von Pierre Bourdieus Theorie der Reproduktion sozialer Lagen an. Hierbei werden die zentralen Begriffe Habitus, Kapital und sozialer Raum definiert und in ihren Zusammenhängen dargestellt, um sie später auf Armutslagen von Kindern in Deutschland anwenden zu können.
Zur Einführung in die aktuelle Lage folgt dann eine knappe Darstellung der Situation armer Kinder in Deutschland. Eine ausschließliche Betrachtung der Einkommenssituation reicht hier nicht aus, da es sich bei Armut um ein multidimensionales Phänomen handelt, das in verschiedenste Lebensbereiche hinein wirkt. Es werden daher die Ausprägungen und Folgen von Unterversorgungen in den zentralen Dimensionen materielle Versorgung, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Freizeit und soziale Integration überblicksartig dargestellt.
An diese Momentaufnahme der Armutssituation schließt sich in logischer Folge die Betrachtung langfristiger Wirkungsmechanismen an. Unter Rückgriff auf Bourdieus theoretisches Fundament werden hierbei spezifische Habitusformen und Ressourcenverhältnisse aufgezeigt, die eine Reproduktion von Armutslagen befördern könnten. Eine vollkommene Verlagerung der Ursachen von Armutskarrieren auf die individuelle Ebene würde dabei der Realität jedoch nicht gerecht werden. Vielmehr führt erst die Interaktion der Betroffenen mit gesellschaftlichen Institutionen, wie dem Bildungs- oder Sozialsystem, zur Entstehung von Bedingungen, welche eine Verfestigung multipler Deprivationen hervorrufen können. Abschließend wird Bourdieus Ansatz daher durch empirische Erkenntnisse bezüglich der Einflussnahme staatlicher Sozialpolitik ergänzt.
II Armut
Armut ist ein kontrovers diskutierter Begriff, für den bisher keine umfassende und allgemein anerkannte Definition existiert (Hock 2000: 19). Konsens herrscht lediglich darüber, dass Armut generell als Mangellage zu verstehen ist. Unterschieden werden kann hierbei zwischen absoluter und relativer Armut. Erstere beschreibt einen, die physische Existenz bedrohenden, Mangel an lebenswichtigen Gütern wie Essen, Kleidung, Wohnung und medizinischer Betreuung. Von relativer Armut ist dann die Rede, wenn die Betroffenen ein, am Lebensstandard der jeweiligen Gesellschaft orientiertes, soziokulturelles Existenzminimum unterschreiten (Axhausen 2002: 36). Da absolute Armut in westlichen Industrieländern nur noch in Einzelfällen auftritt, rückt die relative Armut in den Fokus der Aufmerksamkeit. Dies spiegelt sich beispielsweise im Ratsbeschluss der EG zum Armutsbegriff vom 19. Dezember 1984 wider:
„Als verarmt sind jene Einzelpersonen, Familien und Personengruppen anzusehen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum anwendbar ist.“ (Rat der Europäischen Union 1984: 25)
Armut ist ein “lebensweltliches, kontextabhängiges und stets interpretationsbedürftiges Phänomen” (Beisenherz 2002: 294), das nur innerhalb seines Kontextes bewertet werden kann. Dabei spielen sowohl sachliche Aspekte, wie z.B. die Lebenshaltungskosten, die Verfügbarkeit wohlfahrtsstaatlicher Leistungen oder das lebensweltliche Umfeld, als auch deren zeitliche Entwicklung eine Rolle[2]. Gleiches gilt für die subjektive Bewertung von Armutslagen. Wie stark Armut bewusst ist und als ungerecht empfunden wird, hängt nicht nur von der persönlichen Lage der Betroffenen, sondern auch von der gesamtgesellschaftlichen Situation ab[3]. Ebenso ist jede Armutsdefinition untrennbar mit den Werten und Zielen ihrer Urheber verbunden. Dies gilt in besonderem Maße für die Festlegung von Armutsgrenzen, da diese weder in absoluter noch in relativer Form ohne normative Vorgaben auskommt (Hock 2000: 20). So streben Wissenschaftler beispielsweise nach einem Höchstmaß an Präzision in der Beschreibung des Phänomens Armut, während Politiker eher praktische Implikationen in den Vordergrund rücken[4]. Hieraus ergibt sich eine Fülle verschiedener, auf spezielle Ziele und Hintergründe ausgerichteter Armutsdefinitionen. Die Komplexität des Armutsbegriffes und sein normativer Charakter tragen somit maßgeblich dazu bei, dass eine universale Armutsdefinition zum heutigen Zeitpunkt noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Im Folgenden sollen daher die gängigsten Armutskonzepte kurz erläutert werden, um dann auf die Besonderheiten der Definition und Messung von Armut bei Kindern einzugehen.
II.I Ressourcenansatz
Der Ressourcenansatz betrachtet die Einkommenslage als grundlegendes Kriterium der Armutsbestimmung. Einkommensarmut liegt dann vor, wenn eine bestimmte Einkommensschwelle unterschritten wird. Der Armutsbegriff wird hierbei bewusst auf eine Dimension verkürzt, um eine einfache und vergleichbare Datenerhebung zu ermöglichen. Er findet daher sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft häufig Anwendung. Die Einkommensschwelle kann dabei auf verschiedene Weise festgelegt werden. Wissenschaftler greifen oft auf gesellschaftsspezifische Warenkörbe zurück, welche den Mindestbedarf einer Person oder eines Haushaltes zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebens umfassen. Geläufig ist auch die Orientierung am Durchschnittseinkommen der jeweiligen Gesellschaft. In Deutschland gilt danach als arm, wer weniger als 50% des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. Die politische Armutsgrenze orientiert sich am Sozialhilfesatz, einem auf Basis von Warenkörben festgelegten und an den Rentenwert gekoppelten staatlichen Existenzminimum (Hock 2000: 22). Kritisch ist hierbei anzumerken, dass beide Vorgehensweisen stark an die Wohlfahrtsentwicklung der Gesellschaft gekoppelt sind und nur ungenügend auf die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Gruppen eingehen[5]. Auch ignoriert eine Verkürzung des Armutsbegriffes auf die materielle Versorgung die Kontextrelativität von Armutslagen.
II.II Lebenslagenansatz
Lebenslagenkonzepte greifen die Schwäche des Ressourcenansatzes auf, indem sie das verfügbare Einkommen in Relation zu weiteren Lebensbereichen setzen. Die Grundlagen dieses Ansatzes wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von Otto Neurath entwickelt und später u.a. durch Gerhard Weisser konkretisiert. Als Kerndimensionen gelten hierbei Arbeit, Bildung, Wohnung, Gesundheit, soziale Teilhabe und subjektives Wohlbefinden (Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008: 128). Die Versorgungslage in den einzelnen Dimensionen, sowie deren Zusammenspiel bestimmen die spezifische Lebenslage einer Person. Diese beschreibt Weisser als den
„Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die er bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung als bestimmend für den Sinn seines Lebens ansieht.“ (Leßmann 2006: 33)
Von Armut ist folglich dann die Rede, wenn dieser Spielraum aufgrund einer Unterversorgung in mehreren Kerndimensionen nicht mehr gegeben ist[6]. Armut erscheint dadurch erstmals als multidimensionales Phänomen. Gerade darin liegt jedoch auch die große Schwäche des Ansatzes. Der Handlungsspielraum ist durch die Vielfalt an betrachteten Lebensbereichen nicht offen erkennbar, sondern muss konstruiert werden. Auch erschwert die gesteigerte Komplexität eine klare Festlegung von Armutsgrenzen (Leßmann 2006: 39).
II.III Capability-Ansatz
Mit seinem capability -Ansatz erweitert Amartya Sen das Lebenslagenkonzept um den Faktor der individuellen Nutzbarmachung von Ressourcen. Er betrachtet Armut als Mangel an fundamentalen Verwirklichungschancen, d.h. an jenen „substantiellen Freiheiten, die es ihm [dem Menschen; Anm. RR] erlauben, ein mit Gründen erstrebtes Leben zu führen.“ (Sen 2000: 110) Als grundlegende Bestimmungsgrößen des individuellen Potentials an realisierbaren Lebensentwürfen (capability set) identifiziert er dabei einerseits die Ausstattung mit finanziellen (Einkommen und Vermögen) und nicht-finanziellen Ressourcen (z.B. Gesundheit oder Bildung). Andererseits haben jedoch auch die gesellschaftlich bedingten instrumentellen Freiheiten, welche sowohl an den politischen und sozialen Chancen, als auch am durch den Staat gewährleisteten ökologischen und sozialen Schutz zu messen sind, einen entscheidenden Einfluss (Arndt/Volkert 2006: 11). Einkommen bildet somit zwar die Grundressource individueller Lebenschancen, diese können jedoch erst durch dessen Umsetzung in konkrete Tätigkeiten und Kompetenzen (functionings) verwirklicht werden. Dieser Transformationsprozess wird durch gesellschaftliche und persönliche Faktoren beeinflusst[7]. Das Wohlergehen einer Person steigt mit der Anzahl und subjektiven Qualität tatsächlich erreichbarer Lebenssituationen (Sen 2000: 162-163). Für die Praxis ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass Armut nur dann erfolgreich beseitigt werden kann, wenn neben der materiellen Versorgung auch die Nutzbarmachung der Ressourcen abgesichert wird.
II.IV Armut und Armutsmessung bei Kindern
Kinderarmut fand in der Armutsforschung lange Zeit kaum Beachtung. Erst durch die breite öffentliche Diskussion über Kinderrechte und Kindeswohl in den 90er Jahren und den dadurch ausgelösten Paradigmenwechsel in der Politik, in Folge dessen Kinder erstmals den Status eines souveränen Rechtssubjektes erhielten, wurde sie auch von der Wissenschaft als eigenständiges Problemfeld anerkannt (Hock 2000: 19). Trotzdem gibt es bis heute nur sehr wenige Erhebungen, die Kinder gezielt als Subjekt von Armutslagen betrachten. Noch immer greift man für die Bestimmung von Kinderarmutsquoten auf das Einkommen oder den Sozialhilfebezug der Familie zurück. Dabei bleiben die tatsächliche Mittelverteilung und die daraus resultierende Versorgungslage der Kinder jedoch unbeachtet (Butterwegge/ Klundt/Belke-Zeng 2008: 127-128). Ebenso verschleiert die Verkürzung des Armutsbegriffes auf eine Dimension die Tatsache, dass neben der materiellen Versorgung noch eine Vielzahl anderer Einflussfaktoren die konkrete Lebenssituation von Kindern bestimmt. Dazu gehören u.a. die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Lebenssituation der Familie, das private Umfeld, sowie das Angebot an professioneller Unterstützung (Hock 2000: 30).
Einen ersten eigenständigen Ansatz zur Bestimmung von Armut bei Kindern bieten die u.a. von Beate Hock und Gerda Holz durchgeführten ISS-AWO-Studien zu Armut und Zukunftschancen von Kindern in Deutschland. Diese unterscheiden unter Rückgriff auf den Lebenslagenansatz fünf verschiedene potentielle Unterversorgungsbereiche, wobei die materielle Situation der Familie die Grunddimension darstellt. Neben ihr werden auch der Zugang des Kindes zu grundlegenden materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen, sowie dessen körperliches und seelisches Wohlbefinden betrachtet. Die jeweiligen Lebenslagen in den Einzeldimensionen werden schließlich zu einem System von Lebenslagentypen zusammengefasst, welches zwischen Wohlergehen, der Unterversorgung in einer Dimension (Benachteiligung) und der Unterversorgung in mehreren Dimensionen (multiple Deprivation) differenziert. Von Kinderarmut wird jedoch erst dann gesprochen, wenn neben der Unterversorgung in mindestens einer Lebensdimension auch eine Einkommensarmut der Familie vorliegt (Holz 2008: 484-485). Dieses Konzept trägt zwar der Multidimensionalität des Armutsphänomens Rechnung, beachtet jedoch noch nicht, inwieweit die vorhandenen Ressourcen von den Kindern auch genutzt werden können.
Für die folgenden Ausführungen soll Kinderarmut deshalb in Anlehnung an Sens capability -Ansatz als Mangel an Verwirklichungschancen definiert werden, welcher sowohl auf einer Unterversorgung an materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen, als auch auf der fehlenden Möglichkeit ihrer Nutzbarmachung durch die Kinder beruhen kann.
III Die Reproduktion sozialer Lagen nach Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu vertritt mit seiner Theorie der sozialen Ungleichheit die These, dass sich soziale Lagen in allen Gesellschaften über die Generationen hinweg reproduzieren. Ursachen dafür sind die unterschiedliche Ausstattung der Menschen mit Ressourcen und ihr klassenspezifischer Habitus, welche die Verwirklichung von Lebenschancen an die soziale Herkunft des Einzelnen koppeln. Im Folgenden sollen daher die Kernkonzepte von Kapital, Habitus und sozialem Raum, sowie deren Einfluss auf die Reproduktion sozialer Lagen dargestellt werden.
III.I Kapital
Bourdieu führt die soziale Stellung eines Menschen vor allem auf seine verfügbaren Ressourcen zurück. Er unterscheidet dabei zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Während das ökonomische Kapital am geldwerten Vermögen einer Person gemessen wird, umfasst das kulturelle Kapital alle sozial vererbten Kulturgüter und Ressourcen. Diese können in objektivierter Form (z.B. Bücher, Kunstwerke oder Artefakte) oder inkorporiert, als selbst angeeignetes Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, auftreten (Bourdieu 2005: 55-59). Die entscheidenden Verinnerlichungsprozesse kulturellen Kapitals finden während der Primärsozialisation in der Familie statt, sodass Bildungskapital immer entsprechend der sozialen Herkunft erworben wird (Bourdieu 1987: 180). Besonders das Erlernen der Aneignungsmechanismen selbst ist dabei von entscheidender Bedeutung für die Erschließung der kulturellen Güter (Bourdieu 2005: 58). Da inkorporiertes kulturelles Kapital für Außenstehende nur schlecht zu bewerten ist, kann es durch die Institutionalisierung in Bildungstiteln vergleichbarer gemacht werden. Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu all jene Chancen, die sich aus den Beziehungsnetzwerken einer Person und ihrer sozialen Herkunft ergeben (Bourdieu 2005: 61-64). In der Gesellschaft herrscht ein ständiger Kampf um die Verteilung und Wertbemessung der einzelnen Kapitalsorten. Diese sind prinzipiell ineinander konvertierbar, wobei das genaue Tauschverhältnis jedoch kontextabhängig ist. Oberstes Ziel aller Beteiligten ist, so Bourdieu, die Umwandlung ihrer Ressourcen in symbolisches Kapital, d.h. Ansehen, um den sozialen Status langfristig zu sichern (Bourdieu 2005: 209-210).
III.II Habitus
Die gesellschaftliche Lage einer Person spiegelt sich nach Bourdieu nicht nur in ihrem verfügbaren Kapital, sondern auch in ihr selbst wieder. So werden die äußeren Lebensbedingungen im Laufe der Sozialisation zu einem inneren Dispositionssystem, einer Art inkorporierten Sozialstruktur, umgewandelt (Bourdieu 1987b: 101-102). Dieser sogenannte Habitus besteht einerseits aus klassenspezifischen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Denkschemata mit deren Hilfe die Umwelt klassifiziert wird, bietet andererseits jedoch auch ein Repertoire an konkreten Handlungsmustern (Bourdieu 1987: 280). Er setzt dadurch einen Rahmen des sozial Möglichen und Logischen, innerhalb dessen sich Individuen frei bewegen können (Bourdieu 1987b: 103-104). Die Persönlichkeit bildet dabei eine Variante des klassenspezifischen Habitus, welche durch individuelle Erfahrungen und Lebensverläufe gekennzeichnet ist (Bourdieu 1987b: 113). Im Rahmen der gesellschaftlichen Interaktion wirkt der Habitus als sozialer Selbstverortungssinn (sens pratique), mit dessen Hilfe die Akteure quasi instinktiv erkennen, welches Verhalten ihrer sozialen Position angemessen ist (Bourdieu 1987b: 108). Nach außen zeigt sich der Habitus in der individuellen Hexis, d.h. in Sprache, Haltung oder Bewegung, und wird damit wiederum zur Basis der Klassifikation durch Dritte (Bourdieu 1987b: 135-136). So ist er nicht nur ein Produkt der sozialen Lage (opus operatum), sondern trägt durch die Strukturierung der menschlichen Praxis (modus operandi) auch zu ihrer Reproduktion bei (Bourdieu 1987: 281).
III.III Habitus und Kapital im sozialen Raum
Jeder Einzelne nimmt durch seine objektiven Lebensbedingungen und seinen Habitus eine bestimmte soziale Position ein. Bourdieu verdeutlicht dies, indem er die einzelnen Akteure anhand des Umfangs und der Art ihres Kapitals, sowie ihrer sozialen Laufbahn in einem fiktiven sozialen Raum positioniert (Bourdieu 1987: 195-197, 206). Die soziale Laufbahn stellt dabei ein dynamisches Element dar, welches die Entwicklung des individuellen Kapitalvolumens im Laufe des Lebens berücksichtigt. Die Stellung des Einzelnen ergibt sich erst in Relation zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Den verschiedenen Positionen sind dabei spezifische Berufe und Lebensstile zugeordnet (Bourdieu 1987: 214).
[...]
[1] Hierzu gehören z.B. die Unicef-Studie Child Poverty in rich Nations aus dem Jahr 2000 (Unicef 2000) und die ISS-AWO-Studie Lebenslagen und Chancen von Kindern in Deutschland aus dem Jahr 2006 (Holz 2006). Auch der 2008 zu dritten Mal erschienene Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung thematisiert Kinderarmut in einem gesonderten Kapitel (BMAS 2008).
[2] So können Veränderungen in der Einkommens- oder Kostenstruktur die offizielle Armutsquote beeinflussen, ohne dass dies Auswirkungen auf die Lage der Armen selbst hätte (Beisenherz 2002: 317-318).
[3] Untersuchungen in Großbritannien belegen, dass Armut von Kindern umso weniger als belastend wahrgenommen wird, je höher die nationale Kinderarmutsquote ist (Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008: 162). Diese Erkenntnisse lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen jedoch nicht direkt auf andere Länder übertragen und müssten daher für Deutschland gesondert nachgewiesen werden.
[4] Brown und Corbett identifizieren hierbei fünf mögliche Anwendungsnutzen des Armutsbegriffs - descriptive use, monitoring use, goal setting use, accountability use und evaluative use – welche je nach Verwendungszusammenhang in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten (Beisenherz 2002: 344).
[5] Kommt es z.B. durch den Ausbau des Niedriglohnsektors zu einer Abnahme des Durchschnittseinkommen, so reduziert sich statistisch gesehen auch die Armut, ohne dass dies jedoch einen Einfluss auf die Lage der Personen hätte. Ebenso können spezifische Bedürfnisse von einzelnen Bevölkerungsgruppen, wie z.B. jungen Familien oder Behinderten, bei der Zusammenstellung von Warenkörben nicht ausreichend berücksichtigt werden (Hock 2000: 22-23). Die Problematik der Armutsmessung ist ein zentrales Thema der Armutsforschung. Eine umfassende Darstellung hierzu bietet u.a. das von Walter Krämer im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellte Gutachten Statistische Probleme bei der Armutsmessung (Krämer 1997).
[6] So definiert Butterwegge Armut in Anlehnung an Weissers Lebenslagenansatz als „kumulative Unterversorgung in mindestens zwei von vier zentralen Lebensbereichen,“ wobei er von den Kerndimensionen Arbeit, Bildung, Wohnung und Gesundheit ausgeht (Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008: 136-137).
[7] Zu den gesellschaftlichen Umwandlungsfaktoren zählen u.a. der Lebensstandard und die Lebenshaltungskosten. Als persönliche Umwandlungsfaktoren sind besonders Alter und Geschlecht, Bildung und Gesundheit von Bedeutung (Sen 2000: 111-112).