Das Phänomen der Synästhesie ist der Menschheit sehr mehr als 300 Jahren bekannt, in der Wissenschaft führte es jedoch lange Zeit ein Schattendasein. Erst seit rund 30 Jahren befassen sich Neurologen und Psychologen wieder mit dieser Verknüpfung menschlicher Sinneswahrnehmungen, die über erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in den Massenmedien berichtet wird. Oft machen Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel synästhetisch begabte Menschen erst auf die Besonderheit ihrer Wahrnehmungen aufmerksam.
Auch wenn aktuellen Schätzungen zufolge nur jeder 200. oder 300. Mensch Synästhetiker ist, so gehen doch Synästhesieforscher davon aus, dass in jedem Menschen Anlagen für synästhetisches Empfinden latent vorhanden sind.
Sollte es dann möglich sein, diese in einem Menschen zu erwecken und zu fördern?
Als Studentin der Kunstpädagogik ist mir im Laufe meines Studiums immer wieder der Begriff des „Ästhetischen Lernens“ oder auch des „Lernens mit allen Sinnen“ begegnet, das sich der Anregung und des Gebrauchs verschiedener Sinnesreize bedient und über diese Kanäle Schüler, vor allem im Kunstunterricht, zu kreativem Arbeiten anzuregen versucht.
Nicht alle Menschen werden als kreative Persönlichkeit geboren, aber jeder ist zumindest auf bestimmten Gebieten und unter bestimmten Voraussetzungen zu kreativen Einfällen und Tätigkeiten in der Lage. Günstige Umweltbedingungen und Arbeitstechniken können dieses kreative Handeln fördern.
Könnte nun die Anregung verschiedener Sinneskanäle, eine Art synästhetisches Training, eine dieser kreativitätsfördernden Bedingungen darstellen? Dies soll in der Arbeit untersucht werden.
Ich gehe zunächst auf die zentralen Begriffe der Synästhesie und der Kreativität ein, an die sich eine kurze Beschreibung meines empirischen Forschungsvorhabens anschließt. Im Anschluss daran werden das Synästhesietraining und dessen Ergebnisse genauer betrachtet werden.
Inhalt
1 Einleitung
2 Synästhesie
2.1 Was ist Synästhesie?
2.2 Die Geschichte der Synästhesie
2.3 Die Wiederentdeckung der Synästhesie in der Wissenschaft
2.4 Erscheinungsformen der Synästhesie
2.5 Wie Synästhetiker die Welt erleben
3 Kreativität
3.1 Was ist Kreativität?
3.2 Das kreative Produkt
3.3 Der kreative Prozess
3.4 Die kreative Person
3.5 Kreativitätsfördernde und kreativitätshemmende Faktoren
4 Vorhaben
5 Beschreibung der Schule und der beiden Klassen
6 Entwicklungspsychologische Einschätzung der Schüler und ihrer zeichnerischen Fähigkeiten
7 Kreativitätstest 1, Trainings- und Kontrollgruppe
7.1 Planung der Stunde und Auswahl der Testaufgaben
7.2 Ablauf der Stunde
7.3 Auswertung des Tests
8 Kreativitätstest 1 (29.10.2007) - Auswertung
8.1 Fazit
9 Malen zu Musik, 1. Doppelstunde Synästhesietraining
9.1 Planung der Stunde
9.2 Auswahl der Musik
9.3 Der Ablauf der Stunde
9.4 Fazit
10 Tastzeichnen, 2. Doppelstunde Synästhesietraining
10.1 Planung der Stunde
10.2 Auswahl der zu zeichnenden Objekte
10.3 Der Ablauf der Stunde
10.4 Fazit
11 Riechparcours, 3. Doppelstunde Synästhesietraining
11.1 Planung der Stunde
11.2 Auswahl der Gerüche
11.3 Der Ablauf der Stunde
11.4 Fazit
12 Arbeiten mit Ton zu einer vorgelesenen Geschichte, 4. Doppelstunde Synästhesietraining
12.1 Planung der Stunde
12.2 Auswahl der Geschichte
12.3 Ablauf der Stunde
13 Assoziieren und Malen zu Geräuschen, 5. Doppelstunde Synästhesietraining
13.1 Planung der Stunde
13.2 Auswahl der Geräusche
13.3 Der Ablauf der Stunde
13.4 Fazit
14 Kreativitätstest 2, Trainings- und Kontrollgruppe
14.1 Planung der Stunde und Auswahl der Testaufgaben
14.2 Ablauf der Stunde
14.3 Auswertung des Tests
15 Kreativitätstest 2 (17.12.2007) - Auswertung
15.1 Fazit
16 Vergleich von Test 1 und Test 2
17 Abschließende Analyse und Fazit
18 Quellenangaben
18.1 Literatur
18.2 Unterrichtsmaterialien
1 Einleitung
Das Phänomen der Synästhesie ist der Menschheit sehr mehr als 300 Jahren bekannt[1], in der Wissenschaft führte es jedoch lange Zeit ein Schattendasein. Erst seit rund 30 Jahren befassen sich Neurologen und Psychologen wieder mit dieser Verknüpfung menschlicher Sinneswahrnehmungen, die über erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in den Massenmedien berichtet wird. Oft machen Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel synästhetisch begabte Menschen erst auf die Besonderheit ihrer Wahrnehmungen aufmerksam.
Mir selbst erging es nicht anders, als ich vor wenigen Jahren einen Bericht in die Hände bekam, in dem Beispiele synästhetischen Erlebens geschildert wurden. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, dass zumindest die meisten Menschen ganz ähnlich empfinden müssten.
Seit ich denken kann, haben Ziffern, Wochentage und Monate für mich Farben besessen, die unwillkürlich vor meinem geistigen Auge auftauchten. Zahlen, aber auch eine Woche, ein Jahr oder noch längere Zeitabschnitte erschienen mir als lange Reihen mit unterschiedlich gefärbten Abschnitten und ich ging davon aus, dass meine Mitmenschen auch solche Wahrnehmungen besitzen müssten, wenn auch in anderen Farben.
In den letzten Jahren habe ich mich dann mehr und mehr mit diesem Phänomen befasst und mich darüber informiert. Kreative und künstlerisch begabte Personen sind nach dem derzeitigen Forschungsstand häufiger davon betroffen.
Auch wenn aktuellen Schätzungen zufolge nur jeder 200.[2] oder 300.[3] Mensch Synästhetiker ist, so gehen doch Synästhesieforscher davon aus, dass in jedem Menschen Anlagen für synästhetisches Empfinden latent vorhanden sind.
Sollte es dann möglich sein, diese in einem Menschen zu erwecken und zu fördern?
Als Studentin der Kunstpädagogik ist mir im Laufe meines Studiums immer wieder der Begriff des „Ästhetischen Lernens“ oder auch des „Lernens mit allen Sinnen“ begegnet, das sich der Anregung und des Gebrauchs verschiedener Sinnesreize bedient und über diese Kanäle Schüler, vor allem im Kunstunterricht, zu kreativem Arbeiten anzuregen versucht.
Nicht alle Menschen werden als kreative Persönlichkeit geboren, aber jeder ist zumindest auf bestimmten Gebieten und unter bestimmten Voraussetzungen zu kreativen Einfällen und Tätigkeiten in der Lage. Günstige Umweltbedingungen und Arbeitstechniken können dieses kreative Handeln fördern.[4]
Könnte nun die Anregung verschiedener Sinneskanäle, eine Art synästhetisches Training, eine dieser kreativitätsfördernden Bedingungen darstellen? Dies soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
Ich gehe zunächst auf die zentralen Begriffe der Synästhesie und der Kreativität ein, an die sich eine kurze Beschreibung meines empirischen Forschungsvorhabens anschließt. Im Anschluss daran werden das Synästhesietraining und dessen Ergebnisse genauer betrachtet werden.
2 Synästhesie
2.1 Was ist Synästhesie?
Der Begriff „Synästhesie“ stammt aus dem Griechischen. „Syn“ bedeutet „zusammen“, „aisthésis“ „Empfinden“. Der Duden beschreibt Synästhesie als „Reizempfindung eines Sinnesorgans bei Reizung eines anderen“.
Synästhesie ist das Resultat einer speziellen Vernetzung im Gehirn und beruht auf einem zusätzlichen Kanal der Wahrnehmung. Bei Synästhetikern sind mehrere unterschiedliche Sinneswahrnehmungen miteinander verknüpft. Manche Synästhetiker sehen Buchstaben und Zahlen farbig, andere können Worte schmecken. Die häufigste Form der Synästhesie ist das so genannte „Farbenhören“, bei dem Töne in bunten Farben gesehen werden.[5] Diese Wahrnehmungen treten unfreiwillig auf und werden als real und nicht als willentlich herbeigeführte Vorstellung vor dem geistigen Auge empfunden.[6]
Über den Anteil von Synästhetikern in der Bevölkerung kann nur spekuliert werden. Gingen Forscher früher noch davon aus, dass höchstens vier von 100.000 Menschen eine synästhetische Begabung aufwiesen, so gehen Schätzungen aus den 1990er Jahren von einem Synästhetiker unter 2000 Menschen aus[7], neuere Erkenntnisse sogar von einem von 300[8] bzw. 200[9]. Da sich viele Synästhetiker der Besonderheit ihrer Wahrnehmungen nicht bewusst sind, oder diese aus Angst, für nicht normal gehalten zu werden, anderen gegenüber nicht preisgeben, dürfte die Dunkelziffer noch um einiges höher liegen.
2.2 Die Geschichte der Synästhesie
Synästhesie ist eine neurologische Besonderheit des Gehirns, die erst in den letzten Jahrzehnten wieder ins Blickfeld der Wissenschaft gerückt ist, auch wenn das Phänomen schon seit rund 300 Jahren bekannt ist.[10]
Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit Synästhesie befassten, liegen rund 150 Jahre zurück. Im Jahre 1850 stellte der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz die These auf, dass Sinneswahrnehmung nicht willentlich beeinflussbar sei und unbewusst stattfinde. Von Helmholtz leitete diese Erkenntnis daraus ab, dass man Lichterscheinungen durch leichtes Drücken auf das geschlossene Auge hervorrufen kann und sie, obwohl das Auge geschlossen ist und man weiß, dass sie lediglich auf den Druck zurückzuführen sind, dennoch sieht. Scheinbar passten diese Erkenntnisse jedoch nicht in das aufkommende Maschinenzeitalter, das nach einem transparenten Menschen und einer möglichst objektiv messbaren Funktionsweise des Gehirns verlangte.[11]
Allerdings weist die US-amerikanische Journalistin Patricia Duffy, Mitbegründerin der American Synesthesia Association auf das Buch „Bright Colors Falsely Seen“ des Historikers Kevin Dann hin, der davon berichtet, dass Schilderungen der sinnlichen Wahrnehmung von Synästhetikern zur Zeit der Romantik Dichtern und Künstlern vor allem in Frankreich eine Inspiration lieferten:
„Als im neunzehnten Jahrhundert allgemein bekannt wurde, dass einige Menschen in Reaktion auf Klänge Farben sehen, erinnerten sich diejenigen, die sich ernsthaft mit Synästhesie befassten, an die Schriften von Künstlern, Dichtern und anderen Menschen, die danach strebten, ihr Bewusstsein zu erweitern, in denen ähnliche Erfahrungen beschrieben wurden. […] Die scheinbare Bestätigung einer inhärenten Einheit und Ganzheit durch die Synästhesie ist das, was sie für das romantische Empfinden vor allem anderen anziehend macht.“[12]
Einige Dichter des neunzehnten Jahrhunderts waren von der Synästhesie so sehr angetan, dass diejenigen, die von Natur aus nicht zu synästhetischen Wahrnehmungen fähig waren, versuchten, diese durch Drogenkonsum zu erreichen.[13]
Der Komponist Arthur Wallace Rimington entwickelte, inspiriert durch die Berichte über synästhetische Wahrnehmung, ein Tasteninstrument, das beim Spielen synchron zur Musik bunte Töne auf eine Leinwand projizierte[14] und der Dichter Arthur Rimbaud verlieh seiner Begeisterung über das Phänomen des Farbenhörens, auf das er in medizinischen Zeitschriften gestoßen war, in seinen Gedichten Ausdruck.[15]
Verschiedenen Schriftstellern dieser Epoche, darunter neben Rimbaud auch unter anderem E.T.A. Hoffmann und Charles Baudelaire, werden Fähigkeiten synästhetischer Wahrnehmung nachgesagt, was sich jedoch posthum nicht mehr klären lässt. Jedoch entspricht die Vermischung verschiedener Sinnesbereiche vor allem in der Lyrik dem künstlerischen Konzept der Romantik.[16]
1889, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Rimbauds durch Synästhesie inspiriertem Gedicht „Vokale“, wurden bei der Internationalen Konferenz über Physiologische Psychologie in Frankreich sechzehn Referate über Synästhesie vorgelegt. Das Interesse der Künstler an der Thematik hatte die Wissenschaft dazu veranlasst, sich intensiver mit dem Phänomen auseinanderzusetzen[17] und besonders französische Forscher waren fasziniert von der Aussicht, theologische Positionen zur menschlichen Seele durch einfache psychologische Erklärungen widerlegen zu können.[18]
Von vielen Künstlern sind synästhetische Wahrnehmungen überliefert. So soll der Maler Wassily Kandinsky Farben nicht nur optisch wahrgenommen haben, sondern ihnen auch Klänge, Gerüche und Formen zugeordnet und zu den Farben gehörige Töne vor dem Auftrag auf die Leinwand gesummt haben.[19] Als Grundlage für sein geistiges Schaffen zog Kandinsky eine Analogie zur klassischen Musik, viele seiner Arbeiten sind als „Improvisation“ oder „Komposition“ betitelt.[20] Ein Zitat von Kandinsky selbst gibt einen Einblick in seine künstlerische Wahrnehmung:
„Ein Künstler, welcher in der künstlerischen Nachahmung kein Ziel für sich sieht und seine innere Welt zum Ausdruck bringen will, sieht, wie solche Ziele in der Musik zu erreichen sind. Es ist verständlich, dass er sich ihr zuwendet und versucht, dieselben Mittel in seiner Kunst zu finden. Daher kommt das heutige Suchen in der Malerei nach Rhythmus, nach mathematischer, abstrakter Konstruktion, das heutige Schätzen der Wiederholung des farbigen Tones, in welcher Farbe in Bewegung gesetzt wird usw.“[21]
Im Jahre 1915 ließ der russische Komponist Alexander Skrjabin nach den Ideen Rimingtons ein „Lichtklavier“ eigens für die Uraufführung seiner Sinfonie „Prometheus“ bauen, das beim Spielen die zu den Tönen gehörenden Farbwahrnehmungen Skrjabins auf eine Leinwand über dem Orchester projizierte.[22]
Um 1930 befasste sich der Psychologe Heinrich Klüver mit Halluzinationserlebnissen von Probanden, die Gitter-, Spiral- oder Clustermuster beschrieben. Klüver bezeichnete diese als „Formkonstanten“. Schilderungen dieser Art decken sich mit Erlebnissen von Menschen nach Drogenkonsum oder Patienten mit Migräneanfällen, hohem Fieber oder Unterzuckerung. Sie sollten später in der Synästhesieforschung wieder aufgegriffen werden.[23]
In den folgenden Jahrzehnten spielte Synästhesie in der Wissenschaft keine Rolle. Mehr noch, das Phänomen, das noch wenige Jahrzehnte zuvor als erstrebenswerter Zustand angesehen worden war, wurde im Nationalsozialismus sogar als Geisteskrankheit betrachtet. Der Schriftsteller Ralf Isau, der Synästhesie in einem Roman verarbeitet hat, berichtet auf seiner Homepage, dass Synästhetiker im Dritten Reich als Geistesgestörte in Anstalten eingewiesen und zwangssterilisiert wurden.[24]
2.3 Die Wiederentdeckung der Synästhesie in der Wissenschaft
Erst im Jahre 1980 entdeckte die Wissenschaft das Phänomen der Synästhesie wieder für sich. Der US-amerikanische Neurologe Richard E. Cytowic kannte Synästhesie bis dahin nur aus der Lektüre. Er hatte neben seinem Studium viel über Malerei und Musik gelesen und schon damals waren ihm die Schilderungen synästhetischer Wahrnehmungen von Künstlern wie Kandinsky aufgefallen.[25]
Während seines Forschungsstipendiums in Neuropsychologie unterhielt er sich eines Nachmittags mit einer Frau („V.E.“), und wie es häufig geschah, sprang sein Piepser an und gab drei schrille Töne von sich. „Sofort hielt V.E. ihre Hand an ihre Stirn, mir signalisierend, ich sollte das Gerät abstellen. „Oh, diese blendenden roten Blitze, stellen Sie das Ding ab!“ Ich bat sie um eine Erklärung. Sie fuhr fort und berichtete mir, dass Geräusche dazu führten, dass sie Farben sah, und dass vor allem hohe oder laute Töne schmerzhaft sein könnten. Im Falle meines Piepsers hatten die drei Töne dazu geführt, dass sie rote zackige Linien „wie Blitze“ sah. Jede davon war von einem stechenden Schmerz in der Stirn begleitet. Dies war der erste Fall von Synästhesie, mit dem ich in Berührung kam.“[26]
Einige Zeit später begegnete Cytowic seinem zweiten Synästhetiker. Er war gemeinsam mit Bekannten bei seinem Nachbarn Michael Watson, einem Künstler, zum Abendessen eingeladen. Man wurde zum Tisch neben der Küche gebeten und wartete auf das Auftragen des Dinners. Während der letzten Vorbereitungen verkündete Watson, dass sich der Beginn des Abendessens noch etwas verzögern würde, da „auf dem Huhn nicht genügend Spitzen“ seien.[27]
„Mit dieser beiläufigen Bemerkung drehte er sich um, sein Gesicht dunkelrot bei der Erkenntnis, dass er gerade ein schreckliches Geheimnis enthüllt hatte. „Oh, “ sagte er mit großer Verlegenheit, „Ihr wisst es nicht. Nur Tony weiß es. Er ist der einzige von meinen Freunden, dem ich es erzählt habe, “ während er versuchte, sich von seinem Faux pas zu befreien. Vielleicht würde ich es verstehen, dachte er, an die Tatsache appellierend, dass ich doch Arzt war. Aber seine Erklärung ließ die Situation nur noch grotesker werden.“[28]
Watson erläuterte daraufhin verschämt, dass Geschmack für ihn Formen habe und dass er sich beim Kochen eher an der Form als am Geschmack des Essens orientiere. Er war enttäuscht, weil ihm das Hühnchen „zu rund“ geraten war, ein zu langweiliger und stumpfer Geschmack. Es hätte mehr „Spitzen“ haben sollen, um besser zu schmecken, erklärte er, während er der Soße weitere Gewürze hinzufügte.[29]
Cytowic begann daraufhin mit der Erforschung der Synästhesie, was zunächst kein leichtes Unterfangen darstellte. Synästhesie galt als „halbseiden“, es gab kaum wissenschaftliche Literatur zu dem Phänomen. Zu ähnlich schien es jenen Bewusstseinsveränderungen und Halluzinationen, die durch den Konsum von Drogen wie LSD hervorgerufen werden. LSD führt zu ähnlichen Verknüpfungen der Sinneswahrnehmungen, die allerdings eben nur unter dem Einfluss der Droge entstehen.[30]
Patricia Duffy, die 1968 im Alter von 16 Jahren feststellte, dass nicht jeder Mensch ihre Wahrnehmungen teilte, berichtet, dass ihr Vater, angeregt von den Schilderungen seiner Tochter Bibliotheken durchkämmte und lediglich in einem Artikel über Meditation in einer Yoga-Zeitschrift Hinweise auf Synästhesie fand.[31] Erst sieben Jahre später stieß sie zufällig auf einen Zeitschriftenartikel, der sich wissenschaftlich mit dem Phänomen befasste.[32]
Richard Cytowic schreibt seine Forschungen und sein Wissen auf dem Gebiet der Synästhesie seiner Neugierde und seiner Zwanghaftigkeit zu.[33] Nach der Erkenntnis über das synästhetische Wahrnehmen von Michael Watson führte er Tests mit diesem durch und befragte in den darauf folgenden Jahren zahlreiche Synästhetiker. Um messen zu können, dass Synästhesie mehr ist als bloße Einbildung, entwickelte Cytowic ein Testsystem. Er ging von der auch heute noch gültigen Annahme aus, dass eine Wahrnehmung unmittelbar mit dem auslösenden Reiz gekoppelt ist. Werden Tests in Abständen von mehreren Monaten durchgeführt, beschreiben Synästhetiker im Gegensatz zu nicht synästhetisch begabten Personen beim selben Reiz exakt dieselben Empfindungen wie Farbzuordnungen zu Zahlen, Tönen etc.[34]
Cytowic bezeichnet Synästhetiker als „Kognitive Fossilien“[35] und erläutert, dass er Synästhesie für typisch für Säugetiere halte, während die Sprache eher typisch für die menschliche Spezies sei.[36] Laut Cytowic ist Synästhesie eine Funktion des limbischen Systems, „jenes Teils des Gehirns, der Gefühle, Erinnerungen und Affekte reguliert“.[37] Dies fand er heraus, indem er Michael Watson ein schwach radioaktives Gas einatmen ließ, mit dessen Hilfe er den Weg des Blutes durch das Gehirn verfolgen konnte. Je aktiver ein Hirnareal war, umso mehr Blut floss hinein. Bei Michael Watson ging der Stoffwechsel in der Großhirnrinde, in der das logische und rationale Denken stattfindet, während einer synästhetischen Wahrnehmung dramatisch zurück.[38]
Der britische Synästhesieforscher Simon Baron-Cohen hingegen untersuchte Synästhetiker, die beim Hören von Tönen Farben sehen, und stellte bei ihnen eine verstärkte Aktivität in der Großhirnrinde fest, vor allem in Arealen, die für die komplexe Verarbeitung visueller Reize zuständig sind. Die primäre Sehrinde, in der Informationen aus dem Auge eintreffen, zeigte, da der auslösende Reiz nicht visueller Art gewesen war, keine Aktivität.[39]
Durch die Entwicklung immer feinerer Verfahren in der Neurologie lassen sich die Punkte im Gehirn, die gleichzeitig erregt werden, immer genauer bestimmen.[40]
Da das limbische System der evolutionsgeschichtlich ältere Teil des Gehirns ist, vermutet Cytowic, dass die synästhetische Wahrnehmungsfähigkeit im Laufe der Evolution bei den meisten Menschen abhanden gekommen ist.[41] Theoretisch verfügt jeder Mensch über die latente Fähigkeit zur Synästhesie, aber nur bei wenigen dringt sie ins Bewusstsein[42] bzw. sie nimmt mit zunehmendem Alter ab, zumindest partiell.
Patricia Duffy berichtet, dass sie als Vorschulkind Worte als bunte Muster wahrnahm[43], die jedoch schwächer wurden, als sie Lesen lernte, und die im Erwachsenenalter nur noch als blasse Erinnerungen existierten.
Ein möglicher Grund für das Verschwinden oder Verblassen synästhetischer Wahrnehmungen beim Heranwachsen eines Menschen könnte im Heranreifen des Gehirns begründet liegen. Alle Kinder unter vier Monaten erleben laut der Neugeborenenforscherin Daphne Maurer synästhetische Reaktionen, da sich ihr Gehirn noch nicht in einzelne Areale aufgefächert hat, die getrennt voneinander auf unterschiedliche Arten von Reizen reagieren.[44]
Daphne und Charles Maurer beschreiben die sensorische Wahrnehmung eines Babys folgendermaßen:
„Seine Welt riecht für es mehr oder weniger so, wie unsere Welt für uns riecht, doch es nimmt Gerüche nicht allein als durch die Nase kommend wahr. Es hört Gerüche und sieht Gerüche und fühlt sie auch. Seine Welt ist ein Gemisch aus stechenden Aromen – und stechenden Klängen und bitter riechenden Klängen und süß riechenden visuellen Eindrücken und sauer riechenden Druckgefühlen auf der Haut. Wenn wir der Welt eines Neugeborenen einen Besuch abstatten könnten, würden wir glauben, in eine halluzinatorische Parfümerie geraten zu sein.“[45]
Mit dem Heranwachsen entwickelt sich das Gehirn und teilt seine Funktionen in voneinander getrennte Bereiche auf, so dass die synästhetische Fusion des Kleinkindalters den voneinander separierten sensorischen Erfahrungen der späten Kindheit und des Erwachsenenalters weicht.[46]
Auch Simon Baron-Cohen geht davon aus, dass jeder Mensch als Säugling Synästhetiker ist, bei den meisten Menschen diese Fähigkeit aber bereits in frühester Kindheit verloren geht.[47] Seiner Theorie zufolge sind bei Synästhetikern Nervenverbindungen aus den ersten Lebensmonaten erhalten geblieben.[48] Auch geht er von einem Synästhesie-Gen aus[49], was durch auffällige familiäre Häufungen über Generationen hinweg plausibel erscheint. Schon Francis Galton, der sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit der Erforschung von Synästhesie befasste, ging davon aus, dass sie genetisch bedingt sei[50] und eine Studie der Universität Cambridge aus dem Jahr 1995 scheint dies zu belegen. Sie geht davon aus, dass das Synästhesie-Gen auf dem X-Chromosom liegen muss und somit vor allem vom Vater an die Tochter weitergegeben wird. Alle Männer tragen ein X- und ein Y-Chromosom in sich und geben ihr X-Chromosom immer an ihre Töchter weiter. Ein männlicher Synästhetiker muss also zwangsläufig seine Synästhesie an seine Tochter vererben. Da Väter an ihre Söhne das Y-Chromosom weitergeben und Söhne nur eines der beiden X-Chromosomen der Mutter erben, liegt die Chance, dass eine Mutter an ihren Sohn das Synästhesie-Gen weitergibt, nur bei 50%[51] Dies könnte erklären, weshalb der Anteil der Frauen unter den Synästhetikern wesentlich höher ist als der der Männer. Schätzungen zufolge sind 85% aller Synästhetiker weiblichen Geschlechts.[52]
Hinderk Emrich, Synästhesieforscher an der Universität Hannover hält es auch für möglich, dass sich Frauen einfach stärker zur synästhetischen Wahrnehmung bekennen, oder dass Synästhesie auch hormonell bedingt ist und durch Östrogene gesteuert wird.[53]
2.4 Erscheinungsformen der Synästhesie
Die deutsche Synästhesie-Gesellschaft unterscheidet drei Formen:
- Die genuine Synästhesie, zu der alle Arten von Synästhesie zählen, bei denen ein äußerer Reiz unwillkürlich eine synästhetische Wahrnehmung auslöst. Das Charakteristische besteht in der Unveränderlichkeit des synästhetischen Ausdrucks.[54] Die wahrgenommenen Bilder steigen automatisch bzw. ungewollt auf. Diese Form von Synästhesie ist nicht erlernt, sondern angeboren.[55]
- Die Gefühlssynästhesie, eine Unterform der genuinen Synästhesie, bei der Gefühle Wahrnehmungen auslösen. Gefühlssynästhetiker bilden dabei auf einer Art innerem Bildschirm nicht den Inhalt eines anderen Sinneskanals ab, sondern die eigenen emotionellen Gefühlszustände. Diese Wahrnehmungen unterliegen ebenso wie die daran beteiligten Emotionen einer gewissen Varianz.
- Die metaphorische Synästhesie, ein bisher wenig erforschtes assoziatives Phänomen, das bei jedem Menschen auftreten kann, bei dem Gefühlszustände imaginierte Wahrnehmungen auslösen.[56]
Die Synästhesieforschung befasst sich vor allem mit der genuinen oder auch konstitutionellen Synästhesie.
Das Gehirn von Synästhetikern ist zu so genanntem „Hyperbinding“[57] in der Lage. „Binding“ wird die Fähigkeit des menschlichen Gehirns genannt, eingehende Reize so mit einander zu verkoppeln, dass ein einheitliches Ganzes entsteht.[58]
Die Gehirne von Synästhetikern verfügen über weit mehr Kopplungen als die von Nicht-Synästhetikern. Einige Schätzungen gehen von 30[59], andere sogar von 50[60] möglichen Sinnespaarungen aus. Theoretisch sind Verbindungen zwischen allen Sinnesbereichen möglich, die häufigste Form ist jedoch das so genannte „Coloured Hearing“, die Ton-Farb-Synästhesie.[61] Visuelle Geometrie, sowie Geruchs- und Geschmackssynästhesien,[62] außerdem eine Spielart, bei der Buchstaben als männlich oder weiblich gesehen werden, gehören zu den seltensten Formen.
Die häufigste Form neben dem Farbenhören ist die so genannte „Farbe-Graphem-Synästhesie“, bei der visuelle Reize wie gedruckte Zahlen oder Buchstaben als Auslöser der Farbempfindungen fungieren. Zwar löst hier die Wahrnehmung von Buchstaben synästhetische Farbempfindungen aus, umgekehrt führt aber das Wahrnehmen von Farben nicht zu synästhetischen Wahrnehmungen von Buchstaben.[63]
Karl C. Mayer nennt in seinem Artikel „Wenn Töne farbig sind“ weitere mögliche Empfindungen von Synästhetikern:
- Farben können ein intensives Geruchserlebnis auslösen
- Farben können gehört werden
- Geschmack wird als Muster auf der Haut empfunden
- Geschmack wird als eiskalte Röhre auf der Haut wahrgenommen.
- Worte können gefühlt werden[64]
Synästhesien sind individuell einzigartig, so mag für den einen die Zahl fünf grün, für einen anderen blau erscheinen.[65] Wie bereits oben beschrieben sind sie nicht umkehrbar, so ruft die Zahl Vier beispielsweise das Wahrnehmen der Farbe Gelb, aber umgekehrt die Farbe Gelb nicht die Wahrnehmung der Zahl Vier hervor.
Jeder Farbe-Graphem-Synästhetiker verfügt über einen eigenen Farbcode für Zahlen, Buchstaben und Worte, der immer gleich bleibt. Studien des Universitätsspitals Zürich haben ergeben, dass für die meisten Synästhetiker die Null durchsichtig ist und höhere Zahlen eher dunkler wahrgenommen werden.[66]
Ein Experiment der Universität Waterloo im kanadischen Ontario zeigte, dass Synästhetiker, die ihre Zahlen farbig sehen, nicht einmal an Zahlen denken können, ohne Farben wahrzunehmen. Einer Versuchsperson, für die die Zahl sieben gelb war, musste lediglich die Gleichung „5+2=“ vorgelegt werden, um bei ihr die Empfindung von etwas Gelbem auszulösen.[67]
Obwohl die Wahrnehmungen der meisten Synästhetiker sehr individuell sind, stellte Simon Baron-Cohen 1999 in einem Experiment fest, dass für 89% von ihnen die Vokale I, O und U dieselben Farbtöne besitzen:[68]
„Acht von neun Versuchspersonen gaben an, dass das U im Farbspektrum von gelb bis hellbraun angesiedelt sei, I in dem von weiß bis blassgrau, während O weiß sei.“[69]
Die Farbsynästhesie kennt weitere Spielarten. So haben für manche Synästhetiker auch Wochentage und/oder Monate bestimmte Farben[70] oder Zeit wird sogar als dreidimensional und farbig wahrgenommen.[71]
2.5 Wie Synästhetiker die Welt erleben
Dass sie in einer Welt leben, die andere nicht verstehen, macht Synästhetiker mitunter einsam. Sie trauen sich nicht, anderen von ihren Wahrnehmungen zu erzählen, aus Angst, nicht für voll genommen oder sogar für verrückt gehalten zu werden[72], ähnlich wie auch der von Cytowic beschriebene Michael Watson.
Cytowic sprach mit zahlreichen Synästhetikern und berichtet, dass sich alle seine Gesprächspartner beim Beschreiben ihrer Wahrnehmung immer wieder entschuldigt hätten: „Ich weiß, das klingt verrückt, aber…“[73] Sie hatten sich abgewöhnt, über ihre Empfindungen zu sprechen, häufig schon in ihrer Kindheit, wenn sie feststellten, dass sie anders waren, dass niemand sie verstand und sie Ablehnung durch Familienmitglieder, Schulfreunde oder Lehrer erfuhren. So berichtet ein Synästhetiker beispielsweise:
„Meine Eltern hielten mich für sehr seltsam. Sie dachten, ich würde mir das ausdenken, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Jeder mischte sich mit psychologischen Erklärungen ein: Ich hätte eine überaktive Einbildungskraft, ich sei verzogen und wolle Aufmerksamkeit - eine ganze Menge Dinge.“[74]
Eine Synästhetikerin, die dem stellvertretenden Schulleiter ihrer High School erzählte, dass sie „orangenen Sorbetschaum“ sehe, wenn sie ihren Freund küsse, wurde daraufhin zum Schulpsychologen geschickt, eine andere berichtet, dass sie als Kind von einem Lehrer, dem sie von ihren Farben berichtet hatte, für schizophren erklärt worden war. Daraufhin sprach sie vorerst mit niemandem mehr darüber. Allerdings war ihre synästhetische Wahrnehmung in ihrer Kindheit ein solch großer Teil ihres Lebens, dass sie daraus einen Test für ihre Freunde machte. Diejenigen, die ihren Schilderungen nicht glaubten, wollte sie nicht zum Freund haben.[75]
Patricia Duffy berichtet von einer Synästhetikerin, die erzählte: „Als ich als Kind zum ersten Mal erwähnte, dass der Name von jedermann eine Farbe besitze, sagte man mir, dass ich sehr dumm oder sehr albern sein müsse, um solche Dinge zu behaupten.“[76]
Eine andere habe als Siebenjährige einer Mitschülerin gegenüber erwähnt, dass der Buchstabe A so eine schöne rosa Farbe besitze, woraufhin das andere Mädchen: „Du bist komisch!“ ausgerufen habe.[77]
Sylvia Meise beschreibt in „Psychologie heute“ den Fall einer Jugendlichen, die im Kindesalter durch ihre synästhetischen Empfindungen große Probleme hatte. So war es ihr durch die Fülle von Wahrnehmungen nicht möglich, in der Grundschule Diktate zu schreiben. Während sie noch mit der Farbwahrnehmung des ersten Wortes beschäftigt war, hatten die Mitschüler schon zehn oder zwölf Worte geschrieben. Die Lehrer hielten das Kind für verstockt und unwillig, die Eltern glaubten gar an eine psychische Erkrankung.[78]
Auch wenn die Deutsche Synästhesie-Gesellschaft darauf hinweist, dass es sich bei Synästhesie weder um eine Erkrankung, noch um eine Halluzination handelt[79], existiert dieser Gedanke, möglicherweise auch aus der NS-Zeit nachwirkend, in der Synästhetiker für geisteskrank angesehen wurden, noch immer. Der Synästhetiker Eckhard Freuwört hat auf seiner Homepage eine Sammlung von authentischen ablehnenden Zitaten von Nicht-Synästhetikern, die mit dem Phänomen Synästhesie konfrontiert wurden, zusammengetragen. So werden zum Beispiel die Eltern einer synästhetisch begabten Tochter mit den Worten: „Wir dachten immer, die spinnt und haben versucht, ihr den Quatsch auszutreiben“, zitiert. Ein Anwalt soll sich laut Freuwört 1993 wie folgt geäußert haben: „Für mich ist Synästhesie eine abnormale Wahrnehmungsstörung und solche Personen dürften eigentlich gar nicht am öffentlichen Leben und schon gar nicht an Wahlen oder am Straßenverkehr teilnehmen!“ Eine namhafte Illustrierte soll im Jahre 2007 einem Journalisten, der einen Bericht über Synästhesie schreiben wollte, die Anweisung: „Synästhesie ist eine Geisteskrankheit und entsprechend hat Ihr Bericht auszufallen!“ gegeben haben und eine Volkshochschule hat laut Freuwört einen Vortrag, der das Phänomen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen sollte, mit den Worten: „Für einen Vortrag zum Thema Synästhesie besteht kein Bedarf, weil wir uns nicht mit esoterischen Themen befassen“ abgelehnt.[80]
Angesichts solcher Reaktionen ist es sicherlich nachvollziehbar, dass viele Synästhetiker glauben, selbst nicht normal zu sein oder von anderen dafür gehalten werden zu können.
Andere jedoch gehen mit dem Phänomen selbstbewusster um, häufig auch, wenn sie erfahren, dass es andere Menschen mit ähnlichen Wahrnehmungen gibt. Die Musikpädagogin Elke Dlugos berichtet, dass sie sich nach der Lektüre eines Buches von Cytowic wie neu geboren gefühlt habe: „Das Ding bekam einen Namen, und das half mir, mich zu finden.“[81] Sie schildert ihre Wahrnehmungen folgendermaßen:
„Meine Gefühle haben Farben. Ich sehe Gelb, wenn ich ein unangenehmes Gefühl habe. Eine richtige Entscheidung erkenne ich daran, dass ich Blau sehe. Das ist wie normales Bauchgefühl – nur in Farbe.“[82]
Christine Söffing, Betreiberin der Synästhesiewerkstatt Ulm[83], schildert ihr Farbenhören folgendermaßen: „Wenn ich Musik höre, dann ist das bei mir ähnlich wie in diesen Bubble-Lampen, in denen farbige Formen entstehen, und die bubbeln oder bewegen sich dann durch den Raum.“ Beim Musikhören entstehen bei ihr sogar innere dreidimensionale Bilder, die sie von allen Seiten betrachten kann. „Die habe ich dann nachher wie in einem Diakasten im Kopf und kann sie später auch malen – dazu muss ich das nicht noch mal hören.“[84]
Von einer seltenen Form synästhetischer Wahrnehmung berichten Forscher der Universität Zürich. Bei einer jungen Flötistin, deren Reaktionen mehr als ein Jahr getestet wurden, konnte festgestellt werden, dass sie bei bestimmten Tonintervallen einen bestimmten Geschmack auf der Zunge wahrnimmt. Eine kleine Terz etwa schmecke salzig, eine große süß. In ihrem Beruf als Musikerin komme ihr das zugute.[85]
Auch andere Synästhetiker profitieren von ihren Wahrnehmungen. So fällt es vielen leichter, sich Jahreszahlen oder Telefonnummern zu merken, da sie unwillkürlich Farben mit ihnen in Verbindung bringen. Patricia Duffy berichtet von Geoffrey Chester, einem emeritierten Professor für Physik, für den die Wahrnehmung farbiger Zahlen einen Vorteil beim Ausarbeiten mathematischer Formeln bedeutet habe. Chester gibt an, Zahlen und Gleichungen schon immer in lebhaften Farben vor seinem geistigen Auge gesehen und bis zu seinem 62. Lebensjahr geglaubt zu haben, dass dies etwas völlig Normales sei, das alle Menschen so wahrnehmen.[86]
Christine Söffing hat ihre synästhetische Begabung ebenfalls im Umgang mit mathematischen Formeln geholfen. Sie summte diese so lange vor sich hin, bis sie eine Melodie dazu fand, „dadurch hatte die Formel dann eine Farbe. Und dann brauchte ich nur noch die Farben durch dreidimensionale geometrische Räume – Würfel – zu legen, um die ich Formeln warf wie eine Angelschnur. Wenn ich dann zum Beispiel drei Würfel nach oben und zwei nach rechts ging, kam ich am Ergebnis an – das habe ich nie jemandem erklären können.“[87]
Die Synästhetikerin Maria Rahdek berichtet, dass ihr ihre farbigen Buchstaben in ihrer Schulzeit eine Hilfe gewesen sein: "Musste ich ein Gedicht auswendig lernen, prägte ich mir seine Farben ein. Dann war es ganz leicht, es zu behalten!"[88]
Bei anderen Synästhetikern lösen statt einzelner Buchstaben ganze Worte Empfindungen aus. Richard E. Cytowic lässt eine Synästhetikerin („J.M.“) zu Wort kommen, deren Nichte ein Baby erwartete und an ihre Tante schrieb, dass sie es, falls es ein Junge sei, Paul nennen wolle. J.M. war bestürzt, denn „der Name Paul ist solch eine scheußliche Farbe, er ist grau und hässlich. Ich sagte ihr „alles, nur nicht Paul.“ Und sie konnte nicht verstehen, weshalb. Und als ich sagte, „er hat so eine hässliche Farbe, dieser Name Paul“, dachte sie, ich hätte den Verstand verloren. Schließlich dachte ich, dass es mich nichts anginge und dass sie tun kann, was sie möchte. Der Name ist vielleicht gar nicht schlimm, aber in meiner Vorstellung ist er schrecklich. Und das beeinflusst, wie ich Menschen gegenüber empfinde.“[89]
Patricia Duffy berichtet, dass sie über einen Synästhetiker gelesen habe, für den der Name Francis den Geschmack von „Baked Beans“ hatte.[90]
Auch wenn sie die Empfindungen ihrer Kinder nicht unbedingt verstehen oder nachvollziehen können, gibt es anders als in den zuerst genannten Beispielen von Cytowic aber auch Eltern, die Interesse an den Wahrnehmungen ihrer Kinder zeigen und versuchen, diese nachzuvollziehen. Patricia Duffy berichtet, dass sie als Sechzehnjährige herausfand, dass sie die Welt anders wahrnimmt als andere. Sie sprach mit ihrem Vater über ihre Kindheit und die Zeit, in der sie unter seiner Anleitung gelernt hatte, schreiben zu lernen. Nur das R sei ihr schwer gefallen, bis sie verstanden habe, dass sie zu einem P lediglich einen weiteren Strich hinzufügen müsse. „Und ich war unheimlich überrascht, dass ich einen gelben Buchstaben in einen orangefarbenen verwandeln konnte, indem ich einfach einen Strich hinzufügte.“ Als ihr Vater erstaunt reagierte, wurde ihr bewusst, dass eben nicht, wie sie bisher geglaubt hatte, die ganze Welt ihre Wahrnehmungen teilte.[91] Nach dem Gespräch über das synästhetische Empfinden seiner Tochter machte sich der Vater daran, Bibliotheken und Buchhandlungen nach Informationen zu diesem Phänomen zu durchkämmen.[92] Auf eine Kinderzeichnung seiner Tochter, die blaue Katzen darstellte, notierte er später: „Aktueller Nachtrag zu Pattys Kunstwerk. Sie hat mir heute erzählt, dass „Katze“ ein blaues Wort ist. Jetzt verstehe ich, warum diese Katzen blau sind.“[93]
3 Kreativität
3.1 Was ist Kreativität?
Der Begriff „Kreativität“ geht auf das lateinische Verb „creare“ zurück, was so viel bedeutet wie „etwas neu schöpfen“, „etwas erfinden“, „etwas erzeugen“, „herstellen“, aber auch „auswählen“ bedeuten kann. Ein weiteres lateinisches Wort klingt ebenfalls im Begriff „Kreativität“ mit an – „crescere“, was „werden“ oder „wachsen (lassen)“ bedeutet.
Eine genau Definition von Kreativität ist schwierig, obwohl, oder vielleicht auch gerade weil dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten immer mehr zum Modewort geworden ist[94]. Das Duden-Fremdwörterbuch definiert Kreativität als „Schöpferkraft“, die 1998 gegründete Gesellschaft für Kreativität e.V. bezeichnet Kreativität als „die Fähigkeit, Wissen und Erfahrungen aus verschiedenen Lebens- und Denkbereichen unter Überwindung verfestigter Struktur- und Denkmuster zu neuen Ideen zu verschmelzen.“[95]
Der ungarische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi ist der Ansicht, dass Kreativität über den größten Teil der Menschheitsgeschichte hinweg ausschließlich als ein Privileg höherer Wesen gegolten habe, der Götter der verschiedenen Religionen, denen man die Erschaffung des Himmels und der Erde zugeschrieben habe. Erst innerhalb der letzten tausend Jahre habe sich das Blatt gewendet, der Mensch habe begriffen, wie die Welt funktioniert und sei selbst zum Schöpfer geworden[96]. Für Csikszentmihalyi ist Kreativität „das kulturelle Gegenstück“ zur biologischen Evolution[97] und eine zentrale Sinnquelle im menschlichen Leben[98]. Eine genaue Definition liefert er allerdings auch nicht, er sieht das Problem darin, dass der Begriff „Kreativität“, wie er meistens verwendet wird, zu weit gefasst ist.[99]
In den letzten Jahrzehnten ist das Wort „Kreativität“ in verschiedensten Lebensbereichen und Zusammenhängen aufgetaucht und gebraucht worden. Zeitschriften beinhalten „Kreativ“-Rubriken, Volkshochschulen bieten Kurse an, Reiseveranstalter „Kreativ“-Ferien… Kreativität wird vorgegeben und in konsumentengerechte Portionen aufgeteilt. Siegfried Preiser und Nicola Buchholz kritisieren, dass dadurch der Begriff „Kreativität“ regelrecht sinnentleert worden sei und dass eine vorgefertigte und verordnete Kreativität nichts mehr mit wirklicher schöpferischer Ideenfindung und Gestaltung zu tun habe.[100]
Preiser ist der Ansicht, dass der Schlüssel einer Definition von Kreativität beim kreativen Produkt liege. Seiner Meinung nach erweist sich nur eine Person als kreativ, die auch kreative Ideen hervorbringt und ein Prozess nur dann, wenn sein Ergebnis ein kreatives Produkt ist.[101] Um dieses als kreativ zu definieren, muss es von einem nicht-kreativen Produkt abgegrenzt werden können.[102]
3.2 Das kreative Produkt
Wie aber lässt sich ein kreatives Produkt genau klassifizieren? Preiser und Buchholz nennen drei wesentliche Merkmale:
1.) Neuartigkeit
Eine Wiederholung von bereits Bekanntem ist nicht als kreativ zu bezeichnen. Eine kreative Idee muss neu sein, oder zumindest einige neue Elemente enthalten. Dafür muss sie nicht einmalig sein, aber für zumindest für die handelnde Person oder die Situation, in der sie sich befindet, muss die Idee etwas Neuartiges beinhalten.
[...]
[1] Meise, Sylvia, Wie bunt ist die Welt?, in: Psychologie Heute 7/2005, S.38.
[2] Ramachandran, Vilyanur S. und Hubbard, Edward M., Blauer Dienstag, duftende Fünf, in: Rätsel der Wahrnehmung (Dossier), in: Gehirn & Geist 2/2004, S. 24
[3] Grimm, Rudolf, Synästhetiker. Kognitive Fossile oder wirklichere Wirklichkeit?,
in: Stern.de (http://www.stern.de/wissenschaft/natur/:
Syn%E4sthetiker-Kognitive-Fossile-Wirklichkeit/543103.html), 17.07. 2005
[4] Preiser, Siegfried und Buchholz, Nicola, Kreativitätstraining. Das 7-Stufen-Programm für Alltag, Studium und Beruf, Augsburg, 1997, S.8
[5] Homepage der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V.:
http://www.synaesthesie.org/2synaesthesia/Syn_e4sthesie
[6] Cytowic, Richard E., Synaesthesia. A Union of the Senses. New York, 1989, S.1
[7] Lange, Volker, Synästhetiker: Farben hören, Töne sehen.
http://zeus.zeit.de/text/1996/22/synaesta.txt.19960524.xml
[8] Grimm
[9] Ramachandran und Hubbard, S.24
[10] Meise, S.38.
[11] Lange
[12] Dann, Kevin, Bright Colors Falsely Seen. Synaesthesia and the Search for
Transcendental Knowledge, New Haven, 1998, zitiert nach: Duffy, Patricia, Jeder blaue Buchstabe duftet nach Zimt. Wie Synästhetiker die Welt erleben, München, 2003, S. 73
[13] Duffy, S.68
[14] Duffy, S.73
[15] Duffy, S.76
[16] Haverkamp, Michael, Synästhetische Wahrnehmung und Design. Grundlagen:
Verknüpfung auditiver und visueller Attribute, in: Kalisch, Volker (Hrsg.), Synästhesie in der Musik. Musik in der Synästhesie, Essen, 2002, S.126
[17] Dann zitiert nach Duffy, S.77
[18] Cytowic, S.3
[19] Zimmermann, Felix, Ich sehe was, was du nicht siehst…, in: STERN Gesund leben. Das Magazin für Körper, Geist und Seele. 6/2007, S.113
[20] Govan, Michael, Geist und Technik: die Erfindung der gegenstandslosen Kunst. in: The Solomon R. Guggenheim Foundation New York (Hrsg.), The Guggenheim. Die Sammlung. Katalog zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 2006, S. 154
[21] Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, Bern, 2005, zitiert nach: Govan
[22] Zimmermann, S.113; Duffy, S.74
[23] Meise, S. 40
[24] Isau, Ralf, http://www.isau.de/werk/dunkle.html#synaesthesie
[25] Zimmermann, S.113
[26] Cytowic, S.10
[27] Cytowic, S. 11
[28] Ebd.
[29] Cytowic, S.11
[30] Zimmermann, S. 113
[31] Duffy, S.21
[32] Ebd., S. 66
[33] Cytowic, S.10
[34] Lange
[35] Cytowic, S.21
[36] Ebd.
[37] Zimmermann, S. 114
[38] Ebd.
[39] Ebd., S.115
[40] Meise, S.38
[41] Zimmermann, S. 115
[42] Ebd, S.114
[43] Duffy, S.27 ff.
[44] Maurer, Daphne und Maurer, Charles, The World of the Newborn, New York, 1988, zitiert nach: Duffy, S. 33
[45] Ebd., S.34
[46] Duffy, S.34
[47] Zimmermann, S.115
[48] Meise, S.38
[49] Ebd., S.38; Zimmermann, S.115
[50] Duffy, S.53
[51] Ebd., S.54
[52] Meise, S.40; Grimm
[53] Zimmermann, S.115
[54] Homepage der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V.
[55] Baron-Cohen, Simon und Harrison, John, Synaesthesia: Classic and Contemporary Essays, Oxford, 1997, zitiert nach Duffy, S.79
[56] Homepage der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V.
[57] Meise, S.38
[58] Ebd.
[59] Ebd.
[60] Ramachandran, Vilyanur S. und Hubbard, Edward M., S. 24
[61] Heinke, Nathalie, Das Y ist grau, das A ist rot, in: FAZ.net (http://www.faz.net/s/Rub02DBAA63F9EB43CEB421272A670A685C/Doc~EB68D5CD26B2B45ECA6720C302460F45D~ATpl~Ecommon~Scontent.html),19.05. 2002
[62] Ebd.
[63] Grossenbacher, Peter G. und Lovelace Christopher T., Mechanisms of synesthesia: cognitive and physiological constraints in: Trends in Cognitive sciences Vol.5, No.1, Jan. 2001, zitiert nach Sperling, Julia Maria, Räumliche Analyse und Farbverarbeitung im zerebralen Kortex: Studien mit funktioneller Magnetresonanztomographie zum visuellen Vorstellungsvermögen und der Synästhesie, Frankfurt am Main, 2003
[64] Mayer, Karl C., Wenn Töne farbig sind,
http://www.freenet.de/freenet/fit_und_gesund/gesundheit/gehirn_psyche/synaesthesie/index.html
[65] Ebd.
[66] FH Potsdam (http://emw.fh-potsdam.de/users/itdm/skinsk/webpage_synaesthesie2/ synietest2.html)
[67] Dixon, Michael und Merickle, Philip, 5+2=Yellow, in: Nature 406 (Juli 2000), zitiert nach Duffy, S. 122
[68] Duffy, S. 129
[69] Baron-Cohen, Simon, Wyke, Maria A. und Binnie, Colin, Hearing Words and Seeing Colours: An Experimental Investigation of a Case of Synaesthesia, in: Perception 16, 1999, zitiert nach: Duffy, S.129
[70] Ramachandran und Hubbard, S. 25
[71] Duffy, S.210
[72] Zimmermann, S.114
[73] Cytowic, S.25
[74] Cytowic, S.25
[75] Ebd., S.49
[76] Duffy, S.24 f.
[77] Duffy, S.98
[78] Meise, S.39
[79] Homepage der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V.
[80] Freuwört, Eckhard, Eckhards HP, http://asmodis.heim.at/synreak.htm
[81] Zimmermann, S.112
[82] Ebd., S.113
[83] Synästhesiewerkstatt Ulm, http://www.synaesthesiewerkstatt.de
[84] Meise, S.38
[85] Stern.de (http://www.stern.de/wissenschaft/mensch/537220.html?nv=ct_mt)
[86] Duffy, S.119 ff.
[87] Meise, S.40
[88] Lange
[89] Cytowic, S.51
[90] Duffy, S.19
[91] Duffy, S.17 f.
[92] Ebd., S.20 f.
[93] Ebd., S.26
[94] Preiser, Siegfried, Kreativitätsforschung, Darmstadt, 1986 (2.Auflage), S.1
[95] Gesellschaft für Kreativität e.V., http://www.kreativ-sein.de/k/kreativitaet.html
[96] Csikszentmihalyi, Mihaly, Kreativität, Stuttgart, 1997, S.14f.
[97] Ebd., S.17
[98] Ebd., S.9
[99] Csikszentmihalyi, S. 43
[100] Preiser und Buchholz, , S.10
[101] Preiser, S.1f.
[102] Ebd., S.5
- Quote paper
- Christine Moje (Author), 2009, Steigerung der Kreativleistung durch Synästhesietraining in der Förderstufe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196852
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