Himmel über Fluxus

Eine Biographie des New Yorker Künstlers Geoffrey Hendricks


Textbook, 2012

231 Pages


Excerpt


Inhalt

1. Erste Begegnungen mit dem Künstler Geoffrey Hendricks: Die Frage von Fluxus
1.1. Im Fluxus Kontext: Salzburger Sommerakademie 2009
1.2. Fluxus und mehr: New York, 2010 und 2011
1.3. Die Sichtweise des Performativen Schreibens

2. Fluxus und darüber hinaus
2.1. Die Entdeckung des Selbst
2.2. Die erneute Frage von Fluxus
2.3. Kunst als Erfahrung

3. Das Leben des Geoffrey Hendricks: Biographische und historische Details (1953-1983)
3.1. Die frühen 1950er Jahre: New York und seine Künstler
3.2. 1953: Geoffrey Hendricks kommt nach New York
3.3. Die zerrissenen 1960er Jahre: Zwischen Freiheit, Spiritualität, Konsum und Popglamour
3.4. Die befreienden 1970er Jahre: Auf dem richtigen Weg, im Kampf, voller Zweifel
3.5. Die tragischen 1980er Jahre: Alte Themen in neuen Kleidern

4. Reflektionen und Denkanstöße zum Schluß: Die Transzendenz des Selbst
4.1. Der Lebensrhythmus: Die Biographie und ihre Dynamik
4.2. Über das Selbst hinaus: Quaker, Mescalin, und ein erweitertes Bewusstsein
4.3. Zum Schluss: Das spirituelle Moment

5. Anhang: Photographien

1. Erste Begegnungen mit dem Künstler Geoffrey Hendricks: Die Frage von Fluxus

Wenn man die Interpretation eines künstlerischen Werkes in Angriff nimmt, so hat dieses Unterfangen irgendwann und irgendwo einen Anfang. Ein Anfang, der zunächst in der Entscheidung liegt, lediglich eine ausdifferenzierte einzelne Schaffensperiode des Künstlers gründlich zu betrachten, oder das Augenmerk (weniger tief) auf das Gesamtwerk zu legen, um ein grundsätzliches Verständnis zu erlangen. Für diese Arbeit fiel ganz klar die Entscheidung für die letztere Variante. Es sollte für den Interessenten ein Überblick geschaffen und eine passende Struktur gefunden werden, innerhalb derer das Werk verstanden wird. Der Anfang im Weiteren kann dann entweder sehr unpersönlich und mittelbar sein, liegt dann eher in einer überwiegend literarischen Annäherung, weil der Künstler unter Umständen schon verstorben ist und außer bibliographischen Quellen und mit viel Glück den Originalen der Kunstwerke kein anderer Zugang mehr vorhanden ist. Oder der Anfang ist ein sehr direkter, unmittelbarer und liegt gerade in einer persönlichen Begegnung mit dem Künstler. Der persönliche Zugang war hier der Fall.

Meine erste Begegnung mit dem New Yorker Künstler Geoffrey Hendricks fand statt im Juli 2009 in der Sommerakademie in Salzburg. Hier hatte er den Kurs „Der Künstler als Nomade“ inne, Rubrik Performance. Die Tatsache, dass eine Begegnung, außer sie ist überraschend ungeplant, selten ohne Vorabinformation stattfindet, hatte auch für diese Begegnung Bedeutung. Die Information, die hier prägte und ohne Zweifel gewisse Erwartungen schürte, war die, die Sommerakademie zur Verfügung stellte in ihrer Broschüre.

Es waren dies diese basalen biographischen Details, wie Geburtsort (Littleton, New Hampshire, USA), Geburtsjahr (1931), Studium (Columbia University, New York, 1956- 1959), künstlerische Lehrtätigkeit (Rutgers University, New Jersey, 1956-2003). Andere Information war des Weiteren einerseits bezogen auf Geoffrey Hendricks` Nähe/Zugehörigkeit zu Fluxus.

Fluxus, diese internationale Künstlergruppe bzw. Künstlerbewegung der 1960er Jahre, deren unbemerkter Ursprung zum einen irgendwo zwischen Darmstadt und Köln in Deutschland Ende der 1950er Jahre, innerhalb des Zirkels des Komponisten Karlheinz Stockhausen, den Künstlern LaMonte Young und Nam June Paik und der Performerin Mary Baumeister, und zum anderen in New York in dem Kurs des Experimentalkomponisten John Cage an der New School for Social Research in den

Jahren 1957-1959 angesiedelt wird, ohne, dass hier der Name Fluxus bereits existent gewesen wäre.

Fluxus, das einmal, immer noch vor der wirklichen Manifestierung und nur ganz kurz, den Namen Neo-Dada trug, ganz klar in Anspielung auf diese berühmte Bewegung des Dada, das 1916 schon in Zürich als anti-soziale und avantgardistische Künstlerbewegung gegründet worden war.

Fluxus dann, bald versehen mit genau diesem Namen, ein frühes Kind der Gedanken von George Maciunas, einem lithauischen Designstudenten, Kunsthistoriker und erfolglosen Händler antiker Musikinstrumente in New York, der die Arbeiten der Künstler, die sich um John Cage geschart hatten, in einem Magazin mit dem Namen Fluxus veröffentlichten wollte. George Maciunas gilt fast unbestritten als der Fluxus Gründer.

Fluxus ein bisschen später wiederum, Anfang der 1960er Jahre, eine Serie von Konzerten in europäischen Städten.

Fluxus des weiteren, wieder mehr mit dem Schwerpunkt New York, als Organisation, als verlegerisches Projekt, entstanden aus diesen Konzerten, die unter der Ägide von George Maciunas das Copyright dieser Künstler schützen, die ein Monopol dieser Kunst aufbauen und die ein Gegenpol zur ernsten Kunst sein wollte. Maciunas hatte dabei eine (lebenslange) urheberrechtliche Exklusivvereinbarung zwischen den beteiligten Künstlern und Fluxus im Sinn, innerhalb deren Rahmen Fluxus Jahresboxen und andere Fluxuseditionen erscheinen sollten.

Fluxus schließlich als diese internationale Künstlergruppe, über die sich nicht einmal die eigenen Mitglieder sicher und einig waren, was sie denn nun genau war bzw. sein sollte. So konstatierte die Tochter der Fluxuskünstler Alison Knowles und Dick Higgins, Hannah Higgings, in ihrem Buch „Fluxus Experience“: „Since Fluxus artists never seem to agree on anything, Fluxus has become „a pain in art`s ass”, in the words of Fluxus artist Ben Vautier. Neither the style nor the substance or significance of what they do produces consensus among the artists. Production ranges from minimal performances, called Events, to full-scale operas, and from graphics and boxed multiples called Fluxkits to paintings on canvas. The artists come from almost every industrialized nation, they span several generations, and many dislike each other. Accurately portraying Fluxus therefore requires thinking about art in a way that forgoes the normally definitive terms of style, medium, and political sensibitlity.”1 Allein George Maciunas, dieser exzentrische Namensgeber und Mann, der schlechthin als Gründer und strenger Statthalter von Fluxus galt, schien bis zu seinem Tod 1978 genaue Vorstellungen über diese Künstlergruppe zu haben. Er formulierte und veröffentlichte unablässig Regeln, Pamphlete und Mitgliederlisten, an die sich dann doch keiner hielt. Fluxus dann auch ganz klar für diese Künstlerbewegung gewählt als ein Wort mit einer Reihe ganz spezifischer Bedeutungen, die von George Maciunas in einem „Manifesto“ 1963 aus Lexikas zusammengetragen wurden. Fluxus demnach:

„To affect, or bring to a certain state, by subjecting to, or treating with, a flux. “Fluxed into another world” (…).” Oder eine medizinische Definition: “To cause a discharge from, as in purging.”

Dann: “flux (…). 1. Med. a) A flowing or fluid discharge from the bowels or other part; esp. an excessive and morbid discharge; as, the bloody flux, or dysentery. b) The matter this discharged.

Oder eine chemische Definition: “(…) Any substance or mixture used to promote fusion, esp. the fusion of metals or minerals. (…) Any substance applied to surfaces to be joined by soldering or welding (…).”

Fluxus also als ein wandelbares, nicht wirklich greifbares Phänomen, dem offensichtlich der New Yorker Geoffrey Hendricks angehörte.

Zum anderen bezog sich die Information der Salzburger Akademie auf seine Tätigkeit an der Rutgers University, New Jersey, an der er von 1956 bis 2003 fast ein halbes Jahrhundert Kunst gelehrt hatte. Als Lektüre wurde u.a. sein Buch „Critical Mass, Happenings, Fluxus, Performance, Intermedia and Rutgers University 1958-1972“ empfohlen, das Geoffrey Hendricks im letzten Jahr seines Engagements für die Universität veröffentlichte und in dem er nochmals Revue passieren ließ. Und als ich mich der Lektüre dieses Buches widmete, erfuhr ich bspw., dass Geoffrey Hendricks neben Allan Kaprow, dem Vater des Happening, oder auch George Segal, Robert Watts und dem Popkünstler Roy Lichtenstein u.a. lehrte, und unter den Schülern Robert Whitman oder Lucas Samaras waren. Außerdem gab es wohl eine fast direkte Beziehungslinie zum berühmten Black Mountain College. Dem College, dem Josef Albers lange vorstand, an dem u.a. Willem und Elaine de Kooning gelehrt hatten, und das John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Ray Johnson und Robert Rauschenberg in den 1940er und 1950er Jahren zusammengebracht hatte, bevor es 1957 seine Tore schloss. Geoffrey Hendricks wurde hierzu zitiert: „Through creative activity and friendships, and with Cage`s class at the New School as a connecting link, one could draw a line from Black Mountain College to Rutgers University - time, place, and people that chance had brought together.”2 Alles in allem also eine illustre New Yorker Künstlerschar, in welcher Geoffrey Hendricks zu Hause war.

1.1. Im Fluxus Kontext: Salzburger Sommerakademie 2009

Mit dieser Vorprägung, Fluxus, New York und Rutgers University, begann ich den zweiwöchigen Kurs „Der Künstler als Nomade“. Er war untergebracht in einer alten Saline in Hallein bei Salzburg. Im Erdgeschoss des leicht verfallenen Holz-Stein- Gewölbes waren noch Überreste alter Salzberge vorzufinden, eine wunderbare Bühne für Performances aller Art. Darüber eine Art Galerie mit knarxenden Holzböden, von der man aus nach unten auf die Salzberge sehen konnte, und wo alte Tische und Stühle standen, an denen man arbeitete.

Nach einer allgemeinen Vorstellungsrunde wurde gleich in medias res gegangen und Geoffrey Hendricks forderte dazu auf, das Stück „Gangsang“ des Fluxus Künstlers Dick Higgins zusammen umzusetzen. Es ging darum, in voller Bewusstheit einen Schritt nach dem anderen zu vollziehen. Einen Fuß nach vorne bringen, absetzen, abrollen, gleichzeitig den anderen Fuß nachziehen, nach vorne bringen, absetzen, abrollen, gleichzeitig bereits wieder den anderen Fuß nachziehen, nach vorne bringen, absetzen und abrollen usw.. Mit anderen Worten eine ansonsten völlig alltägliche, selbstverständliche und meistens völlig unbewusst vollzogene Handlung, nämlich das „Gehen“, nun in aller Einzelheit in völlige Aufmerksamkeit zu bringen. Schon nach kurzer Zeit fühlte sich das Gehen seltsam an, peinliches Lachen ertönte, weil nun plötzlich etwas gemacht wurde, was ansonsten nicht der Rede wert war, schon gar nicht der Kunst.

Geoffrey Hendricks erzählte uns in diesem Zusammenhang, als alle Studenten begannen, über das Rätsel und den Sinn von Fluxus zu philosophieren, dass die Fluxus Künstler dagegen waren, Fluxus in eine fassbare, rigide Form zu bringen. Fluxus sollte lebendig und wandelbar bleiben, denn das war ja nach ihrer Auffassung gerade der Kern dieser Kunst. Die Realität, das bunte Leben selbst, der Alltag war die Basis für diese Kunst. Überkandidelte Ideale waren fremd, künstlerische Normen und Erwartungen wurden komplett über Bord geworfen und es wurden keinerlei kommunikative Zwecke verfolgt. Kunst und Nichtkunst waren keine relevanten Kategorien. Kunst sollte Leben sollte Kunst sein und so auf einzigartige Weise die Erfahrung des Lebens vertiefen.3

Wir erfuhren, dass das so simple Kunstformat, wie man es gerade nach Ben Patterson vollzogen hatte, Score genannt wurde. Die Scores, diese simplen Handlungsanweisungen auf Papierkarten oder Ähnlichem, die die Interessenten zum Vollzug eben gerade einer simplen Aktionen, zum Event, aufriefen, auch mit der Absicht, die in der Einfachheit liegende Besonderheit aufzuzeigen. „In the Event, everyday actions are framed as minimalistic performances or, occasionally, as imaginery and impossible experiments with everyday situations.”4

Der Score, der dabei ursprünglich als Erfindung des Fluxus Künstlers George Brecht gilt, und so wurde auch eine Arbeit von George Brecht, Drip Music (1962), die aus einer Leiter, einer kleinen Wanne und einem Krug/Kanne bestand, besprochen und umgesetzt. Der Score dazu besagte nichts Einfacheres als eine Kanne mit Wasser zu füllen, mit der Kanne auf die Leiter zu steigen und die Kanne langsam, immer wieder unterbrechend, auf der Leiter stehend in die auf den Boden vor der Leiter stehende Wanne zu leeren. Man sollte dem Wasser zuhören, wie es auf den Boden aufkommt, dieser Tropfenmusik zusehen, wie es auseinanderplatscht, mal mehr, mal weniger Wasser ausschütten, die Unterschiede dabei beobachten usw.. Jeder der Studenten stieg auf die Leiter und ließ die Wassertropfenmusik erklingen.

Fluxus lernte ich also in dieser Praxis der Sommerakademie schnell und eindringlich als Kunst im Sinne von Alltag / Realität kennen. Kunsterfahrung und Alltagserfahrung gingen ineinander über, in einer sehr aufmerksamen Art und Weise. Es konnte gar nicht bei einem unbeteiligten Zuschauen bleiben, die diese Kunsterfahrung nahe brachte. Es war das involvierte Mitmachen, das Eintauchen in und das Umsetzen der Kunst. Diese Kunst kannte keine Distanz. Diese Kunst forderte zur Aktion auf und die Aktionen reichten hinüber ins Leben, veränderten gewohnt unaufmerksame Sichtweisen hin zu größerer Aufmerksamkeit.

Fluxus machte sich in meinen Gedanken breit - vereinnahmte meinen Horizont des Tages und Alltages. Ich tauchte ganz und gar in Fluxus ab. Die Fluxus Erwartungen, geschürt durch die Informationen der Salzburger Sommerakademie, wurden bestätigt. Geoffrey Hendricks trat dabei auf als lebendiger Teil, und v.a. als Lehrer von Fluxus.

Es wurde in diesen Tagen auch ein Dokumentarfilm von Larry Miller gezeigt, der das Memorial Fluxus Konzert für George Maciunas (1978) zeigte. Ich sah die Fluxus Künstlerin Alison Knowles auf einer Bühne mit Bohnen hantieren, Instrumente wurden zertrümmert oder es wurde mit ihnen musiziert, Hüte wurden in die Luft gehoben oder einfach nur getragen, es wurde mit Stöcken zum Takt geschlagen, und andere seltsame Aktionen wurden durchgeführt.

Dieser Film erklärte und verdeutlichte nochmals, dass Fluxus seine frühen Wurzeln in der experimentellen, nicht selten performativ vorgetragenen, Musik hat, wie eben die von John Cage, aber auch die des deutschen Komponisten Karlheinz Stockhausen. Karlheinz Stockhausen war seit den 1950er Jahren im Zentrum der experimentellen Musik. Er hatte einen Ferienkurs in Darmstadt, der von den Fluxuskünstlern LaMonte Young (1958) und Nam Jun Paik (1957-58) besuchte wurde und gleichzeitig eng verbunden war mit dem experimentellen Darmstädter Zirkel für Poesie und Theater, in dem wiederum der Fluxus Künstler Emmett Williams zu Hause war. Von 1958 bis 1963 arbeitete Stockhausen (zusammen mit Paik) sowohl in dem elektronischen Musikstudio des WDR in Köln, als auch in dem einflussreichen Performanceatelier seiner Frau Mary Baumeister. Eine internationale Riege von Künstlern, die später mit Fluxus in Verbindung gebracht werden sollten, gingen in diesem Atelier ein und aus, wie z.B. Paik, Williams, der Deutsche Wolf Vostell oder der Amerikaner Benjamin Patterson. In den Jahren 1960/1961 wurden dann Events aus der Kompositionsklasse von John Cage in diesem Atelier präsentiert und später auch auf dem Contre Festival in Köln.5 Von dort aus erst entwickelte sich der für Fluxus typische Score und der Event, den man schon kennengelernt hatte. Doch noch etwas später, fast unabhängig davon, kam dann auch die Form des Flux Kit, das zumeist ein Multiple war, also eine Auflage hatte, nur selten ein Unikat war. Der Fluxkit war dabei auch als Ausfluss der Idee von George Maciunas zu verstehen, der Fluxus quasi als Marke erkennbar, vermarktbar, vervielfältigbar und so verkaufbar gestalten wollte. Der erste Flux Kit, als zweite Publikation von Fluxus, erschien 1965 und war als Game Box konstruiert, in welcher Flip-Books, lose Gegenstände und Fläschchen in Holzfächern präsentiert wurden, „(…) eine Anthologie aller bislang erschienener Fluxus-Publikationen im Koffer für den „Geschäftsmann“, der bereit war, etwas mehr Geld auszugeben.“6

Auch Geoffrey Hendricks hatte die Form des Flux Kit immer wieder verwendet und erzählte von seinem „Flux Reliquary“ aus dem Jahre 1970, das heute im Hood Museum of Art in Dartmouth College zu finden ist. Dieses Werk bestand ganz in Linie des Flux Kit aus einer durchsichtigen Plastikbox, die sieben Unterteilungen hatte mit sieben verschiedenen Fluxus Relikten und in dessen Deckel ein Aufkleber war, auf dem nach außen hin u.a. in tanzenden Buchstaben „flux reliquary by Geoff Hendricks“ stand, und nach innen der Inhalt der einzelnen Inhalte der sieben Unterteilungen erklärt wurde. Es war ein satirisches und zugleich provokant-zynisches Werk. Zu dem Fluxus Relikt eines gelben geschmolzenen Plastikstückes hieß es so bspw. „Flux Relic No. 7, Sweat of Lucifer from the Heat of Hell”, oder zum Flux Relict No. 6, eine kleine durchsichtige Plastikkapsel mit Messingnägeln, „Nails from the cross of St. Andrew”, oder die Erklärung zu dem kleinen Kieselstein, er war das Fluxus Relikt mit der Nummer 5, war schließlich „The final stone that killed St. James the Less“.

So bekamen wir ein wenig das Gefühl für Fluxus und fassten für uns zusammen, dass die Event Performance, als performative Umsetzung der Event Scores, und Flux Kit Multiples die zwei wichtigsten Formate waren, die Fluxus ein wenig erkennbarer machten und zumindest ein äußeres Erscheinungsbild gaben, an dem man sich festhalten konnte. Nichts anderes sagte im Übrigen ausgewählte Fluxus Literatur dazu: „Invented by Fluxus, these constitute the common denominator of Fluxus practice, although Fluxus artists have also explored other formats, such as music and graphic and painted work. (…) the Event performance typically consists of simple, everyday actions such as viewing a chance occurrence through a keyhole or polishing a violin. Fluxkit multiples generally consist of everyday objects or cheaply printed cards assembled in a box for the often private explorations of a viewer (…).”7

In diesem Zusammenhang von Konzert, aber v.a. Theater und Performance, tauchte auch Allan Kaprows Erfindung, das Happening, auf, das 1958 das Licht der Kunst der New Yorker Avantgarde Szene erblickte. Das Happening dabei durchaus als Event zu sehen, wie sie auch Fluxus Künstler feilboten, wenn sie sich auch in mancher Hinsicht unterscheiden: Simpel, unkonventionell, überraschend spontan, nicht wiederholbar (der Flux Score hingegen ist gerade wiederholbar), ohne speziellen Hintergrund oder einer tiefen Aussage, zuweilen primitiv, provisorisch, vorwiegend in ungewöhnlichem Kontext wie Künstlerlofts, leer stehende Läden, Keller oder einfach auf der Straße, so dass Audienz und Künstler sich bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermengen.

Außerdem folgten Gespräche mit Geoffrey Hendricks, die ich außerhalb des Kurses unter vier Augen mit ihm führen durfte. Allesamt Gespräche, die um das Thema Fluxus kreisten. Wir saßen in dem kalten, klammen Raum der alten Saline, die unseren Kurs beherbergte, an einem großen quadratischen Tisch, dessen Oberfläche uns die Inschriften und Gravuren aller vergangenen Studenten zu zeigen schien. Viele Fluxus

Anekdoten wurden preisgegeben, so erzählte er von seiner Freundschaft zu den Fluxus Künstlern Alison Knowles und Dick Higgings, vom steten künstlerischen Austausch, den simplen, spontanen Kunstevents, die sie initiierten, wie Kunst und Leben eben unaufgeregt und mühelos zusammenwuchsen und schließlich ganz und gar zusammengehörten.

Ich setzte mich im Rahmen der Sommerakademie außerdem mit anderer Fluxus Lektüre auseinander, die zum Teil von der Akademie zur Verfügung gestellt wurde, oder ich in Eigeninitiative besorgt hatte. Darunter u.a. der große, schwere, spiegelnde Katalog „Fluxus-Virus 1962-1992“ der gleichnamigen Ausstellung in Köln der Galerie Schüppenhauer, die erst im „Temporären Museum“ des Kölnischen Kunstvereins gezeigt wurde, dann im Aktionsforum Praterinsel in München. Die essayistischen, sehr diversen Beiträge des Katalogs handelten z.B. von Ina Conzen Meairs von Fluxus und Poesie, von Owen F. Smith über Fluxus als Weltanschauung, oder Dieter Ronte bzgl. Fluxus und Dada, schließlich David T. Doris über Fluxus und Zen oder Michael Erlhoff über Fluxus und Design. Das Phänomen Fluxus also vielseitig, interpretationsoffen, mit Vielem verwandt und doch nicht gleich. Es waren 41 Fluxus Künstler beteiligt (neben 21 zusätzlichen Intermedia Künstlern), darunter die bekannteren Künstler Joseph Beuys, George Brecht, John Cage, Ken Friedman, Al Hansen, Geoffrey Hendricks, Dick Higgins, Alison Knowles, George Maciunas, Jackson Mac Low, Yoko Ono, Name June Paik, Ben Patterson, Daniel Spoerri, Ben Vautier, Wolf Vostell, Robert Watts, Emmett Williams. Man sah darin u.a. schwarz-weiß Fotos der performativen FLUXUS Ausstellung in dem alternativen Kunstort The Kitchen in New York, am 24.3.79. Ein Foto zeigte sechs Künstler auf einer Bühne stehend, darunter Alison Knowles und Robert Watts, mit schwarzen Hüten, die sie zu unterschiedlichen Zeiten vom Kopf lüfteten, und weißen Papierrollen in der Hand, die von ihnen auf den Boden entrollt wurden. Ein scheinbar völlig sinnloses Unterfangen. Oder vier andere Fotos, die Al Hansen am 21.9.1990 in Wien auf einem Stuhl sitzend zeigen. Man kann den Ablauf der Performance „…for the fluxus dead“ sehen, in der es wohl einzig und allein darum geht, dass Al Hansen seinen Kopf mit ordinärem Kreppband langsam umwickelt, bis das Gesicht nicht mehr zu sehen ist und die Krepprolle auf dem Kopf zum Stehen kommt. Schließlich ein kleines Foto von Geoffrey Hendricks. Er sitzt in einem VW Käfer, der über und über mit Wolken bemalt ist.

Über Geoffrey Hendricks las ich auf Seite 279 neben den üblichen Aufzählungen der Ausstellungen folgendes:

„American. Born in Littleton, New Hampshire July 30, 1931. In the late 1950s Hendricks joined the faculty at Rutgers University, which at the time included Robert Watts, Al Hansen and Allan Kaprow. This group formed the core of the proto-Fluxus group at Rutgers, many of whom participated in John Cage´s classes at the New School of Social Research 1957-58. Hendricks, however did not, instead he pursued studies in art history at Columbia. In 1961 he married Bici Forbes, and together they had two children Bracken and Tyche, they divorced symbolically in 1971 and legally 1974. With Bici Forbes he founded the Black Thumb Press. In 1971 he „discovered his love for men“, and in 1976 he met Brian Buczak, with whom he lived until Brian`s death from Aids on July 4 1987. Brian Buczak and Geoffrey Hendricks co-founded the Money for Food Press in 1977, and in that same year Geoffrey Hendricks became member of Printed Editions. He currently lives in New York.”8

In diesem Zitat steckten viele neue Details, die die Sommerakademie bislang so nicht kommuniziert hatte, und die den Horizont sanft öffneten. Und ein sehr interessantes Detail war, dass Geoffrey Hendricks offensichtlich Ende der 1950er Jahre einen Weg eingeschlagen hatte, der ihn von der ersten Garde der Fluxus Künstler unterschied, als er nämlich begann, Kunstgeschichte an der Columbia Universität zu studieren. Andere Details betrafen sein persönliches Leben. Eine Ehe, aus der zwei Kinder hervorgegangen waren, und die Scheidung nach 10 Jahren, weil er seine Homosexualität erkannt hatte. Schließlich die Tatsache, dass er 1977 einen kleinen Verlag mit dem Namen Money for Food Press gegründet hatte, zusammen mit seinem Partner Brian, der 1987 an AIDS verstarb.

An anderen Tagen wurden dann auch praktische Aufgaben an uns Studenten herangetragen. So wie „Map“, die offene Kreation einer Karte.

Die Karte als Symbol für Reise, der Verortung von Plätzen und Orten, von Bewegung und Raum, und schließlich Erfahrung. Erfahrung im doppelten Sinn. Das Erfahren im realen Raum, mit Fortbewegungsmitteln. Dann aber auch die Erfahrung, die eher das Geistige, das Mentale meint. Also eine physische und/oder mentale Reise, auf die sich der Künstler als Nomade begeben kann. Geoffrey Hendricks blieb dabei offen. Seine Erwartungshaltung war eher eine, keine zu haben, und so unterschiedlich waren dann auch die Ergebnisse der Studenten. Diese Aufgabe war im Sinne des Künstlers als Nomade, aber auch ganz klar eine Anspielung auf die Internationalität, die Fluxus auszeichnete. Man las erneut bei Hannah Higgins „Fluxus Experience“:

„(…) the Fluxus movement (…) was (…) international, interdisciplinary, and generationally broad (with artists of three generations from the United States, every

Western and Eastern European country, and Korea and Japan working in sound, text, performance, and new media).”9

Und doch war die Internationalität nur ein Merkmal unter vielen, die Fluxus versuchten zu beschreiben. Der Fluxus Künstler Dick Higgins hatte 1982 eine Liste mit neun Eigenschaften erstellt, die seines Erachtens für Fluxus Gültigkeit hatten. Auch wenn er diese Liste anschließend zweimal revidierte, so blieb doch der Kern bestehen:

1. „internationalism
2. experimentalism and iconoclasm
3. intermedia
4. minimalism or concentration
5. attempted resolution of the art/life dichotomy
6. implicativeness
7. play or gags
8. ephemerality
9. specificity”10

Fluxus also eine internationale, experimentelle, am Spaß orientierte, intermediale, vergängliche, der Dichotomie von Leben und Kunst widersprechende, minimalistischkonzentrierte, den Menschen tief involvierende und außerdem spezifizierende Kunstform bzw. Kunstgruppe.

Eine große Sammelausstellung aller Studenten aller Kurse bedeutete das Ende für die Sommerakademie von Salzburg und so auch für den Kurs “Der Künstler als Nomade“. Da es ein Performancekurs war, führten die Studenten kleine Happenings und Events auf, so simpel und alltäglich wie Fluxus sie gelehrt hatte. Geoffrey Hendricks selbst machte einer seiner Kopfstände, eine Form der Kunst, die ihn seit den 1960er Jahren begleitete. Zahlreiche Postkarten, gedruckt in seinem Verlag „Money for Food Press“, erinnern daran, zeigen ihn an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Anlässen, zwischen den Füssen hängend simple Botschaften, ganz im Fluxus Sinne. Durch diese Postkarten erneut also die Bestätigung, dass das Fluxus Gedankengut von Geoffrey Hendricks gelebt wurde, indem er vervielfältigte, druckte, verlegte, verteilte. Auch andere Fluxus Künstler hatten im Übrigen den Verlagsgedanken verfolgt. So gründete

Dick Higgins 1964 den Verlag „Something Else Press“, um v.a. Fluxus Arbeiten veröffentlichen zu können. Bis 1973 war dieser Verlag aktiv.

Mit diesen Informationen, mit diesen ersten Erfahrungen mit Geoffrey Hendricks, den Erinnerungen an diese Gespräche, begann ich meine ersten Schritte der Auseinandersetzung mit seinem Gesamtwerk. Ich öffnete dabei ganz unbewusst die Fluxus Schublade, wenn ich gedanklich Wege der Interpretation, Möglichkeiten der Gliederung einschlug, wenn ich Literatur recherchierte. Geoffrey Hendricks als Fluxus Künstler war wie ein Stempel, der diesen Künstler durch und durch prägte. Und lange nahm ich diese Vorprägung hin.

Doch dann kam meine zweite Begegnung mit Geoffrey Hendricks und die fand statt in New York. Dort, wo er seit den 1950er Jahren lebt und arbeitet. In seinem Haus in der Greenwich Street. Und hier begann sich mir eine völlig neue Welt zu eröffnen. Eine Welt, die natürlich Fluxus kannte, zu einem anderen, neuen und unbekannten Teil, aber einfach nur Geoffrey Hendricks hieß. Eine Welt voller neuer, unterschiedlicher Orte und Phänomene, die da plötzlich hießen Himmels-/Wolkenmalerei, (meditative) Performance oder Body Art. Eine Welt voller historischer Ereignisse in einem viel umfangreicheren Kreis von Kunst und New York, voller biographischer Details. Eine Welt, die mir völlig neue Versprechungen gab, die Fluxus fast verblassen ließen. Es war als würde die Fluxus Kruste aufgebrochen werden und zum Vorschein käme ein neues Etwas, das es nun zu entdecken gab.

1.2. Fluxus und mehr: New York, 2010 und 2011

Geoffrey Hendricks` New Yorker Haus liegt in der Greenwich Street, nahe der Houston Street, dort, wo SoHo in Tribeca übergeht. Hier wohnt er seit 1976. Nebenan sein Bruder Jon Hendricks, ein Kunsthistoriker und Kurator (Schwerpunkt Fluxus!), der die zwei Häuser 1975 fand. Das Haus gleicht eher einem Museum denn einem Wohnhaus. Zwischen den gesammelten und/oder geschenkten Werken seiner Künstlerfreunde, wie die zerlöcherte Partitur von Dick Higgins gleich unten links hinter der Eingangstür oder das Bild von Alison Knowles, auf dem George Maciunas beim Essen zu sehen ist und das im Treppenhaus vor dem Dachboden hängt, oder last but not least eine Collage von Ray Johnson, in der Hershey Papier verarbeitet wurde, die meisten aus dem Umfeld des Fluxus, entdeckte ich viele andere historische Fundstücke, Erinnerungen, aber auch die Werke des Künstlers selbst.

Ein leicht modriger Duft vergangener Zeiten wehte mir aus jeder Ecke entgegen. Enge, verschachtelte und steile Treppen mit ausgetretenen Stufen verbinden die drei Stockwerke - die Zimmer sind klein und dunkel, zum einen weil durch die winzigen Sprossenfenster kaum Licht hineinkommen kann, zum anderen weil Hochhäuser das wie ein Puppenhaus wirkende Haus umgibt und lange Schatten werfen. Der Hinterhof, den Geoffrey Hendricks mit seinem Bruder teilt, hat schluchtartigen Charakter. Nur der gerade Blick nach oben gibt einen eckigen, bildhaften Himmelsausschnitt frei. Doch so klein und beengt dieser Hinterhof auch sein mag, so hatte er doch verwunschenen Charakter, zieht den Besucher zurück in die Vergangenheit. Efeu versucht, wo es nur geht und das wenige Licht es erlaubt, zu wachsen. Dünnes Gras bedeckt spärlich die schiefen und zerbrochenen Gehplatten, aber auch Holzscheite, die nutzlos am Boden liegen, oder alte Ziegelsteine. Der Zahn der Zeit nagt überall schon lange. Ein Stein fiel mir auf. Die Inschrift „Nothing“. Es ist dies eine Erinnerung an Ray Johnson, der sich von der Brooklyn Bridge in den Tod gestürzt hatte und damals die sogenannten „Nothing pieces“ kreiert hatte.

Im Inneren: Das Haus und sein Gemäuer scheinen unverändert seit Geoffrey Hendricks es vor mehr als 30 Jahren erworben und bezogen hat, weder die Technik, noch sanitäre Anlagen, außer, dass Jahr um Jahr weitere Fundstücke hinzugefügt wurden, bis praktisch kein freier Platz mehr zur Verfügung war. Und all die Kunst hier möchte glauben machen, dass diese Vergangenheit noch existiert, dass die Künstler von damals noch heute hier ein und aus gehen, wie sie es einst getan haben. Hier in diesem Haus fanden unzählige Kunstgespräche und -treffen statt. Yoko Ono gab sich die Hand mit George Maciunas, Ray Johnson mit Dick Higgins, der Fluxus Sammler Gil Silverman mit dem Fluxus Kenner, Kurator, Kunstwissenschaftler und Bruder Jon Hendricks. Ähnlich historisch beladen und in die New Yorker Kunstwelt der 1960er/1970er Jahre verflochten das Haus vorher, in Chelsea, 331 W 20th Street, das er mit seiner damaligen Frau Bici Forbes von 1968 bis ca. 1970 bewohnte. Die Künstlerin Louise Bourgeois wohnte nur ein paar Häuser weiter auf der Nummer 347 mit ihrer Familie, machte dort ihre zum Teil so verstörende Kunst und hielt viele, viele Jahre lang ihre Sunday Salons ab. Man kannte sich gut. Außerdem wohnte der Künstler Ben Zion dort um die Ecke, oder die Malerin Silvia Sleigh, Laurence Alloway, schließlich in der 22nd Street die Fluxus Künstler Dick Higgins und Alison Knowles mit ihren Zwillingstöchtern Hannah und Jessica, die mit den Hendricks Kindern sehr eng befreundet waren und noch heute sind. Man traf sich auf der Straße, tauschte sich aus, traf sich, war ein Teil der Künstlerkommune. Genau so, ein wenig später, das Loft in der 311 Church Street, Tribeca, in das er allein zog, da die Trennung von Geoffrey und Bici bereits in der Luft lag, auch hier war Geoffrey Hendricks unweit vieler Kunststätten, wie das Judson Memorial Theater, oder das Café au Go Go u.a., in dem die Künstler von down town ein und aus gingen, ihre Kunst einem kleinen, interessierten Insiderpublikum zeigten, oder einfach die Straßen und andere öffentliche Plätze in Anspruch nahmen.

Ich erfuhr, dass viele seiner Werke weltweit, von Italien über Deutschland bis nach USA in Museen und privaten Sammlungen11 verweilen, und nicht ohne weiteres zugänglich sind, doch gleichzeitig ist es so, dass viele der Werke Multiples sind, von welchen der Künstler fast stets eine Ausführung selbst besitzt, oder zumindest durch umfangreiche Dokumentationen belegt sind. So bot mir das Haus und seine Kunstsammlung einen guten Überblick, wenn dieser auch zunächst noch eher äußerlichen, oberflächlichen Charakter hatte. Es ging eher um eine Bestandsaufnahme, so wie formale, technische Details bzw. Entstehungsjahr und Titel. Der Rundgang begann im Erdgeschoss, im überladenen Büro, das rechts gleich neben dem schmalen Eingangsbereich seinen Ort hatte.

Ein Bild drängte sich auf. Es strahlte förmlich über das herrschende Chaos hinweg. Es hing zentral über dem vollen Schreibtisch und war ein Himmelsausschnitt. Auch wenn keine Sonne zu sehen war, war es eindeutig ein Sommer-/Sonnenhimmel: „Hommage to Caspar David Friedrich“ aus dem Jahr 1983. Mit fotographischer Genauigkeit war dieser Himmel in Acryl auf Leinwand gebannt. Weiße Wolkenbausche auf leuchtendem, warmen Himmelsblau, die bis an den Rand der Leinwand gingen, kein Rahmen als Begrenzung. Der Himmel schien so die Möglichkeit zu haben, auf die dahinterliegende Wand weiterzuwandern.

Am Boden, etwas versteckt, lehnte dann noch ein Himmelsbild. Genauer gesagt waren es zwei Leinwände unterschiedlicher Größe mit diesem Sommerhimmel und den luftigen Wolken, die durch eine Paketschnur, die auch die Wolken trugen, übereinander gebunden waren. Zwei Himmelsschichten übereinander, verschnürt und verpackt zum Mitnehmen: „Two skies“, 1965. Geoffrey Hendricks erzählte nicht ohne sichtliches Vergnügen, dass in Unwissenheit die Paketschnur, als das Bild für eine Ausstellung nach Europa versandt wurde, zerschnitten worden war. Er hatte die Schnur flicken müssen, ein mühevolles Unterfangen, und, bei genauem Hinsehen, sah ich die ausgebesserten Stellen.

Im Haus entdeckte ich dann später noch zahlreiche andere dieser blau-weißen Wolkenbilder / Himmelsbilder, viele in Großformat, aber auch andere kleinformatige Aquarelle. Diese Wolken bedeckten außerdem, als ich die lange, steile Treppe hinter Geoffrey hinauf in das Wohn-/Esszimmer mit Küchenzeile nahm und dann im ersten Stockwerk angelangt, erst einmal das Bad passierte, auch Wäschestücke, die an einer Leine in diesem Bad über der Badewanne hingen: „Sky Laundry“, 1966. Sie hingen ursprünglich in Bäumen im Central Park rund um den Conservatory Pond, als Teil des

4. Annual Avant Garde Festivals von Charlotte Moorman.

Dann, nach diesem kurzen Blick ins Bad, war ich in der Wunderkammer des ersten Stockes, die Mitte des Hauses. Hier wird gelebt, gegessen, sich unterhalten, gekocht, gearbeitet. Zwei kleine Sprossenfenster gehen auf den Innenhof hinaus, bringen aber so gut wie kein Licht. Mehr Licht kommt von der anderen Seite von dem Fenster, das in einem kleinen Zimmer mit Bett und Tisch ist und auf die Greenwich Street hinaussieht. Auch dieses kleine Zimmer ist ein Sammelsurium von Kunstwerken, Bildern, Dokumenten, Fotos. Das Bett ist unbrauchbar, da es als Lager von Büchern und anderen Dingen verwendet wird. Die Schritte in das Zimmer müssen bedacht sein, da auch der Boden zugestellt und nur ein schmaler Gang frei ist.

Doch dieses Zimmer betrat ich nicht weiter, ich blieb hängen in diesem lebendigen Wohn-/Ess-und Arbeitszimmer. Hier entdeckte ich eine Wolkenbilder-Leiter-Installation „Moonsky ladders, phases of the moon“, 2002: Eine alte Holzleiter hängt von der Decke, an ihren Sprossen wiederum hängen an Paketschnüren die Himmelsbilder. Hier eben Aquarelle auf kleinformatigem Papier. Eher Abendhimmel, der Mond ist zu sehen. Der Himmel muss also nicht zwangsläufig ein Sonnenhimmel sein.

Geoffrey Hendricks erzählte nebenbei, dass Dick Higgins, sein Fluxus- und Freund des Lebens, ihm aus diesem Grund, wegen dieser zahlreichen Wolkenbilder, den Namen „cloudsmith“, Wolkenschmied, gegeben hatte. Und dann erinnerte ich mich, dass ich diesen Namen auch über dem Eingang des Hauses gesehen hatte.

Wir setzten uns an den einen Tisch, der offensichtlich mehr der Arbeitstisch war, während der andere der Tisch zum Essen war. Hier lagen eine Menge Bücher, die Geoffrey Hendricks zusammengetragen hatte. Manche Bücher waren schon aufgeschlagen, wahrscheinlich waren hier die relevanten Seiten. Ein flüchtiger Blick fiel sogleich auf ein Foto in dem Buch „Geoffrey Hendricks, Berliner Künstlerprogramm des DAAD“ aus dem Jahre 1984. Es zeigte einen mit Wolken bemalten VW Käfer („Sky Car“, 1979), ich hatte ihn schon gesehen im Katalog der Ausstellung „Fluxus Virus 1962-1992“, doch dort war es ein kleines Foto, nur schwarz-weiß. Hier ist es farbig und größer. Der flüchtige Blick erweckt Neugierde in mir und so blätterte ich in dem Buch, das die Zeit im Jahre 1983 umfasst, in dem Geoffrey Hendricks als Gast des Berliner Künstlerprogramms in Berlin lebte. Ich überflog das Vorwort:

„(…) am 15. März 1965 nahm Geoffrey Hendricks mit WEATHER an den von George Brecht und Robert Watts veranstalteten Monday Night Letters im Café au Go Go teil.“ Ich fragte Geoffrey Hendricks, was das Café au Go Go sei: Ein Coffeeshop in einem Keller in der 152 Bleecker Street, Nähe Laguardia Place und Thompson Street, das montags geschlossen hatte und so die Künstler George Brecht und Bob Watts die Monday Night Letters ins Leben riefen. Al Hansen, Nam June Paik, Yoko Ono oder auch Christo und Andy Warhol traten hier auf, die Popularität nahm zu. Bald wurde das Café au Go Go so ein hipper Treffpunkt für Rockevents und Stand-up Comedy, mit 204 Sitzen.

„Auf diesen ersten Auftritt folgten Aufführungen in der Judson Memorial Church und seit 1966 beim jährlichen von Charlotte Moorman organisierten „New York Avant Garde Festival“.“

Geoffrey Hendricks erklärte kurz, dass die Judson Memorial Kirche, direkt am Washington Square, bei der Thompson Street, ein kultureller Brennpunkt war in den 1950er und 1960er Jahren, in welcher Poetry, Tanz, Kunst, Musik und Film gezeigt wurde. Robert Rauschenberg, Jim Dine oder Claes Oldenbourg stellten hier aus, aber auch John Cage und Yvonne Rainer wurden hier einem breiteren Publikum offenbart, gleichzeitig war sie Heimstatt für das Judson Dance Theater.

Und schon wieder Charlotte Moorman. Ich hakte kurz ein und fragte nach Charlotte Moorman. Geoffrey Hendricks erzählte, dass sie eine amerikanische Musikerin gewesen sei, verstorben 1991 an Brustkrebs. Sie hatte erst viele Jahre eine klassische Konzertkarriere verfolgt, auch im American Symphony Orchestra, wurde dann v.a. bekannt für ihr Cello Spiel. Er selbst hatte Charlotte kennengelernt über Nam June Paik, mit dem sie multimediale Performances inszenierte. 1963 organisierte sie zum ersten Mal das New York Avant Garde Festival, das in diesem Jahr als Six Concerts of the Avant Garde in der Judson Hall stattfand. Sie löste 1967 einen Skandal aus, als sie halbnackt in der Öffentlichkeit auftrat, um für Nam June Paiks Opera Sextronique zu spielen.

Ich las wieder weiter: „Obwohl freundschaftlich und organisatorisch eng mit Maciunas und FLUXUS verbunden, unterschieden sich die Stücke von Geoffrey Hendricks von denen seiner Freunde sehr bald durch Länge und Inhalt. Die Natur, Mythen und Folklore, Träume, das Leben als Einsiedler in der kanadischen Weite, wo er die Sommer zu verbringen pflegt, und Betrachtungen über den Himmel in Form von Skypaintings und Skyobjects bildeten den Hintergrund seiner Arbeiten. Wie die Aktionen und Demonstrationen von Joseph Beuys lassen sie sich eher durch den Begriff Performance umschreiben und wie Beuys wurde er einer der Wegbereiter dieser Kunstform.“12 Diese Textstelle rüttelte mich auf. Es war die Rede von Natur, Mythos und Träumen. Das waren völlig neue Aspekte, rückten Fluxus in Bezug auf Geoffrey Hendricks mehr und mehr in die Ferne. Stattdessen der Himmel.

Dann ein paar Seiten weiter auf Seite 11 fiel mir außerdem der Titel des Beitrags von Lawrence Alloway (der, der in den 1960er Jahren in Chelsea um die Ecke bei Geoffrey Hendricks gewohnt hatte) auf: „De-fluxing Geoff Hendricks“.13 Das „Entfluxierung“ von Geoffrey Hendricks. Der Titel passte zu dieser Begegnung. Diese Begegnung hier in New York schien auch entfluxiert zu sein.

Die Seite 18 zeigte schließlich ein Foto von alten, ausgetretenen Stiefeln, die ebenso diese Wolken in himmelblau und watteweiß tragen („Sky Boots“, 1965). Es gibt heute zwei Paare dieser Arbeiterstiefel, ein weiteres Paar hatte er ein paar Jahre später ebenso mit dem Himmel bedeckt. Außerdem kam 1993 noch eine Bronzeedition von 7 (7 Tage der Woche) + 2 Artist Proofs hinzu, die er für Sam Havedtoy, einem Kunstfreund von Yoko Ono, gemacht hatte.

Er erzählte, dass er diese Arbeiterstiefel auf seiner Farm in Cape Breton, Nova Scotia, Kanada, fand, gleich als er die Farm 1965 gekauft hatte, zurückgelassen vom Vorbesitzer. Geoffrey Hendricks hatte also noch ein anderes Leben, dachte ich mir, weit ab von der Großstadt New York, irgendwo in den Weiten Kanadas. Ich stellte mir den unendlichen Himmel dort vor, im Vergleich zu dem Himmelsausschnitt des engen Hinterhofes dieses Hauses.

Noch eine Seite weitergeblättert auf die Seite 21 sah ich schließlich die Wolken auf einer großen Werbetafel an der Fassade eines New Yorker Hochhauses, Ecke 5th Ave und 42nd Street, gegenüber der Public Library („Sky Billboard“, 1965). Diese Himmelswerbetafel war parallel zu einer Show in der Bianchini Galerie in 16 East 78th Street entstanden. Ein Werbetafelmaler hatte die Wolken nach den Angaben von Geoffrey Hendricks, Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin, 1984, S.5, Kursivdrucke weggelassen.

Geoffrey Hendricks auf diese Werbewand aufgetragen. 1000 Dollar hatte ihn das gekostet, inklusive der Miete der Werbetafel für einen Monat. Ein günstiger Preis, da die Werbetafel offensichtlich nicht in Blickrichtung des Autoverkehrs lag, die 5th Avenue ist hier eine Einbahnstraße, und so nicht sehr nachgefragt war. Für Geoffrey Hendricks erfüllte diese Tafel jedoch ihre Zwecke. Da die Werbetafel außerdem nach Ablauf des Monats für weitere 5 Monate nicht vermietet wurde, blieb der gemalte Himmel von April bis September 1965 ein halbes Jahr dort hängen, angestrahlt und erleuchtet von Sonnenuntergang bis Mitternacht.

Auf den hinteren Seiten dieses Buches dann eine ganz neue Art einer Arbeit, die ich bis jetzt so noch nicht von dem Künstler kennengelernt hatte, sich nicht nur von Fluxus, sondern auch weit von den Himmelsbildern unterschied: „The Grid“, 1983, eine Performance, die für Berlin und das Berliner Künstlerprogramm des DAAD entstanden war. Schwarzweiße Fotos zeigen Geoffrey Hendricks in einem großen Raum, rechts eine Zuschauertribüne im Bild. Der Betonboden des Raumes, auf dem er tätig ist, ist mit einer Schnur, die mit Kreppband am Boden befestigt sind, in 5x5 gleich große Vierecke geteilt. Es sind also 25 Quadrate. In den einzelnen Quadraten liegen soweit man erkennen kann, Steine, Papierbögen, ein paar Schuhe und ein schwarzer Hut, Werkzeug, Einmachgläser, ein Waschzinnober und ein Eimer, dunkle und helle Reihen von Sandhäufen, Handtücher. Außerhalb der Quadrate ist ein Ständer für eine Waschschüssel zu erkennen, und eine brennende Nachtischlampe, zwei lange Leitern, an deren Sprossen Himmelsbilder hängen, lehnen an einer Wand, ein Stuhl steht etwas verloren da und ein großer Haufen Zweige. Geoffrey Hendricks in Jeans und Jeanshemd, mit einem zerrissenen Band um den Kopf, aber auch zum Teil um Beine und Arme gewickelt, strumpfsockig, steht auf einem Bein, in den Händen eine überdimensional lange Holzlatte. Ein Text beschrieb die Performance.

„GRID

BETHANIEN PERFORMANCE

Approach a piece of lumber as if it were a person receiving a medical examination, but while doing this, think about the carpenter and the doctor in turn becoming a cellist for the Berlin Philharmonic and a slit gong player from New Hebrides.

LEG.

LED. FOU. PIST. A Z

G H

(…)”

Es folgten viele, zum Teil direkt untereinander geschriebene Worte, die auf den ersten Blick nicht wirklich Sinn machten, wie DIOGENES & BOWL & STONES FOR ELOCUTION. Geoffrey Hendricks sagte, er spielte hier mit den 26 Buchstaben des Alphabets. Jedes Quadrat repräsentierte einen Buchstaben.

Manche Worte reimten sich, wie CYNTHIA und FORSYTHIA. Cynthia - der Name der Schwester von Geoffrey Hendricks, die mit 6 Jahren tragisch verstorben war. Seine Mutter hatte Forsythia immer mit Cynthia verbunden und er gedachte ihr hier. Viele Worte bezogen sich auf die Dinge, die Teil der Performance waren wie: NEW GROWTH OUT OF LUMBER, THE SHAPED WOOD oder STONES AS TOWN, AND THEY ARE THE STONES OF THE CITY - COBBLE STONES. Andere Worte erinnerten an Gedichtformen:

DESTRUCTION.

REBUILDING.

WARS. NATURAL DISASTERS. REBUILDING.

RELOCATION.

THE ONE DIFFERENT STONE, LEADER OR ODDBALL.

Andere Worten schienen wie aus einem Tagebuch zu kommen: NIGHT LIGHT.

OPENED THE 1912 BOOK TO HOW TO PRESERVE FRUIT & VEGETABLES. BROUGHT A JAR OVER.

ADDED PICTURE OF EMPTY HOUSE - LIVING ROOM. WAS THAT FROM ABOUT 1912?

Dann vage Erklärungen zu dem Titel Grid: GRID OF SKY DIARY.

GRID OF WINDOWS.

BLUE SKY LADDER TO BLUE SKY “TAGESBUCH” PAGES. & THE FLOOR GRID.

Dann Worte, die wie Erinnerungen an frühere Performances klingen. CHANCE. COINCIDENCE.

THE JAR OF SAND GOT KNOCKED OVER.

THE LID ROLLED AND HIT THE METAL (ENAMEL) CUP AND RANG.

AND THEN THE CLOCK OUTSIDE STRUCK FOUR,

THE RING ANSWERED BY RINGING.

Worte schließlich, die wie Anweisungen zur Performance klingen.

WRAPPING MYSELF.

WRAPPING AND WATERING AND TYING THE DEAD BRANCHES

OF LAST FALL:

LETTERS OUT OF SHOE.

CROW CALL OUT OF SHOE - CROW´S FEET.

COTTON CLOUDS OUT OF SHOE & WHITE CHALK.

Und ganz zum Schluß noch diese Worte:

WITH MY SLEEPING AT 5:20 PHIL CORNER SAID HE THOUGHT I HAD SET THE ALARM TO GO OFF AT THE END OF THE PIECE.

I DID´NT, BUT NICE THEY THOUGHT THAT, AND THAT I DIDN´T. “DID YOU REALLY SWALLOW THESE STONES?

YOU COULD HEAR THE SOUND OF THEM AGAINST YOUR TEETH, DID YOU KNOW?”

Geoffrey Hendricks, 26 June 1983”14

In diesem Augenblick betrat Sur Rodney Sur, der langjährige Partner von Geoffrey Hendricks, den er 1995 in der Judson Memorial Church als Teil des Memorials für Al Hansen in einer Fluxus Hochzeit und dann nochmals in einer privaten Zeremonie im Rahmen der Familie zu Hause geheiratet hatte, das Zimmer, grüßte kurz, holte sich eine Tasse Tee und verschwand wieder. Sur Rodney Sur, selbst Künstler, aber vor allem Kurator, hieß, bevor er seinen Namen änderte, Rodney Gordon Adams. Sur kommt von Surrealismus. Sur vor Rodney und Sur nach Rodney schließlich ist eine surrealistische Symmetrie. Geoffrey Hendricks hatte ihn flüchtig schon in den 1980er Jahren kennengelernt, als Sur noch Partner der Gracie Mansion Galerie im East

Village gewesen war. 1992 hatten sie sich dann wieder getroffen bei einer Ausstellungseröffnung in der NYU Grey Gallery. Sur arbeitete zu diesem Zeitpunkt in der Kenkebelaka Galerie für black art. Kurz darauf später wurden sie ein Paar. Bis heute. Im Leben, manchmal auch in der Kunst.

Dann, ohne Überleitung, wir kamen von einem zum anderen, und ich blätterte unterdessen immer noch weiter in den Büchern, kamen wir plötzlich noch auf einen anderen Himmel zu sprechen. Ein Himmel im übertragenen Sinn. Und erst viel später, im Rückblick, merkte ich, dass wir den „Himmel“ hier verließen und in seine Welt der Performances abtauchten. Und der Himmel im übertragenen Sinne, der mir hier nochmals begegnete, war “The sky is the limit”, 1969. Eine Performance in der Voorhees Kapelle des Douglass Colleges, einem Ableger der Rutgers University, der Universität, an der Geoffrey Hendricks ein halbes Jahrhundert gelehrt hatte, draußen in New Jersey, eine gute Stunde von Manhattan entfernt. Eine Performance mit den Studenten der Rutgers University.

Die Performance ist im Buch „Critical Mass, Happenings, Fluxus, Performance, Intermedia and Rutgers University 1958-1972“ beschrieben und so offerierte mir Geoffrey Hendricks kurzerhand das Buch, Seite 116. Er selber ging in der Zwischenzeit in das Büro, ein dringendes Telefonat erledigen, oder vielleicht nur, um auszuruhen. Ich bemerkte seine Anstrengung, die Müdigkeit in seinen Augen, sehr wohl, und war insgeheim erleichtert, dass er sich diese Auszeiten immer wieder nahm. So las ich leise und allein. Ab und an unterbrach ich und mein Blick wanderte durch das Zimmer, saugte die unterschiedlichen Eindrücke dieser Wunderkammer auf. Ich versuchte mir alle Details einzuprägen, um sie dann später wieder wach zu rufen, wenn ich darüber schreiben sollte.

„Invited to create a Happening by the Voorhees Assembly Board series, I wanted to create something that would transform that space. Through the wall of paper across the front, and the construction with cardboard boxes, the field of vision of the audience was changed. Then by unrolling two large sheets of plastic out over the audience the space above the audience was transformed. At the end of the event the plastic was carried outside where it developed a whole new life.”

“THE SKY IS THE LIMIT, A Happening by Geoffrey Hendricks, Voorhees Chapel, Douglass College, 13 February 1969, 11:10 am”

Es folgte der “Score” zum Happening. Ein komplexes, vielschichtiges Unterfangen, das viel Disziplin der Teilnehmer erforderte.

„The Environment“, also die äußeren Parameter der Performance wurden zunächst beschrieben: „Across the front there is a large sheet of white paper (9`x50”) blocking the choir space. Over the center aisle, coming from the back balcony, there is a sheet of black plastic (12`x100”), under this a film projector is set up, projecting light into a screen at the front. There are two sheets of clear plastic (20`x100”) attached to the back balcony to extend over the seats, one on each side. There are 100 boxes in the front.”

„Clear Plastic“: Auf der Plastikfolie, die ja über den Besucherköpfen ausgebreitet wurde, sollten während der Performance Ping Pong Bälle, kleine Spielzeuge, Wasser, Luftballone, zerknülltes Zeitungspapier, Toilettenpaper, Blumen u.a. ausgebreitet werden und über den Köpfen schweben.

„Boxes”: Die 100 Kartons sollten möglichst schnell zusammengetragen werden und dann nach einer bestimmten Methode in der Kapelle gestapelt werden. Eine Struktur sollte erst an einer Stelle der Kapelle gebildet werden, dann wieder abgebaut werden, um sie dann in anderer Weise an einer anderen Stelle aufzubauen. “White Paper”: Auf das große weiße Papier, das an der Front aufgehängt wurde, sollte quer eine Linie gezeichnet werden, das mindestens 30 Minuten dauern sollte. Zu einem gewissen Zeitpunkt könnte ein Schlitz in das Papier gemacht werden, oberhalb der Linie, und ein Ping Pong Ball könnte von hinten durch den Schlitz geschoben werden. Zu einem anderen Zeitpunkt könnte durch einen Schlitz unterhalb der Linie Rasierschaum kommen.

„Rope: Two people move a stretched rope across the audience form various directions.”

“Wrapping: Two students are wrapped with toilet paper very slowly, then they move through the space, pushing and pulling lime spreader (field marker), and roll out a line of toilet paper across the front.”

“Blue Bag: Two people wrestle inside the bag and some white balloons fall out.”

“Crackers: Two people pass out white plates with written instructions: “Please pass this plate.” Later, plates are passed with saltine crackers on them.”

“Fish and bread: Two people move through the space fighting over a large fish and tearing it apart. Two others do the same thing over a large loaf of bread.” “Candles: Lighted candles covered by a basket and extinguished by poured water.” “Cards”: Vorne sollte ein Stapel von Karten liegen, die alle verschiedene Anweisungen trugen. Der Besucher, der nichts zu tun hatte, sollte eine Karte nehmen und genau den Anweisungen darauf Folge leisten. Nach Vollzug der Anweisung sollte man die Karte wieder zurücklegen und zwar auf den Boden des Stapels.

„Sound“: Ein elektronisches Tape von Ken Werner sollte durch den ersten Teil der Performance gespielt werden. Wenn das Tape sein Ende erreicht haben sollte, sollten alle Besucher hinter das große weiße Papier in der Front gehen.

„End: After people have worked their way out from under the clear plastic, see that the two sheets get outdoors, so that they can be played with in the environment outdoors.” Es folgten noch zum Schluss generelle Ratschläge, die den Ablauf der Performance, der ja voller Handlungen, Aktionen war, trotzdem einigermaßen reibungsfrei halten sollten: „General advice“: Es ging darum, zu warten, wenn es nötig sein sollte. Es ging darum, dass der Partizipient und Performer seine Aktionen ernst und überlegt ausführen sollte und sich dabei vom reinen Publikum fernhalten sollte. Interaktion zu Bekannten, Freunden, die zweifelsohne präsent sein würden, wurde untersagt. Sie sollten wie Fremde behandelt werden, so dass die Performance ihre durch den Score festgelegte Struktur so klar wie möglich beibehalten konnte und nicht durch private, individuelle Eigenwilligkeiten gestört würde.

Die zwei folgenden Seiten zeigten Fotos der Performance.

Doch bevor ich Zeit fand, tiefer in diese Performance einzusteigen, kam Geoffrey Hendricks zurück und es ging weiter mit der Führung im Schnelldurchlauf. Nun kamen zum Vorschein Dokumentationen von Performances in Form von Überresten, die in Art und Manier des Fluxus in Boxen, Holzbehältern, oder Koffern aufbewahrt werden. Steine, Haare, Äste, alte Fotographien, kleine Gegenstände und überhaupt Dinge aller Art, die zur Erinnerung dienen. Vom Künstler handbeschriebene Papieranhänger bezeugten den Inhalt und erklärten. Es waren bisweilen so viele unterschiedliche Dinge am Tisch, die da gezeigt, geöffnet und wieder geschlossen, hin- und hergeschoben wurden, dass ich beinahe den Überblick verlor.

Der Blick hing sich, zwischen all den Unmengen, an einem Foto des Stückes „Body/Hair, Shaving Piece“ aus dem Jahre 1971 fest, das in dem Loft von Billy Apple, einem befreundeten Künstler, stattgefunden hatte, als Teil der Serie „relics and special events“. Geoffrey Hendricks sagte, während er das Foto in Händen hielt, dass er sich hier (mit Hilfe von Assistenten) in einer Art Ritus die Haare seines gesamten Körpers rasierte, um diese nach Körperregionen getrennt in kleinen Flaschen aufzubewahren. Die Flaschen wurden je beschriftet mit der Region des Künstlerkörpers, wo sie entfernt wurden, wie z.B. „Haar vom Hodensack des Künstlers. Geoff Hendricks. 15. Mai 1971“. Es waren einige seiner Studenten anwesend, die die Performance dokumentierten, so wie sein Bruder Jon, oder Freunde wie Joe Jones und Al Hansen. Ein dafür vom Künstler erschaffenes kleines Kabinett fungierte schließlich als Reliquienschrein und Aufbewahrungsbehälter für die Flaschen. Es stünde nun in seinem Keller.

Dann verließen wir dieses Stockwerk, um hinauf unter das Dach zu steigen, wieder über verwinkelte, dunkle Treppen. Auf halbem Weg gingen ein paar Stufen ab zu einem Schlafzimmer. Das Dachgeschoss erwies sich als Bibliothek wunderbarster Bücher, Lager von Arbeitsmaterialien, Farben, Bildern seiner Enkel. Es wurde das schwere Album „Flux Divorce“ aus dem Jahre 1971 hervorgeholt, aufgeschlagen, und die Seiten, die in der Mitte durchtrennt waren, umgeblättert. Die Durchtrennung gedacht als Symbol für die Trennung zweier Menschen in der Scheidung, deren Leben, aber auch ihr gesamtes Hab und Gut sich nun trennen. Es ist die Trennung von Geoffrey Hendricks und Bici Forbes Hendricks. Nach zehn Jahren Ehe und der Geburt zweier Kinder entdeckte jeder für sich seine Homosexualität. Die Wege trennten sich was Sexualität und das Ehegelöbnis betraf. Die erneute Verarbeitung dieser Trennung dann als Performance „Flux Divorce“ am 24.6.1971.

Auch hier drückte mir der Künstler kurzerhand ein Buch in die Hand. „1962 Wiesbaden Fluxus 1982“, Eine kleine Geschichte von Fluxus in drei Teilen, Wiesbaden, Kassel und Berlin 1982/1983, im Rahmen des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Auf Seite 152, die der Künstler aufschlug, geht es um die Fluxscheidung: „Im Frühjahr 1971 standen Bici Forbes und ich vor unserem 10. Hochzeitstag. Wir steckten in mitten in einer Menge von Veränderungen. Es war nicht klar, ob wir uns trennen würden oder nicht. Aber als jenes Datum des 24. Juni näher rückte, waren wir noch zusammen, wenn auch auf einer veränderten Basis, und ich schlug vor, den Tag mit einer Fluxscheidung zu feiern. Nach einigen Bedenken gefiel Bici die Idee, und ich ging zu George Maciunas, um mit ihm über eine Zusammenarbeit zu sprechen. Ja, er war davon begeistert. Das Haus wurde auf vielerlei verrückte Art geteilt. Für die „Trennung“ waren Bici und ich in Wintermänteln Rücken an Rücken aneinandergenäht; wir waren auf dem Hinterhof, wo Bici eine große Eisskulptur zum Schmelzen/Auftauen errichtet hatte. Wir wurden durch Tauziehen getrennt, wobei die Männer an einem um mich und die Frauen an einem um Bici gebundenen Seil zogen. Ich hatte im Schlafzimmer eine „Gütertrennung“ arrangiert; Hochzeitsdokumente, Kleidung, Doppelbett, der Liebessessel aus Korb, alles wurde mit Papierschneider, Schere, Motorsäge und Axt etc. buchstäblich in Hälften geteilt; darauf folgte ein Freudenfest.“15

Dann zeigte mir Geoffrey Hendricks kurz die Kopien der Auswahl einer langjährigen Gemeinschaftsarbeit zwischen ihm und Bici, die sie „Friday Book of White Noise“ (1962 - ca. 1965) nannten. Das Original des „Friday Book of White Noise“ bestand ursprünglich aus wahrscheinlich vier handgeschriebenen Notizbüchern, die v.a. im November 1964 auf Reisen entstanden waren. „In November 1964 with a small baby, Tyche, in the car on trips we began to keep a collaborative notebook. Whoever wasn`t driving might write. So handwriting is not proof of authorship. Seems as though there are four volumes. Two I believe went into the Archive at Northwestern dedicated to Cage, and in connection with the publication Notations of Something Else Press. (…).“16 Diese Auswahl, die ich nun in Händen hielt, wurde von den beiden am 1. März 1965 im Café au Go Go als Teil der Watts-Brecht „Monday Night Letter Series“ gelesen. Auf der Front stand:

„THE FRIDAY BOOK OF WHITE NOISE

A

Zen baroque tabloid noose paper

A trailer truck load of white chickens in cages.

A trailer truck load of creosoted telephone poles in the rain.

A trailer truck load of Christmas trees.

A trailer truck load of white.

An empty trailer truck.

Sand paper event: Sand paper.

What would you think if you gradually became aware that there was a cold draft blowing out from under the door of the closet in the hall?

What would you think if you gradually became aware?” (…)17

Ich blätterte weiter durch die beidseitig kopierten Seiten. Es folgten weitere Beschreibungen anderer Events, wie das NEW YEAR EVENT, das WINTEREVENT oder das ANNIVERSARY EVENT.

Dann offensichtlich Beschreibungen von belanglosen Geschehnissen, Ereignissen, Gesprächen des Alltags auf Reisen.

„migrating birds at dusk on the elevated structiúre of the West Side Highway, around 132nd Street, seen from below. The sound of traffic, the shrill cry of the birds. A jet goes over, leaving a pink con trail. The pattern of rivets is echoed by the patterns of birds resting on the girders. I am bargaining for 3 tires from an auto repair place run by some Italians. The man says it´s bad when the birds come through every fall. You can´t keep anything clean around here.“18

Mir schien interessant, wie sehr Geoffrey Hendricks einerseits an simplen Erinnerungen hing, so sehr, dass er sie aufschrieb. Als wollte er sein Leben und all diese darin stattfindende Ereignisse, die da so vor sich hin flossen, kamen und gingen, durch seine Finger glitten, ins Sichtbare holen und festhalten. Dann andererseits das Interesse doch weiterging und diese Erinnerungen an den Alltag transzendierte, hinterfragte bzw. neu zu strukturieren versuchte, in dem inmitten der Belanglosigkeiten Handlungsanweisungen als Events gegeben wurden. Es schien, als ob so das Belanglose wichtig und relevant gemacht würde.

Ich bekam dann des weiteren ein Schwarzweißfoto in die Hände, auf dem in der Rückenansicht George Maciunas und Billie Hutching zu sehen ist, beide in weißen Brautkleidern, zwischen ihnen zu sehen in der Frontansicht Geoffrey Hendricks in seiner Rolle als Flux Minister, der die beiden gerade traut und aus einem Buch vorliest. Es ist die Arbeit „Flux Wedding“ aus dem Jahr 1978. George Maciunas war der Meinung gewesen, dass nach der Fluxscheidung nun eine Fluxhochzeit anstand, bei welcher er mit Billie Hutching getraut werden sollte, so begann Geoffrey Hendricks zu kommentieren. Doch dann deutete er wieder auf die Kopien, die man schon zuvor in Händen gehalten hatte und man las an der befohlenen Stelle, dass „(…) er wollte, daß ich als „Fluxpastor“ amtieren solle. Damals - oder vielleicht später im Winter (1977), als man diagnostiziert hatte, daß er fortgeschrittenen Leber- und Pankreaskrebs hatte - sprach er darüber, daß es auch ein Fluxbegräbnis geben sollte, um den Zyklus abzuschließen. Die Fluxhochzeit fand am 25. Februar 1978 im Grommet Art Theatre (dem Loft von Jean Dupuy und Olga Adorno) in New York statt. George und Billie trugen beide weiße Brautkleider. Auf die Zeremonie folgte ein Fluxbankett mit erotischen Speisen und Performances, darunter Ben Pattersons Lick und George und und Billies Black and White, wo sie die Kleider tauschten. In Kenntnis von George´s Zustand war es eine traurige und bewegende Angelegenheit.

Maciunas starb am 9. Mai 1978 in Boston. Bei der schlichten Trauerfeier der Familie und Fluxfamilie im Krematorium in Queens wurde der Wunsch von George, daß es ein Fluxbegräbnis geben sollte, mir übertragen. Im Anschluß an die Feier sprach ich mit Jonas Mekas über die Idee, und ob Wooster Street zur Verfügung stehe, ein Ort, an dem George so viel lag. Am 13. Mai, einige Tage später also, war es möglich. Es war die übereinstimmende Meinung aller, mit denen ich bei der Feier gesprochen hatte, daß wir es machen sollten. Noch einmal amtierte ich als Fluxpastor; auf die Feier folgte ein Fluxfestessen mit purpurroten und schwarzen Speisen und mit Performances. Ironischerweise gingen viele, die zum Fluxbegr ä bnis kamen, anschließend noch zur Hochzeit von Gordon Matta-Clark, der ebenfalls an Leber- und Pankreaskrebs hatte und später in jenem Sommer starb.“19

So war das „Flux Funeral“, 1978, ein weiteres Fluxus Event, das offensichtlich unter der Ägide von Geoffrey Hendricks entstanden war. Ein weiteres Fluxus Event, das durch Geoffrey Hendricks eine ganz eigene Note erhalten hatte, sich in vielen Punkten von anderen Fluxus Performances unterschied, die man von Dick Higgins, Bob Watts, Nam June Paik oder Alison Knowles kannte. Kein Humor, kein Klamauk, kein Unsinn.

Ich bekam außerdem noch Postkarten zu sehen, die erneut Geoffrey Hendricks bei Kopfständen zeigten, gedruckt in diesem künstlereigenen Verlag „Money for Food Press“, die er zu den verschiedensten Anlässen, manchmal an öffentlichen Plätzen, manchmal in privater Umgebung, machte. Ich hatte sie schon in Salzburg gesehen. Die Live Performance des Kopfstandes war mir außerdem noch lebendig im Gedächtnis.

Es fiel mir noch ein anderes Buch in die Hand, in dem ich blättern durfte. „Four hands examining the color of a thought, collaborations with Brian Buczak”. Das Buch wieder gedruckt in der Money for Food Press in New York, 2003. Ein Zitat von Geoffrey Hendricks ziert die innere Umschlagsseite: “These boxes are like dreams in their evolution, creation, and this is how they should be looked at and read”. Soweit ich in der Kürze überschauen konnte, werden in dem Buch einerseits Collaborative Boxes gezeigt, die zusammen Ende der 1970er Jahren mit seinem Freund Brian Buczak entstanden sind, und andererseits Memory Boxes, die später, 1988, in Memoriam an genau diesen Partner, der 1987 an AIDS verstarb, entstanden sind. Ich schlug die Seite 63 mit der Memorial Box, (STARS, No. 38, 1988), auf. Die Box ist aus Holz, die Front ist aus Glas, so dass man den Inhalt sehen kann. Der Boden ist von Papier bedeckt. Das Papier zeigt astronomische Zeichnungen (z.B. “Nord: Fig.- Cielo stellato, quelle si vede guardando, verso nord alle ore 21 circa, nel mese de dicembre.”), andere Sternenkonfigurationen, Laufbahnen von Kometen, die um die Sonne kreisen. Einzelne handgeschriebene Notizen, wie „sole, luce“ oder „8 ½ und 4 ½“ ). Die Seitenwände zieren Karten von weiteren astrologischen Befunden. Vier getrocknete Seesterne, eine kleine weiße Kugel, ein roter Metallstern und zwei kleine Steine liegen lose in der Box.

Der Blick löste sich wieder von dem Buch und sah auf dem gleichen Tisch einen quadratischen Holzwürfel, auf einer Seite ist „Ring Piece“ eingraviert, auf einer anderen „Geoff Hendricks“, dann „6 October 1971“, der Tag, erklärte mir Geoffrey Hendricks, an dem er von seiner Frau Bici Forbes offiziell geschieden worden war, und schließlich „24 June 1961“, der Tag, an dem sie 10 Jahre zuvor geheiratet hatten. Als ich ihn hochnahm, ertönte blechern ein Glöckchen, das wohl in dem nicht zu öffnenden Holzquader verborgen war. Doch Geoffrey klärte mich auf. In dem Holzwürfel wären 10 Glöckchen und sein Ehering, der an einer Schnur befestigt an einer der Innenseiten hing.

Ein zweiter, sehr ähnlicher Holzwürfel, den Geoffrey Hendricks extra für diese Performance erschaffen hatte, wäre außerdem Teil der Performance „Ring Piece“ vom 19. November 1971, bei welcher der Künstler als Teil des 8. New Yorker Avant Garde Festivals von Charlotte Moorman in einer 12 stündigen Meditation gerade diese Scheidung von seiner Frau Bici verarbeitete. Der Grund, warum er einen anderen Holzwürfel verwendet hatte als diesen, lag bei George Maciunas. Dieser hatte einige der Glöckchen beigesteuert, die in dem ursprünglichen Holzwürfel verborgen waren. Da George Maciunas jedoch eine offene Antihaltung gegen das Avant Garde Festival hatte, mit diesem partout nicht in Verbindung gebracht werden wollte, hatte Geoffrey Hendricks das Gefühl, er dürfte diesen Holzwürfel, an dem Maciunas beteiligt gewesen war, nicht verwenden. „Ring Piece“ fand statt von mittags bis Mitternacht, genau in der Mitte der 69th Regiment Armory, in der 25th Street, an der Ecke Lexington Ave, wo 1913 die erste legendäre Armory Show stattgefunden hatte und schließlich 1966 Platz der 9 Evenings: Theatre and Engineering, gewesen war. Geoffrey hatte hier einen großen Erdhaufen aufgeschüttet, der von einer dicken roten Schnur an eisernen Stützen umgeben war, so dass Besucher des Festivals abgehalten wurden, sich dem Erdhaufen, auf dem Geoffrey im Schneidersitz saß und 12 Stunden meditierte, ganz zu nähern und die Meditation zu stören. Er erzählte, während ich den Holzwürfel in Händen hielt und weiter drehte, dass in dem Erdhaufen die Reliquien der Flux Divorce vom 24. Juni 1971 verborgen gewesen waren, so z.B. seine Hälfte der Bettmatratze, die in der „Division of Properties“ der Flux Divorce geteilt worden war. Alles in allem eine stark symbolbeladene Arbeit, voller Gefühle und Erinnerungen, die nun in einem ritualähnlichen Meditationsprozess verarbeitet werden sollten.

Dann kam von hier das Gespräch auf das Event “Unfinished Business, Education of a Boychild“, das im Dezember 1976 im 3 Mercer Store performt wurde. Geoffrey Hendricks überreichte mir eine Kopie eines Zeitungsartikels aus der „The Soho Weekly News“, vom 9. Dezember 1976. Es ist ein Artikel mit dem Titel „Roots and Rituals“ von Sally Banes, die dem Event als Besucherin und Betrachterin damals beiwohnte. Er ist wie ein persönlicher Erfahrungsbericht zu lesen:

„Geoff Hendricks makes performance pieces and exhibits that are about roots and rituals. A simple event - the shaving of a beard - becomes an occasion for meditations on transformations, ritual preparations, witnessing and celebration.” Wurzeln und Rituale. Schon bei GRID, dann wieder bei Ring Piece, waren mir diese Assoziationen gekommen. Die Arbeiten von Geoffrey Hendricks erinnerten an Rituale, an archaische Feierlichkeiten.

“ Unfinished Business was a 12-hour piece in two sections. On Friday. December 3 at noon, 3 Mercer Store, a tiny storefront near Canal Street, had become a Vermont woodshed cum sauna. On a windowsill, neatly folded white towels and ivory soap. A stack of prayer books and missals. Branches and twigs laid out on the floor, along with burlap bags, scissors, string, tale, labels, sandpaper, saws, small axes. An old desk stood by the door, with a bronze plaque on it: Write a Dream. A sawhorse stood in the center of the room, with another plaque : Saw Wood. Lines of stones marked the shadows of pillars.”

Ich fragte Geoffrey Hendricks nach diesem Laden 3 Mercer Store. Und er sagte, dass dieser Laden dem österreichischen Künstler Stefan Eins (ein Künstlername) gehört hatte und er Geoffrey diesen zur Verfügung gestellt hatte, um diese Performance zu machen.

“Hendricks, assisted by his small son, Bracken, and two young men, starts sawing small rounds from a branch and scatters them about. A man arrives, writes a dream about fir trees, and teaches Bracken a Quaker song.”

Wie kam Geoffrey Hendricks gerade auf einen Quaker Song, möchte ich wissen, und er erklärte, dass er in einer Familie aufwuchs, die nicht nur stark von den Quakern geprägt war, sondern gar eine eigene Quaker Gemeinschaft, eine „Religious Society of Friends“, in der Nähe von Chicago gegründet hatte. Geoffrey selber ist noch heute ein Freund, ein Quaker Mitglied einer Gemeinschaft, die in der Nähe von Marlboro in Vermont, dort wo Geoffreys Vater ein College in den 1930er Jahren gegründet hatte, ihren Sitz hat. So oft er kann nimmt er an den Zusammenkünften teil. Und auch wenn dies selten ist, so ist das doch friedvolle, der Einfachheit des Lebens und der Spiritualität gewidmete Gedankengut, ein stiller, aber beständiger Begleiter seines eigenen Lebens. Der Quaker Song machte so wirklich Sinn.

Ich las weiter:

“I come back at intervals throughout the day. The room is strewn with bits and slices of wood. Two white strings dangle from the ceiling, studded with white feathers. A twig broom rest against a corner. People are fashioning bows out of branches, sanding a chair, taking photographs, talking quietly about beards, blind seers, past performance pieces. A notice of the performance, taped to the door, notes that the piece is subtitled Education of the Boychild and dedicated to Bracken, Dick Higgins, Meredith Monk, Ray Johnson, and Teiresias.

Bei Meredith Monk hakte ich wieder ein. Und Geoffrey erklärte, dass das ganze Stück mit dem Namen „Education of a boychild“ eine Art Antwort auf die Tanzperformance der Tänzerin Meredith Monk gewesen sei, dessen Titel „Education of a girlchild“ gewesen war. Ich fuhr fort zu lesen.

(…) What kind of education is this for a boychild, I think. Who needs to learn how to be a Vermont peasant in New York City in 1976? Let him learn about power, and the fiscal crisis; let him learn to cook and clean. Teiresias was both man and woman.” Aus einem schnellen Zugang heraus, leuchtete es ein, dass die Autorin sich diese Frage stellte. Warum sollte ein Junge lernen, wie ein Landarbeiter in Vermont lebt, wenn er doch inmitten des vibrierenden Manhattans der 70er Jahre aufwuchs? Doch wenn man Geoffreys Leben ein wenig näher kannte, wusste man es besser. Denn mit dem ländlichen Vermont, wo Geoffrey Hendricks einen Großteil seiner Kindheit verbracht hatte, verband er tiefe Erinnerungen. Vermont, wo sein Vater ein College gegründet hatte, das heute noch existiert. Vermont, wo er immer noch Freund einer Quaker Gemeinde ist. Vermont, wo heute noch ein Teil seiner Familie lebt, wo seine Eltern begraben sind. Vermont, das ihn aus diesen Kindheitserinnerung heraus 1965 veranlasste, nach einer ebenso ruhigen, schönen und friedlichen Landschaft zu suchen, die Zweitwohnsitz und Gegenpol zu New York sein konnte, und was schließlich dann Cape Breton, Nova Scotia, in Kanada wurde.

“Saturday noon. A huge bronzecasting apparatus is firing up outside the store. Inside, Bracken asks me to sign a petition, which says: “We the undersigned, do herewith petition the removal of Geoffrey Hendricks` beard; understanding that each of our signatures effects the removal of a lock of said beard, and that we in turn do each freely give a lock of our hair in exchange.

A label with my name in it is affixed to my hair, which is tied to a chair, and another label to the corresponding lock of the beard, which Bracken solemnly removes and hangs in a reliquary.”

Erneut tauchten Haare, das Entfernen von Haaren, in der Kunst von Geoffrey Hendricks auf. Die Haare mussten ein Symbol für etwas sein und ich wollte dies später nachsehen. Geoffrey Hendricks sagte dazu, dass die erste Entfernung des Bartes ein Vater-Sohn-Ritual war. Der Sohn stand an der Schwelle zum Erwachsensein und der Vater gab dem Sohn seine Anerkenntnis dessen zu verstehen, indem er mit ihm das Ritual des Rasierens das erste Mal teilte. Sein Vater hatte damals das gleiche Ritual vollzogen.

“The room is now totally adorned with relics. Bundles of twigs hang in rows from the ceiling. A branch is wrapped in burlap and rope, a hammer is buried in a bundle twigs and hung from a ladder. A pair of workshoes stands in the corner, half-buried in a pile of loose corn kernels.

Outside, sand-encrusted molds are being plunged into the upper part of the kiln and filled with wax, while metal scraps are thrust into the glowing orange bottom.

3.45. The razor is applied to a closely trimmed beard. The chair is festooned with tagged locks of hair in several colors. Outside, a mold is packed into a mound of sand, and a pale river of glowing metal poured into it. But the mold cracks and bowl turns out to be only fragments.

5.30. The beard is gone, the sideburns are disappearing quickly. Three people are taking photos. The sculptors are packing away their equipment. Kids are riding on the sawhorse and kicking the wood bits around. The moustache goes. George Maciunas gives Geoff a haircut. Even in the midst of depressions and election years, the world is wonderful enough to contain mythic actions and transformations. The gentle, Nordic fairytale quality of the second day´s activity muted the maleness of the previous day, not only by actually removing Hendricks` beard, but by crystallizing real and ordinary activities into symbols and metaphors.”20

Ich stellte mir kurz das New York der 1970er Jahre vor. Graffiti, Pop Art, Hedonismus und Dekadenz inmitten der Rezession, Künstlergruppen auf der Straße, Drogen, SoHo war noch nicht SoHo, sondern ein Netz von Straßen, in welchem des Nachts noch oft Feuer brannten in den vernachlässigten, verfallenen Loftgebäuden, Hippies und Hare Krishna Anhänger. Und dann Geoffrey Hendricks, der einen Bart rasierte, seinem Sohn einen Quaker Song lehrte, Träume aufschrieb, Holz sägte.

Doch bevor sich meine Gedanken zu „Unfinished Business“ annähernd setzen konnten, hatte der Künstler eine schwere, große und flache Holzkiste hervorgeholt, die er nun aufklappte und schwarz-weiße Fotographien entnahm. Es sind Fotos zur Dokumentation der Performance „Fra Due Poli“ oder „Between Two Points“, aus dem Jahr 1974.

Die zwei Pole Norwegen und Italien. Norwegen, weil von dort Geoffrey Hendricks` Familie väterlicherseits herkam. Italien, weil von dort der Kunstmäzen und Sammler Francesco Conz stammte, der Geoffrey Hendricks ein Leben lang treu blieb und einige Arbeiten bei ihm in Auftrag gegeben hatte.

Der erste Teil fand also am 21. Juni 1974 in Norwegen statt, in der Nähe von Bergen. Und die Fotographien, die er mir nun hinhielt, zeigten den Künstler unter anderem auf einer schneebedeckten Hochebene, in der Schneedecke erkannte man schwach einen Kreis, den er dort hineingetreten hatte. Eine andere Fotographie zeigte ihn vor einem großen, pyramidenförmigen Steinhaufen, den er selbst zusammengetragen hatte. Am 3. Juli 1974 dann der zweite Teil. Das „Meditative Ritual for a Full Moon” in Asolo, Italien. Fotographien zeigten den Künstler in Dunkelheit Zweige sammeln, oder Steine zu einem Kreis im Gras legen, dann mit I Ching ein Hexagramm werfen. Schließlich Fotographien vom 5. Juli 1974 am Strand von Rosa Pineta, südlich von Chiogga, auch Italien. Es ist das „Meditative Ritual for the Sun“, das zusammen mit dem Ritual für den Vollmond in Asolo diesen zweiten, italienischen Pol von „Fra due Poli“ bildet. Der Künstler nackt nur in Farbe gehüllt, Wolken sind schwach sichtbar, und die Beine zum Teil mit Zweigen bedeckt. Oder ein Foto, auf dem der Künstler offensichtlich ein Feuer machte.

[...]


1 Hannah Higgins, Fluxus Experience, Berkeley, Los Angeles, London, 2002, S. XIII. 2

2 Geoffrey Hendricks, Critical Mass, hrsg. von Geoffrey Hendricks, New Jersey, 2003, S.11., Fußnoten weggelassen.

3 Vgl. hierzu auch Hannah Higgins, Fluxus Experience, Berkeley, Los Angeles, London, 2002, S. 103.

4 Hannah Higgins, Fluxus Experience, Berkeley, Los Angeles, London, 2002, S. 2. 5

5 Vgl. hierzu Hannah Higgins, Fluxus Experience, Berkeley, Los Angeles, London, 2002, S. 11.

6 Thomas Kellein, Der Traum von Fluxus, George Maciunas, eine Künstlerbiographie, Köln, 2007, S.110.

7 Hannah Higgins, Fluxus Experience, Berkeley, Los Angeles, London, 2002, S. 12f., Fußnoten weggelassen.

8 Galerie Schüppenhauer Köln, Fluxus Virus 1962 1992, Köln, 1992, S. 279.

9 Hannah Higgins, Fluxus Experience, Berkeley, Los Angeles, London, 2002, S. 11.

10 Entnommen aus: Kristin Stiles, Anomaly, Sky, Sex, and Psi in Fluxus in: Geoffrey Hendricks, Critical Mass, hrsg. von Geoffrey Hendricks, New Jersey, 2003, S. 60.

11 Dazu gehören u.a.: Hanns Sohm Sammlung, Stuttgart; Sammlung Conz, Verona, ein privater Sammler, der den engen Kontakt zu Fluxus suchte, als Mäzen auftrat und private Aufträge für Kunst vergab. Schließlich die Gil und Lila Silverman Sammlung, die von Jon Hendricks betreut wird und heute Teil des Museum of Modern Art in New York ist.

13 Lawrence Alloway, „De fluxing Geoff Hendricks“, in: Geoffrey Hendricks, Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin, 1984, S.9 14.

14 Geoffrey Hendricks, Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin, 1983, S. 38 ff.. Typographie übernommen. Im Anhang ist das Werk vollständig nachzulesen.

15 Geoffrey Hendricks, Fluxriten, in: 1962 Wiesbaden Fluxus 1982, Berlin 1982, S. 152 f.. Kursivdruck übernommen.

16 Geoffrey Hendricks`s Erklärung auf den Kopien der der Autorin vorliegenden Kopien der „Selections from THE FRIDAY BOOK OF WHITE NOISE“.

17 Aus den Kopien der der Autorin vorliegenden Kopien der „Selections from THE FRIDAY BOOK OF WHITE NOISE“.

18 Aus den Kopien der der Autorin vorliegenden Kopien der „Selections from THE FRIDAY BOOK OF WHITE NOISE“.

19 Geoffrey Hendricks, Fluxriten, in: 1962 Wiesbaden Fluxus 1982, Berlin 1982, S. 153 f. Kursivdruck übernommen.

20 Sally Banes, Roots and Rituals, in: The Soho Weekly, December 9, 1976, S. 16 - 21. 31

Excerpt out of 231 pages

Details

Title
Himmel über Fluxus
Subtitle
Eine Biographie des New Yorker Künstlers Geoffrey Hendricks
Author
Year
2012
Pages
231
Catalog Number
V197289
ISBN (eBook)
9783656233725
ISBN (Book)
9783656234227
File size
8969 KB
Language
German
Keywords
Fluxus, New York, Geoffrey Hendricks, George Maciunas, Dick Higgins, Kunst als Erfahrung, Kunstbiographie
Quote paper
Kat Schuetz (Author), 2012, Himmel über Fluxus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197289

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Title: Himmel über Fluxus



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