Reisezeit - Betrachtungen eines Zwischenraums


Hausarbeit, 2011

32 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Drei Gemälde zum Thema
2.1 THE TRAVELLING COMPANIONS von Augustus Egg (1862)
2.2 AUF DER FAHRT DURCH DIE SCHÖNE NATUR von Adolph von Menzel (1892)
2.3 CHAIR CAR von Edward Hopper (1965)
2.4 Der Bruch

3 Vor dem Fenster
3.1 Das Panorama
3.2. Der panoramatische Blick
Die Medialität des Blickes
Die ferne Nähe und die nahe Ferne
Ästhetisierung der Landschaft

4 Hinter dem Fenster
4.1 Reiseraum als Zwischenraum
4.2 Reisezeit als Lesezeit

5 Fazit mit Ausblick

6 Quellenverzeichnis

7 Abbildungsverzeichnis

Abstract

Eine Reise bietet eine gute Gelegenheit, wieder mal ein gutes Buch zu lesen, ein kleines Nickerchen zu machen oder auch das ein oder andere am Laptop zu erledigen. So wird eine mehrstündige Fahrt ans Ziel effektiv genutzt. Der Zwischenraum, der sich während einer Reise auftut, soll in der vorliegenden Arbeit im historischen Kontext beleuchtet werden. Wie verhält es sich mit dem Blick nach draußen, wie veränderte sich das Sehen mit der Erfindung der Eisenbahn? Ist Reisezeit verlorene oder gar tote Zeit und hat sich der Reisende schon immer von der Monotonie einer Bahnfahrt mithilfe von Medien abgelenkt? Diese Fragen werden in drei Teilen behandelt. Drei Gemälde, die das Waggoninnere des 19. und 20. Jahrhunderts darstellen, führen in einem ersten Teil zum Thema. Im zweiten und dritten Kapitel wird dann die Welt vor und hinter dem Abteilfenster betrachtet.

From a Railway Carriage

Faster than fairies, faster than witches, Bridges and houses, hedges and ditches; And charging along like troops in a battle All through the meadows the horses and cattle: All of the sights of the hill and the plain

Fly as thick as driving rain;

And ever again, in the wink of an eye, Painted stations whistle by.

Here is a child who clambers and scrambles, All by himself and gathering brambles; Here is a tramp who stands and gazes; And here is the green for stringing the daisies!

Here is a cart runaway in the road

Lumping along with man and load; And here is a mill, and there is a river: Each a glimpse and gone forever!

by Robert Louis Stevenson

1 Einleitung

Das Tippen dieser ersten Zeilen geschieht in einem Zugabteil. Ich nutze eine Fahrt von einigen Stunden Länge, um zu arbeiten, um effektiv zu sein. Beim gelegentlichen Blick aus dem Fenster schweifen die Gedanken ab, parallel zur vorüberziehenden Landschaft. Ich sehe durch die satten Wiesen und die dichten Wälder hindurch, sie geben Gelegenheit für einen kurzen Moment des Nachdenkens. Jener formt die Worte, die kurz darauf auf dem Bildschirm erscheinen werden. Am Zielbahnhof angelangt, wird der Laptop zugeklappt, der Text der Hausarbeit ist nun ein Stück länger, vom passierten Zwischenraum, der Landschaft, die der Zug durchquert hat, habe ich nichts mitbekommen.

Genau dieser Zwischenraum, der sich während einer Bahnreise auftut, soll Thema der vorliegenden Arbeit sein. Wie charakterisiert sich der Blick aus dem Zugfenster und wie entwickelte er sich? Warum entziehen sich die Passagiere diesem Blick heute zunehmend, um in eine isolierte Welt der Medien zu flüchten? Diese Fragen werden im historischen Kontext unter Beleuchtung der Anfangszeit der Eisenbahn, dem beginnenden 19. Jahrhundert, bearbeitet.

Reisen vor der Industrialisierung war noch ziemlich unbequem. Wählen konnte man zwischen der Postkutsche, die bereits nach Fahrplan fuhr und der Extrapost, oder aber man besaß eine Privatkutsche. Mit dem Ausbau von Straßen und der damit verbundenen Einführung von Schnellpostkutschen entstand um 1821 ein neues Transportmittel, das erstmals ein bequemes und pünktliches, vor allem aber zeitersparendes Reisen ermöglichte. Überboten wurde der damalige Komfort dann durch die Eisenbahn, die sich ab den 1830er Jahren auf europäischen Streckenverbindungen durchsetzte. Seit der Jahrhundertmitte nahmen die Fahrtgeschwindigkeiten deutlich zu und die Eisenbahn etablierte sich als schnellstes und preiswertestes Verkehrsmittel.

Doch nicht nur verkehrstechnisch war diese Zeit eine Neuerung, auch in die Kunst hielt das Transportmittel Einzug. William Turner griff die bahnbrechende Geschwindigkeit als Thema auf, indem er beispielsweise in REGEN, DAMPF UND GESCHWINDIGKEIT von 1844 den verschwindenden Raum mittels flüchtig hingeworfener Farben und rascher Pinselstriche

auf die Leinwand bannte.1 Später war besonders das Zugabteil für Maler eine spannende, neue Kulisse, da ein dynamisches Wechselspiel zwischen dem Blick nach außen sowie dem Leben im Abteil entstand. Die Künstler Augustus Egg, Adolph von Menzel und Edward Hopper thematisieren in ihren Bildern den Wandel in der Abteilkultur sowie die Entwicklung eines neuen Sehens. Drei ihrer Gemälde sollen als Einstieg in das Thema der vorliegenden dreiteiligen Arbeit dienen.

Im ersten Teil werden die Werke THE TRAVELLING COMPANIONS (1862) von Augustus Egg, AUF DER FAHRT DURCH DIE SCHÖNE NATUR (1892) von Adolph von Menzel sowie Edward Hoppers CHAIR CAR (1965) beschrieben und analysiert. Aus den gewonnenen Erkenntnissen wird der weitere Untersuchungsgegenstand für Teil zwei und drei abgeleitet. Unterschieden wird dabei zwischen dem Geschehen vor dem Zugfenster und hinter diesem, also dem Leben im Abteil.

Im zweiten Teil wird der Blick aus dem Zugfenster thematisiert. In Ableitung des beliebten Abbildungsmediums des 19. Jahrhunderts, dem Panorama, wird der neue mobile Blick als panoramatisches Sehen charakterisiert. Inwiefern rauscht die Landschaft vor dem Fenster nur am Reisenden vorbei und wird nicht in ihrer ganzen Realität wahrgenommen? Welche Auswirkungen auf das Verhältnis von Nähe und Ferne bringt das durchweg medial geprägte Sehen und inwiefern vermag es Landschaften zu ästhetisieren?

Im dritten Teil wird sich der Abteilkultur des 19. und 20. Jahrhundert gewidmet. Inwiefern fühlt sich der Reisende ein geschlossen und bleibt damit vom Außen aus geschlossen? Des Weiteren wird die Literatur als Ersatzwelt zum Blick aus dem Fenster und zur Reiseunterhaltung erklärt. 1999 veröffentlichten die Stiftung Lesen, der Spiegel-Verlag und die Deutsche Bahn eine gemeinsame Studie, die die Lesegewohnheiten von Zugreisenden aufzeigte. Das Ergebnis verdeutlicht, dass die Eisenbahn neben dem privaten Raum zuhause zu den beliebtesten Leseorten zählt.2 Die Fahrt mit der Eisenbahn scheint Landschafts- durch Medienkonsum zu ersetzen, wie der Erfahrungsbericht Alain de Bottons belegt:

Im Zug sahen wir Reisende dösen oder lesen. Der Lake District war für sie ein Halt unter anderen, an dem sie kurz von ihrem Buch aufschauten und die Blumenschalen aus Beton wahrnahmen, die in regelmäßigen Abständen über den Bahnsteig verteilt standen, einen Blick auf die Bahnhofsuhr warfen und vielleicht ungeniert gähnten - bevor der Zug nach Glasgow wieder in die Dunkelheit davonfuhr und sie sich dem nächsten Absatz in ihrem Buch zuwandten.3

Die drei Teile der Arbeit betrachten den entstandenen Zwischenraum während einer Reise und sollen im Ganzen unter der Fragestellung stehen, inwiefern Reisezeit tatsächlich verlorene Zeit ist.

2 Drei Gemälde zum Thema

2.1 THE TRAVELLING COMPANIONS von Augustus Egg (1862)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1 Augustus Leopold Egg - The Travelling Companions (1862).

Augustus Egg (1816 - 1863) war ein englischer viktorianischer Maler und Mitglied der Künstlergruppe THE CLIQUE. Seine ersten Bilder hatten literarischen Hintergrund, beispielsweise referierte er auf Werke seines Freundes Charles Dickens. Egg organisierte Ausstellungen und spielte Theater. 1859 entstand sein berühmtestes Werk PAST AND PRESENT, eine Serie von drei Bildern. Aufgrund einer schweren Atemwegserkrankung verbrachte Egg seine letzten Lebensjahre in Südeuropa, dort entstand 1862, ein Jahr vor seinem Tod, das Öl-Gemälde THE TRAVELLING COMPANIONS, das im Folgenden analysiert werden soll.4

Zwei Frauen sitzen sich in einem Zugabteil gegenüber. Sie scheinen aufgrund ihrer vornehmen, pompösen, viktorianischen Kleider reich zu sein, vielleicht sind sie adelig. Das Innere des Abteils ist dazu passend prächtig ausgestattet und in warmen Gold- und Rottönen gehalten. Vor den drei Fenstern hängen eine Jalousie sowie zwei Vorhänge, die aber zur Seite geschoben sind. Der rechte Vorhang bietet der einen Reisenden Schutz vor der Sonne, damit sie nicht beim Lesen gestört wird. Die vorüberziehende Landschaft stellt die Umgebung rund um die Stadt Menton in Südfrankreich dar. Ein satter grüner Wald ist im Vordergrund, eine bergige Küste im Hintergrund abgebildet. Das Meer an den Felsen erstrahlt in kräftigem Blau. Die Küste ist dagegen nur etwas verschwommen am Horizont wahrzunehmen. Die ganze Szene liegt in der Abendsonne, der Himmel ist wolkenlos. Alles in allem ein sehr schönes Licht auf einer hübschen Landschaft. Von diesem Anblick bekommen die beiden Reisenden allerdings nichts mit. Im Gegensatz zur weiten Landschaft vor dem Fenster, erscheint das Innere als eng und gedrängt. Das Abteil scheint für vier Personen ausgelegt zu sein, die beiden Frauen nehmen mit ihren fülligen Kleidern jedoch den gesamten Platz ein. Die linke Dame hält ihre Hände im Schoß, auf denen auch ihr Hut platziert ist, wie zum Gebet gefaltet. Ihr Kopf lehnt an der Wand des Abteils, die Augen sind geschlossen. Sie scheint zu ruhen oder gar zu schlafen. Die rechte Dame liest konzentriert in einem roten Buch, unverkennbar ein Baedeker Reiseführer. Ob sie ihn als Sehhilfe benötigt, weil sie die Sehenswürdigkeit des Landschaftsstrichs nicht wahrzunehmen im Stande ist? Auf den Sitzplätzen neben den beiden Reisenden befinden sich ein Körbchen, indem sich etwas Obst befindet sowie ein Blumenstrauß. Diese beiden Gegenstände deuten darauf hin, dass ein Besuch das Reisemotiv der beiden Frauen ist.

Der Titel THE TRAVELLING COMPANIONS kann mit „Die Reisegefährten“ übersetzt werden. Der Titel verweist auf einen Bruch, ist doch keine Interaktion zwischen den beiden Damen erkennbar, was sie zu Gef ä hrten oder Begleitern machen würde. Sie könnten zwei völlig unabhängige Personen sein, wäre da nicht die sie verbindende Optik. Die Frauen tragen das gleiche Kleid und haben den gleichen Hut auf ihrem Schoß liegen. Die dargestellte Szene ist sehr symmetrisch, sie lässt fast an eine Spiegelung erinnern. Die optische Gleichförmigkeit der Beiden spiegelt sich zusätzlich in der Symmetrie der Einrichtung des Waggons wider. Doch auch wenn die zwei Reisenden optisch identisch erscheinen, sind sie kein Spiegelbild ihrer selbst. Eine Dame schläft, die andere liest in ihrem Baedeker. Ihr Reiseverhalten ist ähnlich: sie entziehen sich dem Blick nach außen und vertreiben sich die Zeit. Sie nehmen nicht an der vorbeiziehenden Landschaft teil, die doch so kräftig vor dem Fenster erstrahlt. Sie sind sich nicht gegenseitig sondern sich selbst die besten Reisegefährten.

Eggs Gemälde ist nicht sehr bekannt, wirkt aber dennoch fast ikonisch. Dies resultiert zum einen daraus, dass der reiseerfahrene Betrachter sich in diese alltägliche Situation gut hinein fühlen kann, versucht auch er stets die Gleichförmigkeit einer Routine-Reise zu umgehen, indem er sich in eine Ersatzwelt, wie zum Beispiel die der Literatur, flüchtet. Einen anderen Aspekt, der für die Bildhaftigkeit des Werkes spricht, wirft Tom Lubbock in seinem Artikel THE INDEPENDENT'S GREAT ART SERIES auf. Seiner Meinung nach rührt der Wiedererkennungsmoment daher, dass das Bild einer Szene aus Lewis Carrolls Geschichten von Alice im Wunderland gleicht. Die beiden optisch ähnlichen Damen auf Eggs Gemälde sind Lubbock zufolge vergleichbar mit Tweedledum und Tweedledee und die Szenerie des Zugabteils ähnelt John Tenniels Illustration ALICE IN THE RAILWAY CARRIAGE des dritten Kapitels von THROUGH THE LOOKING-GLASS AND WHAT ALICE FOUND THERE. Fenster und Hüte der Reisenden sowie die Körperhaltung von Alice weisen tatsächlich eine erstaunliche Ähnlichkeit auf. Doch sind diese nur im Nachhinein erkennbar, denn das erste Alice-Buch erschien erst 1865, also drei Jahre nach Eggs Bild.

THE TRAVELLING COMPANIONS reflektiert das Reisen als eine einsame Tätigkeit, die seit den leichter zugänglichen Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn oder dem Flugzeug zunehmend anonymisiert erfolgt. Das Gegenübersitzen im Abteil wird sich im 20. Jahrhundert vermehrt zum einzelnen Sitzen hintereinander entwickeln und damit noch individueller und isolierter. Die Enge des abgebildeten Abteils lässt die Vermutung zu, Egg würde sich damit auf den peinlichen Zwang beziehen, der mit dem Ende der Reiseunterhaltung im Zug einhergeht. Das lange Gegenübersitzen und Anschweigen kommt erst mit der Eisenbahn auf, in der Kutsche wäre dieses Reiseverhalten nicht vorstellbar gewesen, da die Strapazen einer solchen Fahrt immer eine gute Basis für eine Unterhaltung darstellten. Das Bild kann auch als eine Reflektion einer der Zugfahrt immanenten Abgrenzung in einzelne Klassen betrachtet werden, da die Damen durchaus reich zu sein scheinen und komfortabel reisen. Sie reisen aber nicht der Reise wegen, sondern um ihr Ziel zu erreichen, für sie ist der einstige Luxus Routine und der Monotonie kann nur durch Ablenkung entgegengewirkt werden. Insofern kann das Bild als Kritik an der Reise ohne Reise respektive an der Passivität des Reisenden durch das Eingeschlossensein im Abteil verstanden werden. Diese Themen werden in Teil zwei und drei dieser Arbeit aufgegriffen.

[...]


1 Vgl. Borscheid 2004, 302

2 Von Herbst 1997 bis Frühjahr 1998 wurde das Leseverhalten von 3191 Reisenden in Fern- und

Regionalzügen beobachtet. 1126 Pendler, Wochenendreisende und Urlauber wurden dazu schriftlich interviewt. Nur einer von zehn Bahnreisenden sagte über sich, dass er kein Buchleser sei, lediglich vier Prozent aller Passagiere haben im Zug überhaupt nichts zu lesen dabei und schauen aus dem Fenster oder schlafen. 63 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Männer haben immer ein Buch dabei. Es folgen Zeitschriften (46 Prozent), Arbeitsunterlagen (43 Prozent) und die Tageszeitung (40 Prozent). Vgl. Stiftung Lesen 1999, 8f

3 De Botton 2002, 146

4 Vgl. Spartacus Educational (2011) Art. Augustus Leopold Egg. URL: http://www.spartacus.schoolnet.co.uk/Jegg.htm, letzter Zugriff: 21.10.2011

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Reisezeit - Betrachtungen eines Zwischenraums
Hochschule
Universität Potsdam  (Künste und Medien)
Veranstaltung
Europäische Medienwissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
32
Katalognummer
V197913
ISBN (eBook)
9783656247685
ISBN (Buch)
9783656250111
Dateigröße
1166 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Augustus Egg, THE TRAVELLING COMPANIONS, Adolph von Menzel, Auf der Fahrt durch die schöne Natur, Chair Car, Edward Hopper, Reisezeit, Zwischenraum, Medium, Panorama, Panoramatischer Blick, Panoramatisches Sehen, Ferne, Nähe, Eisenbahn, Zugfahrt, Abteil, Abgeschlossenheit, Anonymität, Lesezeit
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Elisabeth Mandl (Autor:in), 2011, Reisezeit - Betrachtungen eines Zwischenraums, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197913

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