1. Einleitung
Märchen (mittelhochdeutsch Maere = „Kunde, Bericht, Nachricht“) gehören zur Literaturgattung der Epik. Im etymologischen Wörterbuch ist der Märchenbegriff folgend beschreiben: „Erzählung (ohne Bindung an historische Personen oder an bestimmte Örtlichkeiten), phantastische Dichtung; erfundene Geschichte, Lüge. Das seit dem 15. Jh. bezeugte Wort ist eine Verkleinerungsbildung zu dem heute veralteten Substantiv Mär(e).“ Märchen finden sich zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieser Welt. Eine wichtige Rolle spielten die Märchen für die Entwicklung des Nationalbewusstseins und der
Nationalliteraturen. Vor allem in der Romantik wurden zahlreiche Sammlungen von Volksmärchen angelegt. Hier ragen die Volksmärchen der Deutschen von J.K.A. Musäus aus den Jahren 1782/87 heraus. Zu erwähnen ist auch Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch von 1845. Märchen können nach Typen unterschieden werden. Bei Volksmärchen lässt sich kein bestimmter Urheber feststellen. Die mündliche Weitergabe war für lange Zeit die ausschließliche Form der Überlieferung. Dennoch hat auch die schriftliche Überlieferung seit ihren Anfängen auf die traditionelle mündliche Erzählweise mit
eingewirkt. Denn schon im Mittelalter fanden Märchen Eingang in die Literatur und wurden aus den verschiedensten Gründen schriftlich festgehalten. Mit der Möglichkeit des Drucks in der Neuzeit hat die schriftliche Verbreitung naturgemäß eine größere Position eingenommen.
Aufgrund der mündlichen Erzähltradition besitzt das Volksmärchen keine konstante Form. Vielmehr tritt es in zahlreichen und teils sehr unterschiedlichen Varianten auf. Die ältesten europäischen Volksmärchensammlungen stammen von Giovanni Francesco Straparola
(Ergötzliche Nächte, 1550), Giovanni Battista Basile (Pentameron, 1634) und Charles Perrault (1696/97). Weltgeltung erlangt haben aber insbesondere die 1812 veröffentlichten Kinder und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Zum Typ der Volksmärchen ist auch die orientalische Sammlung „Tausendundeine Nacht“ zu rechnen.
Dem anonymen und mündlich überlieferten Volksmärchen, das einem festen narrativen Schema folgt und sich an ein jugendliches Lesepublikum wendet, steht die stärker literarisierte Form des Kunstmärchens gegenüber. Hier ist ein klar identifizierbarer Autor, der seine Märchenerzählungen schriftlich fixiert, zu finden. Diese häufig an symbolischer Darstellung interessierte Form verbindet sich mit dem Anspruch auf geistvolle Unterhaltung...
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Brüder Grimm
2.1. Zu den Personen
2.2. Entstehung der Grimmschen Märchensammlung
2.3. Verbreitung der Grimmschen Märchensammlung
3. Charles Perrault
3.1. Zur Person
3.2. Entstehung der Perraultschen Märchensammlung
3.3. Verbreitung der Perraultschen Märchensammlung
4. Vergleichende Analyse des „Rotkäppchen“ mit „Le petit Chaperon rouge“
5. Entwicklungsgeschichte des Märchens
6. Zusammenfassung
7. Anhang:
Charles Perraults „Le petit Chaperon rouge“
- französischer Text
Charles Perraults „Le petit Chaperon rouge“
-deutsche Übersetzung
„Rotkäppchen“ der Brüder Grimm
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Märchen (mittelhochdeutsch Maere = „Kunde, Bericht, Nachricht“) gehören zur Literaturgattung der Epik. Im etymologischen Wörterbuch ist der Märchenbegriff folgend beschreiben: „Erzählung (ohne Bindung an historische Personen oder an bestimmte Örtlichkeiten), phantastische Dichtung; erfundene Geschichte, Lüge. Das seit dem 15. Jh. bezeugte Wort ist eine Verkleinerungsbildung zu dem heute veralteten Substantiv Mär(e).“ Märchen finden sich zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieser Welt. Eine wichtige Rolle spielten die Märchen für die Entwicklung des Nationalbewusstseins und der Nationalliteraturen. Vor allem in der Romantik wurden zahlreiche Sammlungen von Volksmärchen angelegt. Hier ragen die Volksmärchen der Deutschen von J.K.A. Musäus aus den Jahren 1782/87 heraus. Zu erwähnen ist auch Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch von 1845. Märchen können nach Typen unterschieden werden.
Bei Volksmärchen lässt sich kein bestimmter Urheber feststellen. Die mündliche Weitergabe war für lange Zeit die ausschließliche Form der Überlieferung. Dennoch hat auch die schriftliche Überlieferung seit ihren Anfängen auf die traditionelle mündliche Erzählweise mit eingewirkt. Denn schon im Mittelalter fanden Märchen Eingang in die Literatur und wurden aus den verschiedensten Gründen schriftlich festgehalten. Mit der Möglichkeit des Drucks in der Neuzeit hat die schriftliche Verbreitung naturgemäß eine größere Position eingenommen. Aufgrund der mündlichen Erzähltradition besitzt das Volksmärchen keine konstante Form. Vielmehr tritt es in zahlreichen und teils sehr unterschiedlichen Varianten auf. Die ältesten europäischen Volksmärchensammlungen stammen von Giovanni Francesco Straparola (Ergötzliche Nächte, 1550), Giovanni Battista Basile (Pentameron, 1634) und Charles Perrault (1696/97). Weltgeltung erlangt haben aber insbesondere die 1812 veröffentlichten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Zum Typ der Volksmärchen ist auch die orientalische Sammlung „Tausendundeine Nacht“ zu rechnen.
Dem anonymen und mündlich überlieferten Volksmärchen, das einem festen narrativen Schema folgt und sich an ein jugendliches Lesepublikum wendet, steht die stärker literarisierte Form des Kunstmärchens gegenüber. Hier ist ein klar identifizierbarer Autor, der seine Märchenerzählungen schriftlich fixiert, zu finden. Diese häufig an symbolischer Darstellung interessierte Form verbindet sich mit dem Anspruch auf geistvolle Unterhaltung. Bei diesen sog. Kunstmärchen handelt es sich also indes um bewusste Schöpfungen von Dichtern und Schriftstellern. Bisweilen greifen sie Motive der Volksmärchentradition auf, meist werden aber neuartige fantastische Wundergeschichten erfunden, die mit dem Volksmärchen aber dennoch durch den Aspekt des Wunderbaren und Unwirklichen verbunden bleiben. Ihr Inhalt wird überwiegend durch die Weltanschauung und die Ideen einer individuellen Person getragen und unterliegt den Einflüssen der Literaturströmungen.
Kunstmärchen sind in der Regel umfangreicher und literarisch anspruchsvoller konzipiert, arbeiten insbesondere häufiger mit Metaphern und liefern detaillierte Beschreibungen von Personen und Ereignissen. Anders als Volksmärchen enden sie auch nicht immer glücklich (vgl. Andersens „Die kleine Meerjungfrau“).
Im Folgenden soll das Märchen „Rotkäppchen“ von den Brüdern Grimm näher untersucht werden. Dabei wird zuerst auf das Leben und Schaffen der Grimms eingegangen. Nachdem gezeigt wird, wie ihre Märchensammlung entstand, soll verdeutlicht werden, wie sich diese verbreitete. Ziel der Untersuchung ist es, die Frage zu klären, ob das „Rotkäppchen“-Märchen der Brüder Grimm zu dem „Le petit Chaperon rouge“-Märchen von Charles Perrault in Beziehung steht. Sollte dies zutreffen, so soll geklärt werden, von welcher Art diese Beziehung ist. Deshalb wird auch das Leben von Charles Perrault näher beleuchtet und die Entstehung seiner Märchensammlung dargestellt. Auch hier wird gezeigt, wie diese sich verbreitete. Es folgt die vergleichende Analyse der zwei Varianten des Märchens. Hierbei wird der Inhalt dargestellt. Es sollen Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten beider Märchenvarianten gezeigt werden. Abschließend soll die Entstehungsgeschichte des Grimmschen „Rotkäppchen“-Märchens nachvollzogen werden, um eine Antwort auf die Ausgangsfrage zu erhalten.
2. Die Brüder Grimm
2.1. Zu den Personen
Die Brüder Grimm sind als Sprachwissenschaftler und Sammler von Märchen bekannt. Sie gelten gemeinsam mit Karl Lachmann und Georg Friedrich Benecke als Gründungsväter der Deutschen Philologie bzw. Germanistik.
Die Familie Grimm war im hessischen Raum beheimatet. Der Vater Philipp Wilhelm Grimm wirkte hier als Jurist. Am 4. Januar 1785 kam Jacob Grimm als erstes Kind der Dorothea Grimm zur Welt. Ein Jahr darauf, am 24. Februar 1786, wurde Wilhelm Grimm geboren. Die banden fanden sich mit den Jahren bald in einem größeren Geschwisterkreis. Es folgten die drei Brüder Karl, Ferdinand und Ludwig Emil, sowie die Schwester Lotte. Im Jahr 1791 siedelte die Familie nach Steinau über. Am 10. Januar 1796 starb Vater Philipp an einer Lungenentzündung mit nur 45 Jahren. Die Mutter hielt es für das beste, wenn ihre ältesten Söhne Jacob und Wilhelm wie der Vater die juristische Laufbahn einschlagen würden. Deshalb lebten die beiden fortan (1798) bei ihrer Tante Henriette Zimmer, Schwester der Dorothea, in Kassel die sie versorgte und sie auf das Lyzeum (1798-1802) schickte. 1802 kam Jacob auf die Universität Marburg. Er studierte Jura, weil der Vater ein Jurist gewesen war und es die Mutter so am liebsten hatte. Wilhelm durfte erst ein Jahr später nach Marburg. So begannen die beiden im Alter von siebzehn Jahren ihr Studium. Einer ihrer Lehrer, Friedrich Karl Savigny, eröffnete den wissbegierigen jungen Studenten seine Privatbibliothek und machte den beiden, die bereits mit Werken von Goethe und Schiller vertraut waren, mit Werken der Romantik und des Minnesangs bekannt. Über ihn lernen die Brüder auch Clemens Brentano persönlich kennen. 1805 reist Jacob zu Savigny nach Paris um wissenschaftliche Hilfe zu leisten. Als er die Arbeit in Paris beendet hatte, beschloss er bei seiner Rückreise nach Kassel im Herbst 1805 die altdeutsche Literatur gründlich zu studieren. Während Wilhelm im Jahr 1806 seine Universitätszeit mit der juristischen Staatsprüfung abschloss, wurde Jacob als Sekretär vom Kasseler Kriegskollegium angestellt. Beide wandten sich nun der Literatur zu. Die Sammlung der Märchen begann. Am 5. Juli 1808 wird Jacob bei König Jérome in Kassel zum Bibliothekar benannt. Ein Jahr später wird er Auditor beim Staatsrat. Zuerst traten die Brüder im Alter von 22 bzw. 21 Jahren mit Aufsätzen in Fachzeitschriften hervor. Das erste Buch Jacobs ging Über den altdeutschen Meistergesang (1811). Hierbei ging es darum, zwischen Volksdichtung und Kunstpoesie zu unterscheiden und die Merkmale der beiden Richtungen abzugrenzen. Wilhelm hatte in diesem Jahr altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen übersetzt und herausgegeben. Er stützte sich dabei auf eine Sammlung nordischer Heldengedichte (Kämpeviser), die im 16. und 17. Jahrhundert aufgezeichnet worden waren. Diesem Buch ließ Wilhelm drei altschottische Lieder in Original und Übersetzung folgen (1813). Angehängt sind Zitate und Verbesserungen zu den altdänischen Heldenliedern, Balladen und Märchen. Ein weiteres Werk Jacobs galt der Irmenstraße und Irmensäule (1815). Es war ein mythologischer Versuch, um alte Götterbilder und Säulen zu deuten, die einmal als Heiligtümer galten. Wichtiger war sein Buch Silva de romances viejos (1815). Es sollte den Liebhabern altdeutscher und spanischer Poesie eine kritische Auswahl und Ausgabe der altspanischen Romanzen bieten.1
Bereits 1812 war das erste Werk erschienen, für das Jacob und Wilhelm gemeinsam verantwortlich waren: Die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weissenbrunner (Wessobrunner) Gebet zum erstenmal in ihrem Metrum dargestellt und herausgegeben durch die Brüder Grimm. Es galt den Nachweis zu führen, dass es sich nicht um Prosa, sondern um Dichtungen mit Stabreimen handelte. Auch der arme Heinrich von Hartmann von der Aue (1815) den sie herausgaben und erklärten, trug wieder die Autorenbezeichnung „durch die Brüder Grimm“. Von den Brüdern ebenfalls gemeinsam ediert, schienen 1815 die Lieder der alten Edda, aus der Handschrift herausgegeben und erklärt. Auch eine Zeitschrift wurde von den Brüdern Grimm in diesem Zeitraum gemeinsam herausgegeben: Altdeutsche Wälder (3 Bände, 1813- 1816). Die Brüder lieferten die meisten Beiträge für diese Zeitschrift selber. Sie sollte dem Studium des deutschen Altertums dienen. In zwei Teilen erschienen die von den Brüdern Grimm herausgegebenen Deutsche[n] Sagen 1816 und 1818. Ähnlich wie bei den Märchen trugen sie sich bei den Sagen ihr Gut über Jahr hin zusammen. Die örtlichen Sagen bildeten den Inhalt des ersten Bandes. Alle auftauchenden Wesen, wie Elfen, Nixen, Riesen oder Kobolde hausen hier an ganz bestimmten Orten. Der zweite Band brachte dann geschichtliche Sagen. Im Allgemeinen chronologisch angeordnet, begleiten die einzelnen Beiträge hier die deutsche Geschichte von ihrem Beginn bis in die Zeit Luthers.2
Im Alter von dreißig Jahren hatten sich die Brüder Grimm durch ihre wissenschaftlichen Publikationen in der Fachwelt einen geachteten Namen gemacht. Wilhelm arbeitete seit 1914 in Kassel an der kurfürstlichen Bibliothek. Auch Jacob gab 1816 die diplomatische Laufbahn auf und fing in der Bibliothek an. Im Jahr 1826 übersetzten die Brüder Irische Elfenmärchen aus dem englischen. 1819 erschien der erste Teil der Deutschen Grammatik, herausgegeben von Jacob Grimm. Dieser Band war hauptsächlich der Flexion gewidmet. Es sollte nicht sowohl eine Grammatik, wie eine Geschichte der Sprache sein. Die serbische Grammatik des Wuk Stephanowitsch hatte Jacob 1824 verdeutscht. 1826 erschien der zweite Teil der Deutschen Grammatik. 1828 widmete Jacob sich der Deutschen Rechtaltertümer. Er wollte nicht nur die Normen darstellen, die für das Zusammenleben unserer Vorfahren galten, vor allem wollte er auch einem Beitrag zu einer Rechtsreform leisten. Wilhelm hatte dagegen andere eigenständige Themen für seine Arbeit gefunden. Er veröffentlichte zunächst ein Buch über deutsche Runen (1821). Sein Verdienst besteht darin, einige noch unbekannte Runenalphabete aus Handschriften bekannt gemacht und ihre Übereinstimmung und Verwandtschaft mit den angelsächsischen Runen gezeigt zu haben. Dem gleichen Thema galt dann seine Arbeit zur Literatur der Runen (1828). Er publizierte die mittelalterliche Kreuzzugsdichtung Grave Ruodolf (Graf Rudolf, 1828). Das Hauptwerk Wilhelms aber war Die deutsche Heldensage (1829). Mit diesem Werk lenkte Wilhelm weitere Kreise auf die alten Heldensagen: die Gestalten des Nibelungen- und Gudrunliedes, des Dietrich- und Wielandsagenkreises. Jacob wurde Dozent und Forscher an der Universität Göttingen. Auch Wilhelm wurde im Jahr 1835 Professor in Göttingen. 1831 wurde der dritte Teil der Deutschen Grammatik herausgegeben. Es behandelte Wortbildung, das grammatische Geschlecht und ähnliche Fragen. In einem vierten Teil, der erst 1837 erschien, behandelte Jacob die Syntax des einfachen Satzes. Zuvor gab er die Tiersage Reinhart Fuchs heraus (1834), die ihn schon seit 1811 beschäftigte. Das zweite Werk, das Jacob zwischen den dritten und vierten Teil seiner Grammatik schaltete, war seine Deutsche Mythologie (1835). Er untersuchte die alte Götter- und Geisterwelt.3
Wichtig waren die Ereignisse des Jahres 1837 um die „Göttinger Sieben“. Wilhelm IV starb am 20. Juni 1837. Sein Bruder Ernst August wurde neuer König von Hannover. Er lehnte es ab, den Eid auf die bestehende Verfassung zu leisten und vertagte sofort die Stände. Die heimgeschickten Ständevertreter fürchteten, dass Ernst August die Finanzpolitik nach seinen eigenwilligen Kopf umgestalten würde. Schon am 5. Juli erklärte er, das Staatsgrundgesetz für das Land sei nicht zweckdienlich. Am 1. November hob er das Gesetz auf. Die Beamten wurden ihres Eides entbunden. Die Ständeversammlung war schon vorher aufgelöst worden. Es war ein offenkundiger Verfassungsbruch, der noch dadurch verschärft wurde, dass die neue Regierung von den Dienern des Staates wie auch von den Professoren Dienst- und Huldigungs-Reserve verlangte. Das war für die sieben Professoren der Universität Göttingen zu viel: Mit dem Historiker Dahlmann, dem Juristen Albrecht, dem Literaturhistoriker Gervinus, dem Orientalisten Ewald und dem Physiker Weber unterzeichneten auch Jacob und Wilhelm Grimm am 18. November einen Protest gegen den Verfassungsbruch. Der Widerstand blieb nicht ohne Folgen. Am 11. Dezember 1837 unterzeichnete Ernst August die Entlassungsurkunden für die sieben protestierenden Professoren. Die besonders missliebigen Professoren Dahlmann, Jacob Grimm und Gervinus hatten innerhalb von drei Tagen das Land Hannover zu verlassen. Im Oktober 1838 zog dann auch Wilhelm mit seiner Frau zurück nach Kassel. 1840 erhalten die Brüder einen Ruf nach Berlin. Ein Jahr später ziehen sie nach Berlin und halten an der Universität Vorlesungen. 1842 erhält Jacob den „Orden Pourte merite“. 1846 leitet Jacob in Frankfurt a. M. die erste Germanistenversammlung. 1848 veröffentlicht Jacob die Geschichte der deutschen Sprache. 1854 erscheint von den Brüdern ein Deutsches Wörterbuch, 1. Band. 1860, 1862 erscheinen der zweite und der dritte Band. Dieses Wörterbuch war die größte Aufgabe in diesen Jahren, zu dem im Laufe der Vorbereitung mehr als achtzig Mitarbeiter Hunderttausende von Zetteln gesammelt und eingeschickt hatten. Die Brüder gingen daran, dieses ungeheure Material zu ordnen, zu verarbeiten und in die Form eines Wörterbuchs zu bringen. Wilhelm Grimm starb am 16. Dezember 1859 in Berlin. Sein Bruder Jacob folgte ihm am 20. September 1863.4
2.2. Entstehung der Grimmschen Märchensammlung
Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde die sogenannte Volksliteratur wertgeschätzt. Zu dieser Zeit erschien Herders bahnbrechende Edition der Volkslieder (1778/79). Enthalten waren volkstümliche deutsche Lieder aus schriftlicher und mündlicher Überlieferung, morlakische, peruanische u.a. Verse, altdeutsche und altnordische Lieder sowie zeitgenössischen Dichtungen. Das Bemühen zu solchen Sammlungen wurde unterschiedlich intensiv in der Folgezeit weitergeführt. Andere waren Anselm Elwert Ungedrukte Reste alten Gesangs (1784) oder Friedrich Heinrich Bothe Frühlings-Almanach (1804). Die Erfüllung der immer wieder erhobenen Forderung Herders nach einer Sammlung der volksläufigen Prosa blieb weitschweifig. Es erschienen Sammlungen wie Johann Karl August Musäus Volksmärchen der Deutschen (1782-1786), Christiane Benedicte Naubert Neue Volksmärchen der Deutschen (1789-1793), Wilhelm Günther Kindermärchen aus mündlichen Erzählungen gesammelt (1787) oder anonym erschienene Sammlungen Feen-Märchen (1801), Ammenmärchen (1791- 1792). Diese Sammlungen bieten zwar alle mehr oder weniger auch aus mündlicher Tradition gewonnene Texte, unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Bearbeitungstendenzen so stark, dass man zögert, all diese Bemühungen ohne weiteres der volksliterarischen Gattung „Märchen“ zuzuschreiben.5
Achim von Arnim und Clemens Brentano sowie Joseph Görres mit ihren Editionen Des Knaben Wunderhorn (1805-1808) und Die teutschen Volksbücher (1807) lieferten die wertvollsten und durchschlagskräftigsten Ergebnisse auf dem Feld der Volksliteratur. Ähnlich wie bei den Anfängen Herders wird auch bei diesen Sammelbemühungen keineswegs zwischen Volks- und Kunstdichtung unterschieden, sondern deren lebendige Vermischung und wechselseitige Befruchtung erstrebt.6
Die Sammlung von Märchen und Sagen konnte hingegen weder auf einheitliche Vorarbeiten noch auf einen Musterband verweisen. Die Romantiker gaben den zunächst erwogenen Plan, das Wunderhorn mit Sagen-und Märchensammlungen fortzusetzen, schon bald auf. Sie veröffentlichten stattdessen einige Texte dieser Art in Aloys Schreibers Badischer Wochenschrift (1806/07) und in Arnims kurzlebiger Zeitung für Einsiedler (1808). Dabei zeigt sich eine ähnliche Mischlage wie bei den Liederanthologien: Die Sammlung märchenhafter Passagen aus älterer Kunstdichtung (z.B. Texte nach Hans Sachs, Hans Michael Moscherosch oder Balthasar Schupp) vermischt sich mit Aufzeichnungen von Sagen und Märchen mündlicher Provenienz (etwa Von dem Machandelboom). In diesem Umfeld entwickelte sich die epochenmachende und in ihren Folgen unermessliche Leistung der seinerzeit noch sehr jugendlichen und in der literarischen Öffentlichkeit gänzlich unbekannten Brüder Grimm.7
„Bei uns Deutschen war schon zu viel untergegangen“, schrieb Wilhelm Grimm an den skandinavischen Gelehrten Nyerup, „ehe man daran dachte, es zu sammeln“.8 Die Brüder hatten ihren literarischen Weg des Sammelns und des Bewahrens gefunden. Es war eines ihrer frühesten Anliegen, das vom Volk erzählte dichterische Wort zu bewahren. Da Zeitungen und Zeitschriften noch nicht millionenfach zum Frühstück in die Häuser gebracht wurden, da es weder Rundfunk noch Fernsehen gab, saß man im Wirtshaus oder am Dorfbrunnen, im Kinderzimmer oder in den Spinnstuben am Feierabend beisammen und hörte einem zu, der zu erzählen wusste. Zwar gab es schon vor den Brüdern Grimm in Frankreich, Italien und durch Musäus auch in Deutschland Versuche, solche Geschichten zu sammeln und die alten Märchen bekanntzumachen, aber erst die Romantiker, besonders Brentano und Arnim, haben den Boden bereitet, aus dem dann auch die Sammlungen der Brüder Grimm entstanden. Aber im Gegensatz zu ihren Dichterfreunden wollten Jacob und Wilhelm nicht eigene dichterische Werke aus der Überlieferung her gestalten. Vielmehr ging es ihnen darum, das, was das Volk sich erzählte, so echt und schlicht wie möglich zu bewahren.9
Nachdem sie als Studenten Savignys in Marburg bei einer ersten Begegnung mit dessen Schwager Clemens Brentano schon 1802 von diesem auf die Notwendigkeit der Sammlung und des Studiums der altdeutschen Literatur verwiesen worden waren, wirkte die Begegnung mit Tiecks Minneliederbearbeitung im Jahr 1803 gleichsam initialzündend. Fortan entwickelten die noch nicht Zwanzigjährigen Pläne zu entsprechenden Arbeiten. Auslösendes Moment für die konkrete Tätigkeit wurde Brentanos briefliche Anfrage vom 22. März 1806 an Savigny: „Haben Sie in Kassel keinen Freund, der sich dort auf der Bibliothek umtun könnte, ob keine alten Liedlein dort sind, und der mir dieselben kopieren könnte?“ Savigny empfahl Jacob Grimm, der die zunächst noch indirekte Mitarbeit an der Fortsetzung der Wunderhorn-Liedersammlung sofort mit Feuereifer und erstaunlich rasch wachsender Sachkenntnis aufnahm und zugleich auch seine jüngeren Brüder Wilhelm und Ferdinand (letzteren als Kopisten) in den Dienst der Sache stellt.10
Als die Brüder im Jahre 1806 anfingen, Märchen zu sammeln, erschütterte die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt die deutschen Lande. Bisherige Ordnungen zerbrachen, zu Tausenden starben die Soldaten, Gehöfte und Häuser gingen in Flammen auf. Doch eben da, wo so vieles zerbrach, versuchten die Brüder zu retten, was der Geist des Volkes geschaffen hatte. Sie hatten das sichere Gefühl, dass man in einer neu heraufkommenden Zeit dieses dichterische Gut vergessen würde, wenn man es nicht jetzt festhielt. Und es zeigte sich dann auch, dass ihre Leistung beständiger war als die politischen und militärischen Ereignisse des Tages. Die Brüder suchten bei ihrer Sammelarbeit auch nach schriftlichen Quellen, aber immer wieder betonten sie, dass es „die mündliche Überlieferung“11 gewesen sei, auf die sie ihr Werk stützten.12
[...]
1 Vgl. Brüder Grimm- mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten; dargestellt von Hermann Gerstner; rowolth monographien; Reinbek bei Hamburg; Juli 1973, S.7-16
2 Ebd.
3 Vgl. Gerstner
4 Vgl. Gerstner
5 Vgl. Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm; vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837); Herausgegeben von Heinz Rölleke; Deutscher Klassiker Verlag; Frankfurt am Main 1985, S. 1151,1152
6 Ebd. S. 1153
7 Vgl. Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, Hg. von Heinz Rölleke, S. 1154
8 Briefwechsel der Brüder Grimm mit nordischen Gelehrten, Hg. von Ernst Schmidt. Berlin 1885, S. 13
9 Vgl. Gerstner S.18, 38
10 Vgl. Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, Hg. von Heinz Rölleke, S.1154 8
11 Briefwechsel der Brüder Grimm mit nordischen Gelehrten, Hg. von Ernst Schmidt, S. 56
12 Vgl. Gerstner, S.38
- Arbeit zitieren
- B.A. Ira Ekmann (Autor:in), 2009, Das "Rotkäppchen" der Brüder Grimm und Charles Perraults "Le petit Chaperon rouge", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196679