Haben wir ein neues schwaches Geschlecht?

Warum die Jungen in der Schule schlechter abschneiden und was man dagegen tun kann


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wie lässt sich die Krise der Jungen erklären?

3. Wie erleben Schüler die Heterogenität der Geschlechter? - Eine Studie am Otto-Hahn-Gymnasium in Göttingen

4. Fördermaßnahmen

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang

1. Einleitung

In unserer Gesellschaft gelten Männer seitjeher als das stärkere Geschlecht. Ohne Frage waren sie in der Vergangenheit den Frauen immer einen Schritt voraus, hatten früher bestimmte Rechte und Zugang zu wichtigen Ämtern, die Zügel der Politik waren allein in ihren Händen. Dass Männer über diese Vorrangstellung verfügten und die einfluss­reicheren und vor allem auch besser bezahlten Jobs hatten, wurde lange Zeit anstandslos akzeptiert, niemand beschwerte sich über die Rollenverteilung von Mann und Frau. Im Zuge der Emanzipation in den letzten Jahrzehnten hat der Thron der Herren der Schöpf­ung jedoch allmählich zu wackeln begonnen. Die Ungerechtigkeit, die die Frauen lange Zeit erfahren müssen, wird womöglich bald ein Ende nehmen. Schaut man nämlich auf die neue Generation, so muss man feststellen, dass die Jungen in einer schweren Krise stecken. Wie PISA und andere Untersuchungen zeigten, haben in den Schulen die Mäd­chen die Nase vorn. Sie sind es, die die besseren Noten haben, seltener sitzenbleiben, in größerer Zahl die höheren Schulen besuchen und letztendlich auch höhere Bildungsab­schlüsse erlangen. In den vergangenen Jahren fanden sich in den Medien immer wieder Titel wie „Arme Jungs"[1], „Die Jungenkatastrophe"[2], „Schlaue Mädchen, Dumme Jung­en"[3] oder „Jungen in der Krise"[4]. Das Thema macht Deutschland zu schaffen. Aber wie lassen sich die Ergebnisse von PISA und Co. erkären? Welche Gründe gibt es für das schlechtere Abschneiden der Jungen? Zieht unser heutiges gendersensibles Bildungssys­tem infolge der langjährigen intensiven Förderung der Mädchen schlicht und einfach eine Benachteiligung und eine Vernachlässigung der Jungen mit sich? Was muss sich tun, damit die Jungen ihren Rückstand wieder aufholen? Wie kann man sie im Laufe des Schullebens unterstützen? Was können wir als angehende Lehrer tun?

Mit diesen und ähnlichen Fragen setzt sich die folgende Arbeit auseinander. Zunächst einmal sollen mögliche Gründe für das schlechtere Abschneiden der Jungen gegenüber den Mädchen im deutschen Bildungssystem angeführt werden. Im Anschluss daran soll eine eigene empirische Studie vorgestellt werden, die am Göttinger Otto-Hahn-Gymna­sium durchgeführt wurde. Hierbei wurden Schülerinnen und Schüler u.a. dazu befragt, ob sie selbst Ungerechtigkeiten im Hinblick auf ihr Geschlecht erleben und wie sie sich und das jeweils andere Geschlecht im Schulkontext beurteilen würden. Abschließend sollen aktuelle Fördermaßnahmen für Jungen vorgestellt und weitere Vorschläge dazu gemacht werden, wie man sie in der Schule besser motivieren könnte, bevor im Fazit eine Zusammenfassung der Ergebnisse präsentiert und dabei eine persönliche Einschät­zung vorgenommen wird.

2. Wie lässt sich die Krise der Jungen erklären?

Betrachtet man die Ergebnisse von PISA, IGLU und Co., so zeigt sich eine klare Hete- rogenität zwischen Mädchen und Jungen. Ein wesentlicher Grund dafür liegt wahr­scheinlich auf einer ganz anderen Ebene als der eigentlichen schulischen Leistung, der Motivation, Anstrengung und dem Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern: „Be­funde der pädagogischen Geschlechterforschung (...) haben gezeigt, dass Erwartungen 'himmelblau' und 'rosarot' eingefärbt sein können."[5] Sowohl Lehrer als auch Eltern machen, wenn auch nicht immer ganz bewusst, Unterschiede zwischen den Geschlech­tern. Von Jungen wird etwas anderes erwartet als von Mädchen. Solche Erwartungen lenken nicht nur das Verhalten der Lehrkräfte, sie haben ebenso Einfluss auf die Ler­nenden und ihr Selbstkonzept. Während die Mädchen sowohl bei Eltern als auch bei Lehrern als ruhig, brav, lieb und fleißig gelten, werden die Jungen oft als laut, frech, re­bellisch und faul angesehen.[6] Natürlich trifft diese Stereotypisierung nicht in demselben Maße aufjeden einzelnen Jungen undjedes einzelne Mädchen zu, es gibt genauso streb­same und ruhige Jungen wie es freche, faule Mädchen gibt. Trotzdem hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass gerade die Lehrer dieses Rollendenken an den Tag legen, stereotyp denken und dabei gängige Geschlechterzuweisungen vorneh­men. Dies verunsichert das vermeintlich starke Geschlecht, das sich insbesondere von seinen weiblichen Lehrkräften missverstanden und ungerecht behandelt fühlt. Frank Beuster bringt das Problem auf den Punkt: „Frauen wissen oft nicht wie Jungs ticken."[7] Es sei ihnen nicht bewusst, dass es einfach in der Natur der Jungen liegt, dass sie mehr Bewegungsdrang haben und es ihnen schwerer fällt sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. Das „pflegeleichte Mädchen"[8] sei für die meisten Lehrerinnen zum Maßstab geworden. Dies stürzt die Jungen immer mehr in eine Identitätskrise. Früher waren Prügeleien unter Schülern auf dem Schulhof völlig normal, es gehörte zur Rolle der Männer, die in der Gesellschaft akzeptiert wurde. Heute ist solch ein Verhalten uner­ wünscht, was dazu führt, dass Jungen viel schwieriger eine richtige Rollenidentität für sich finden.[9] Dabei ist es doch verständlich, dass Jungen männlich sein wollen, und da­zu gehört vielleicht auch, dass sie einen stärkeren Drang haben sich auszutoben und Streitigkeiten gelegentlich mit den Fäusten austragen. Mädchen verhalten sich mit ihren Zickereien und Lästereien in vielen Fällen nicht besser, im Gegenteil, oft leiden die „Opfer" hier sogar mehr. Der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann kritisiert die Er­ziehung in Kindergärten und Grundschulen und die Tatsache, dass in diesen Institu­tionen vorwiegend Frauen beschäftigt sind:

„Hier hat sich eine Wohlfühl-Kuschel-Pädagogik eingeschlichen, die den kleinen Jungs gewaltig auf die Nerven geht. Es geht (...) um diese generelle Antigewalt-, Antikörperlichkeit-, Antimänn- lichkeitserziehung (... ) Wenn heute im Kindergarten eine Fensterscheibe zu Bruch geht, wird doch sofort der Morgenkreis einberufen. Jungen haben heute kaum noch die Fähigkeit, sich selbst in ihrer Körperlichkeit, in ihrer männlichen Durchsetzungsfähigkeit kennenzulernen. Sie werden mit Teilen ihrer Männlichkeit überhaupt nicht mehr bekannt."[10]

Dass Jungen bemüht sind, so männlich zu sein, wie es ihnen heutzutage in der Schule noch möglich ist, dazu gehört auch, dass sie insgesamt weniger engagiert und fleißig sind als Mädchen. „In den letzten Jahrzehnten ist das Image von erarbeitetem Bildungs­erfolg unter Jungen (...) gesunken."[11] Jungen wollen keine Streber mehr sein. „Um seine Härte zu beweisen, muss ein Junge jede Aktivität meiden, die ihm das Etikett Schwächling' eintragen könnte. Ein wesentliches Element zur Entwicklung zum Mann besteht zweifellos darin, nicht-weiblich zu werden."[12] Vor diesem Hintergrund stellt die „Feminisierung von Schule"[13] logischerweise ein großes Problem für sie dar, die sie ihre Männlichkeit herstellen und ausleben wollen. Heute stehen Bedürfnisse der Mädchen klar im Vordergrund. Es werden in der Schule zumeist weibliche Qualitäten betont und eingefordert: Lesefreude, Sprachbegabung, Teamfähigkeit und Kommunikationstalent.[14] „Jungen müssen (...) Dinge tun, die sie überhaupt nicht können: alles, was ganz gleich­mäßig und regelmäßig verläuft (...) [Sie] werden in dieser Lust von Ordnung schier verrückt. Deshalb lehnen sie dieses System dann einfach unwillkürlich ab. Und wenden sich anderen Dingen zu."[15] Dies geht in einigen Fällen mit schlechteren Leistungen einher. Wilfried Bos, Leiter der IGLU-Studie für Deutschland, kritisiert die Vernach­lässigung der Bedürfnisse der Jungen sowie die Missachtung deren Interessen. Er sieht das Problem schon bei der Auswahl des Unterrichtsstoffes, z.B. im Fach Deutsch:

„Vielleicht werden zu viele Texte gelesen, die nicht den Interessen von (...) Jungen entsprechen."[16] Jungen würden lieber Comics lesen als Geschichten. Diese spielen in der Schule jedoch keine Rolle. Generell wird es als negativ bewertet, dass sich der Un­terricht zu sehr „'an weibliche Formen des Lernens und Gestaltens' angepasst [hat]."[17] William Pollack betont, dass es de facto der Fall sei, dass Mädchen und Jungen unterschiedliche Lernstile und -tempi sowie unterschiedliche Interessen und Motivatio­nen hätten, dass die Schule diesjedoch ignoriere: „Die Schule erkenne die Probleme der Jungen (...) nicht (...) Sie gehe mit den emotionalen Bedürfnissen der Jungen nicht an­gemessen um (...) Das Verhalten von Jungen werde (...) als disziplinares Problem be­trachtet (...) Lehrpläne und Unterrichtsmethoden gingen nicht auf die besonderen In­teressen von Jungen ein."[18] Fühlen sich Jungen in der Schule benachteiligt und unfair behandelt und sind sie vom Unterrichtsstoff und den Methoden gelangweilt, so kann dies ohne Zweifel ihre Motivation und darüber hinaus ihre Leistungen beeinträchtigen. Betrachtet man die Ergebnisse der Studien, die Leistungen von Jungen und Mädchen in den verschiedenen Fächern genauer, so zeigt sich, dass die Mädchen in Deutsch und anderen Sprachen besser abschneiden und sich im kreativen Bereich talentierter zeigen, während die Jungen nur noch in den Naturwissenschaften vorne liegen - und selbst hier haben die Mädchen in den letzten Jahren enorm aufgeholt, vor allem in Mathematik und Biologie sind die Unterschiede in den Leistungen gering. Hurrelmann merkt an:

„Seit den siebziger Jahren wurden [die Mädchen] für Themen begeistert, die davor eine Männer­domäne waren: Technik, Mathematik, logisches Denken. Das hat gewirkt (...) Wir haben aber vergessen, auch für die Jungen eine solche gezielte Förderung in den Bereichen zu machen, in denen sie ihre Schwächen haben. Alle haben gedacht: Die Jungs sind stark, die schaffen das von selbst. Heute wissen wir: das war falsch."[19]

Offensichtlich scheint es auch heute noch gewisse Domänen von Mädchen und Jungen zu geben, die den jeweiligen Interessen entsprechen - viele Mädchen lesen und malen sehr gerne, Jungen sind lieber draußen in der Natur, basteln, kniffein und erforschen Dinge - jedoch sollte man es so gut es geht vermeiden von „Mädchen-" und „Jungen­fächern" sprechen. Damit wäre man nämlich sofort bei einer Roilenzuschreibung und Stereotypisierung angelangt - und dies hat nachweislich negative Auswirkungen. Stu­dien, u.a. der IGLU-Vergleichstest von 2005, haben gezeigt, dass Jungen in Deutsch trotz gleicher Leistung schlechtere Noten bekommen.[20] Es scheint also immer noch Lehrer zu geben, die sich von gewissen Vorurteilen und stereotypem Denken lenken lassen. Ist ein Junge gut in Deutsch, so ist er möglicherweise in den Augen des Lehrers trotz gleicher Leistung schlechter als ein gutes Mädchen, weil Deutsch in dem Sinne kein „Jungenfach" ist. Natürlich wäre es absolut falsch der Gesamtheit der Lehrerschaft so etwas zu unterstellen. Viele Lehrer haben einen „geschlechtssensiblen Blick"[21] und sind darum bemüht Geschlechterstereotype zu entkräften, jedoch beweisen die Studien, dass es auch solche Lehrer gibt, die dazu (noch) nicht fähig sind.

Bei der zum Teil festgestellten ungerechten Notenvergabe von Lehrerinnen ist noch ein weiterer Punkt bemerkenswert. Gerade Lehrerinnen neigen dazu das Sozialverhalten mit in die Note einzubeziehen. Die Mädchen, von denen schon von vorneherein erwartet wird, dass sie lieb und fleißig sind, sich kooperativ und sozial zeigen, weisen meist auch ein solches Verhalten auf. Dies schlägt sich positiv auf ihre Noten aus. Jungen hingegen ziehen an dieser Stelle erneut den Kürzeren. Gerade in der Grundschule und den unteren Klassen der weiterführenden Schulen fallen sie dadurch auf, dass sie herumzappeln, sich streiten, körperliche Aggressionen zeigen und den Unterricht stören - Verhaltens­weisen, die eigentlich „normal" sind und in der Natur der Jungen liegen, von Lehrkräf­ten jedoch oft nicht verstanden und sehr negativ aufgefasst werden. Jungen finden sich dadurch in einem Dilemma. Ihr normales und eigentlich auch erwartetes Verhalten hat für sie in der Schule oft negative Folgen. Da die Lehrenden es in der Regel vermeiden autoritär aufzutreten, sanktionieren sie das Verhalten der Jungen indirekt, und zwar über die Leistungsbewertung.[22]

Im Hinblick auf die Lehrerschaft und deren Zusammensetzung lässt sich ein weiterer Grund für die schlechteren Leistungen der Jungen vermuten. Dieser geht mit der „Feminisierung von Schule" einher. Seit den 80er Jahren hat sich der Anteil der Lehrer­innen stetig vergrößert, er liegt heute insgesamt bei etwa 60%. Vor allem in der Grund­schule ist der Anteil der weiblichen Lehrkräfte jedoch oft viel höher, die Jungen sehen sich einer „weiblichen Übermacht"[23] gegenüber. Im Jahre 2003 betrug der Anteil der männlichen Lehrer an deutschen Grundschulen im Vergleich nur noch 13,3%.[24] Gerade Lehrerinnen, so lautet der allgemeine Konsens, würden die Jungen aber häufig benach­teiligen „sowohl durch ihr an Fraueninteressen orientiertes Lehrangebot als auch durch Mädchen bevorzugende Bewertung."[25]

[...]


[1] Focus Nr. 32 2002.

[2] Beuster 2006.

[3] Spiegel Nr. 21 2004.

[4] Dammasch, 2007.

[5] Ludwig & Ludwig 2007, 7.

[6] Vgl. z.B. Budde 2009, 28.

[7] Gesterkamp 2009, 11.

[8] Ibid., 11.

[9] Vgl. Ibid., 12.

[10] Spiegel Online 05.04.2008.

[11] Spiegel Online 23.04.2010.

[12] 12Maccoby 2000,71.

[13] Budde 2009, 28.

[14] Vgl. Schultheis & Fuhr 2006, 14.

[15] Spiegel Online 05.04.2008.

[16] Spiegel Online 07.11.2005.

[17] Gesterkamp 2009, 13.

[18] Schultheis & Fuhr 2006, 19.

[19] Spiegel Online 23.04.2010.

[20] Spiegel Online 07.11.2005.

[21] Kaiser 2009, 40.

[22] Vgl. Rohrmann 2008, 110.

[23] Spiegel Online 12.03.2009.

[24] Vgl. Roisch 2003,27.

[25] Prengel 2008, 124.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Haben wir ein neues schwaches Geschlecht?
Untertitel
Warum die Jungen in der Schule schlechter abschneiden und was man dagegen tun kann
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
22
Katalognummer
V197335
ISBN (eBook)
9783656235316
ISBN (Buch)
9783656238904
Dateigröße
591 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heterogenität;, Geschlechter;, Jungen;, Schule;, Fördermaßnahmen;, PISA
Arbeit zitieren
Alexandra Griesing (Autor:in), 2011, Haben wir ein neues schwaches Geschlecht?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197335

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