Der Alltag einer freiberuflichen Hebamme

Die Hebamme als Indikator sozialen und kulturellen Wandels


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

30 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Forschungskontext

2 Hauptteil
2.1 Forschungsdokumentation
2.2 Analyse des Interviews
2.2.1 Der Arbeitsalltag
2.2.2 Die „Gesundheitserzieherin“
2.2.3 Die Ratgeberin
2.3 Einordnung in den geschichtlichen Kontext

3 Fazit

4 Quellen- und Literaturverzeichnis
4.1 Quellen
4.2 Sekundärliteratur

5 Anhang

1 Einleitung

Papst Pius XII. hat schon 1951 in einer Ansprache an die Mitglieder des „Verbandes katholischer Hebammen Italiens“ auf die Bedeutung der Hebamme hingewiesen.[1] Er betonte bereits damals, dass die Arbeit einer (freiberuflichen) Hebamme mehr beinhaltet, als aus der Vor- und Nachsorge und dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Schwangeren, sowie die ganze Familie haben kann. In dieser Hausarbeit möchte ich der Frage nachgehen, worin die Arbeit einer Hebamme besteht und was sich daraus für Normen und Werte unserer Gesellschaft schließen. Konkret möchte ich folgende Frage bearbeiten: Wie sieht der Alltag einer freiberuflichen Hebamme heute aus? Brigitta Schmidt Lauber empfiehlt in ihrem Aufsatz „Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens“ [2]dafür „die besondere Nähe zu den Forschungsobjekten“ zu suchen, um den Alltag und dessen Handlungsmuster beobachten und deuten zu können. Also habe ich mich für eine Feldforschung, ein Interview mit einer freien Hebamme, Rita Mißmahl entschieden. Meine angewandte Technik kommt dem von Schmidt-Lauber beschriebenen „offenen Interview“ sehr nahe, die Gesprächssituation war entspannt und wird im Verlauf der Hausarbeit noch beschrieben. In eben diesem Interview beschreibt Frau Mißmahl ihren Alltag und bewertet gleichzeitig ihre Arbeit mit den Schwangeren und alles, was darüber hinausgeht. Wie zum Beispiel ihre Funktion innerhalb der Familie, ihr Einfluss auf die Gesundheit und den Partner der schwangeren Frau. Ich betone den Teil, der über das Fachgebiet Geburt und Schwangerschaft hinausgeht besonders, denn dies zu analysieren und zu bewerten soll einen weiteren Teil dieser Arbeit ausmachen.

Was lässt sich aus der aktuellen Arbeit einer Hebamme über die heutige Kultur und unser Denken über Schwangerschaft, Geburt und Gesundheit ableiten? Eine für die Kulturanthropologie sehr interessante Frage, da der Beruf der Hebamme sehr traditionell ist, das heißt auch viele Werte in Bezug auf Schwangerschaft, Geburt und Frauenbild weitergibt. Ricarda Scherzer bezeichnet die Hebamme als „Trägerin lebensweltlichen Wissens“[3], das heißt in ihrem Arbeiten finden sich sowohl Anzeichen für Tradition, als auch die gegenwärtige Kultur. Somit wäre die Hebamme ein Indikator für sozialen und kulturellen Wandel, Hebammengeschichte wäre auch gleich Zeitgeschichte. Dies zu erforschen soll Teil dieser Hausarbeit sein.

In der Kulturanthropologie wird Kultur als ein System von Symbolen betrachtet welches die Ideen, Überzeugungen und Werte einer Gesellschaft repräsentiert. Meiner Meinung nach ist der Beruf der Hebamme ein wichtiger Indikator für den Wandel der gesellschaftlichen Werte, da sich schon anhand der Entwicklung des Berufsbildes gesellschaftliche Überzeugungen und Ideen ableiten lassen. Die Arbeit von Frau Mißmahl und auch ihre Stellung im Zusammenspiel von Ärzten, Schwangeren, Familien und der Hebamme soll als Indikator dafür dienen, wie die gegenwärtige Gesellschaft Schwangerschaft und Geburt bewertet. Im Folgenden wird zunächst der Forschungskontext kurz dargestellt. Der Hauptteil befasst sich mit dem Interview und dokumentiert dabei zuerst die Rahmenbedingungen – die Kontaktaufnahme, das Interview selbst, die Beziehung der Interviewpartner zueinander sowie die Durchführung des Interviews. Es folgt eine Feinanalyse einiger Ausschnitte des Interviewtextes, die sich auf die alltägliche Arbeit von Frau Mißmahl beziehen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Bewertung dieses Arbeitsalltags durch die Gesprächspartnerin. Nach der Analyse möchte ich beurteilen, ob und wie die vorher genannten Arbeitsweisen unsere Kultur und ihren Wandel beschreiben. Abschließen soll die Arbeit mit einer Einordnung in den geschichtlichen Kontext und damit auch einer Beurteilung des kulturellen Wandels, der sich anhand des Beispiels Hebamme zeigen lässt.

1.1 Forschungskontext

Im 18. Jahrhundert begann die Verwissenschaftlichung der Vorgänge Geburt und Schwangerschaft und damit einher ging ein Wandel des Berufsbildes der Hebamme, auch zu bezeichnen als Medikalisierung. Medikalisierung ist ein Prozess, der den Fortschritt von Technik im Bereich der Medizin beschreibt und parallel dazu den Übergang des Bildes vom heiligen Körper aus dem Bereich der Religion, hin zum Gegenstand der Wissenschaft:

„Geburt war für die Hebamme Natur im Sinne der griechischen Physis-Vorstellung: Natur ist das, was von selbst geschieht, das Aufgehende, das sich Zeigende. (…) Demgegenüber bezieht sich die wissenschaftliche Geburtshilfe auf die Geburt als einem Prozeß, den man hervorbringen kann, und dessen Bedingungen und dessen Ablauf man kontrollieren kann und muß.“[4]

Mit dem Fortschreiten der Technik war Geburt nicht länger etwas auf das gewartet wurde und bei dem die Hebamme schlicht helfen sollte, sondern wurde zu einem fast gefährlichen Ereignis, das der Kontrolle bedurfte und dessen Hergang gesteuert werden musste. An diesem Stelle verdrängten die Ärzte die Hebammen aus ihrem Tätigkeitsbereich. Das Frauenbild, das sich parallel dazu entwickelte, sah die Frau als schwach und krank. Der Vorgang Geburt wurde Pathologisiert – das „immer kranke Geschlecht“ [5] ließ keinen Zweifel daran, dass medizinische Betreuung vor allem während Schwangerschaft und Geburt unbedingt notwendig seien, da ihr Körper in diesen Zeiten als extrem schwach und krank gelte. In dieser Zeit begannen Ärzte die freiberuflich arbeitenden Hebammen öffentlich anzufeinden mit der Begründung, sie seien unerfahren, ungeschickt, boshaft und nachlässig. Kurz: Die Betreuung einer so genannten „Krankheit“ wie der Schwangerschaft sei ihnen nicht zu zutrauen. Dieses Bild wirkte sich weiter auf die Gesellschaft aus; Frauen und Hebammen spielten nur noch am Rande eine Rolle. Die Arbeitsschritte, die früher von einer Hebamme verrichtet wurden oder sogar gar keiner Hilfe bedurften, wurden von Ärzten übernommen. Es entwickelte sich eine Abhängigkeit von der Technik, die Frauen begannen ein größeres Vertrauen in moderne Diagnostik, wie zum Beispiel den Wehenschreiber, zu entwickeln, als in ihr eigenes Körpergefühl.[6] Was uns heute so alltäglich und normal erscheint, existiert noch gar nicht so lange. Die Anzahl der Klinikgeburten war vor hundert Jahren noch sehr gering und stieg bis heute auf 99 Prozent. Die Medizin drängte sich sozusagen in den Arbeitsbereich rund um die Geburt. Die Hebammen mussten sich entweder diesem Bild fügen und sich unterordnen oder ihren Wirkungskreis erweitern – über Schwangerschaft und Geburt hinaus. Wie ist die Situation heute? Die meisten Leistungen der Hebamme werden offiziell von der Krankenkasse bezahlt – ein Zeichen dafür, dass sie ihr Expertengebiet zurückerobert hat? Dieser Kampf gegen die Medizin dauert noch immer an, was auch in der folgenden Analyse deutlich werden wird. Eine wichtige Rolle spielen auch die Vielzahl alter Mittel und Rezepturen aus Heilkunde, Akupunktur und Homöopathie, die durch die Hebamme zurück in unsere Kultur gebracht werden. Auch die „alten“ Gebärpositionen aus der Antike wie Sitzen, Hocken oder Stehen sind wieder im Kommen[7] – und sehen sich damit als Ausgleich zum medizinischen Fortschritt. Was bewirken sie damit und wie wird diese Arbeitsweise in der modernen Gesellschaft aufgenommen? In dieser Arbeit möchte ich mich auch damit beschäftigen, wie die gegenwärtige Arbeit der Hebamme aussieht und was sie über unser Denken über Schwangerschaft, Geburt und Gesundheit aussagt.

2 Hauptteil

2.1 Forschungsdokumentation

Als Interviewpartnerin habe ich meine Mutter, Rita Mißmahl, gewählt, deswegen war die Interviewsituation sehr angenehm und entspannt. Sie arbeitet freiberufliche Hebamme. Für uns beide war schnell klar, dass ich diese Feldforschung mit ihr durchführen kann. Die Interviewsituation war daher sehr persönlich, angenehm und nicht beeinflusst durch distanzierte Haltung. Zum Zeitpunkt des Interviews war Rita Mißmahl 47 Jahre alt und arbeitete bereits seit mehr als zwanzig Jahren in ihrem Beruf. Nach dem Abschluss der Realschule machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester und nach einiger Zeit ihre Leidenschaft für das Entstehen neuen Lebens entdeckt. Eine Ausbildung zur Hebamme schloss sie an. Danach arbeitete sie zwei Jahre in einem großen geburtshilflichen Krankenhaus, um praktische Erfahrung zu sammeln, und begann in allen Bereichen der Hebammentätigkeit selbstständig zu arbeiten: angefangen bei der Betreuung in der Schwangerschaft über Beleggeburten, also einer ganzheitlichen Betreuung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, und Nachsorge. Vor drei Jahren eröffnete sie ihre eigene Hebammenpraxis im Oberbergischen Kreis.

Das Interview fand an einem Spätnachmittag in unserem Wohnzimmer statt. Die Atmosphäre war dadurch angenehm und entspannt. Trotz anfänglicher Nervosität ihrerseits, die durch die ungewohnte Gesprächssituation und das Aufnahmegerät ausgelöst wurde, entwickelte sich aus dem Interview eine entspannte Unterhaltung. Meine Einstiegsfrage nach dem Alltag einer freiberuflichen Hebamme beantwortete sie ohne zu Zögern und daraus entwickelte sich eine gute Gesprächsbasis. Im weiteren Verlauf brachte sie eigene Gedanken mit ein und vereinfachte mir, als nicht geübte Interviewerin, so den Verlauf. Für mich war es auf diese Art und Weise leichter, Fragen zu stellen und auf bestimmte Punkte näher einzugehen. Zum Beispiel darauf, inwiefern sie ihrer Meinung nach die Gesellschaft beeinflussen könne und ob sie dies auch beabsichtige. Dieser Punkt wird im Folgenden noch näher erläutert. Im Laufe der insgesamt fünfzig Minuten wurde die Frage-Antwort-Situation immer wieder durch Interaktionen beider Seiten aufgelockert. Nach der Hälfte der Zeit war die Situation so locker, dass ich meinen Notizzettel mit Fragen beiseitelegen konnte. Im Vorfeld geholfen hat mir das autobiographische Buch von der Kölner Hebamme Therese Schlundt[8] und das Werk von Jean Towler „Midwives in history and society“ [9] , in denen ich mich im Vorhinein über die Geschichte und Entwicklung der Hebammen informiert habe. So konnte ich vorbereitet in das Interview starten, gezielte Fragen stellen und unnötige Abschweifungen vermeiden. Als negativ empfunden habe ich, dass die an manchen Stellen nötige, wissenschaftliche Objektivität meinerseits gefehlt hat. Sicherlich hätte ich, wäre ich objektiver und distanzierter gewesen, andere Fragen gestellt und einige Themen, die mir als unwichtig und bereits bekannt erscheinen, vertieft.

Hilfreich bei der Forschung war die Menge an Literatur, die es im Bereich Hebammenforschung bereits gibt. Ich habe viele Ausarbeitungen und Dissertationen zu dem Thema gefunden, sowie einige Bücher, die sich mit Geschichte und Entwicklung der Hebamme beschäftigen. Kulturanthropologen wie Marita Metz-Becker oder Ricarda Scherzer haben sich bereits umfassend mit der Geschichte der Hebammen befasst und ich konnte mich in ihren Werken gut informieren. Dennoch muss ich sagen, dass es wenig aktuelle Literatur zu dem Thema Hebamme gibt und vor allem der Kontext Hebamme und Kultur noch wenig erforscht ist. An der Hochschule in Osnabrück aber gibt es mittlerweile einen Studiengang „Hebammenforschung“, der sich eben mit diesen und anderen Themen beschäftigt.[10] Vermutlich wird das Thema immer wichtiger, je weiter der medizinische Fortschritt schreitet und je mehr die Menschen nach einer Alternative zur Schulmedizin suchen.

2.2 Analyse des Interviews

2.2.1 Der Arbeitsalltag

Zuerst möchte ich hier auf die Textstelle eingehen, die den Arbeitsalltag von Frau Mißmahl beschreibt. Meine Frage war offen formuliert und ließ ihr viel Raum, sich frei zu äußern. Ihren Arbeitsalltag beschreibt sie wie folgt:

„Das heißt, wenn alles normal läuft ohne Probleme, fängt mein Tag gegen acht Uhr mit telefonischer Beratung an in der Praxis, das heißt, das sind Termine mit Beratungsgesprächen, mit (hm) Schwangeren und den Ehemännern dazu (ähm)…ganz neue Frauen, die mich erst mal kennen lernen wollen, die erst mal wissen wollen, wie die (ähm) Beratung aussieht. Das ist also so’n Beratungsgespräch, dann gibt es Ernährungsberatung (…) und dann natürlich halt flexible Termine (…) [zum Beispiel] Schwangere mit Beschwerden. (…) Danach fahre ich meistens auf Hausbesuche. Das heißt ich besuche die Frauen zuhause. (…) Meistens versuche ich dann Spätnachmittags dann erst mal eine Pause zu machen um dann abends nochmal mit den Kursen zu starten.“[11]

Schon an diesem Zitat fällt die enorme Flexibilität des Arbeitsalltages auf, der sich vollkommen auf die schwangeren Frauen und ihre Bedürfnisse einstellt. Der erste Kontakt findet am Morgen während der Beratungsgespräche statt. Diese werden in der Praxis abgehalten die zu diesem Zeitpunkt jedem offen steht. Es sind zwar meist Termine zu vereinbaren, jedoch besteht auch die Möglichkeit, ohne Termin eine Beratung zu bekommen. Diese Option sei vor allem für junge oder unsichere Frauen sehr wichtig, die sich vielleicht unwohl dabei fühlen telefonisch Kontakt aufzunehmen. Frau Mißmahl betonte auch, dass das Beratungsgespräch vor allem dazu dient sich erst mal kennen zu lernen. Zwischen der Hebamme und der betreuten Frau wird also zunächst eine Beziehung aufgebaut, bevor die Beratung richtig beginnt. Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass die werden Väter in vielen Gesprächen mit dabei sind. Das war nicht immer so, denn noch bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus galt Geburt als Frauensache, mit der die Männer nur wenig zu tun hatten. Mittlerweile ist es üblich, dass der mit in den Kreißsaal kommt. Hier zeigt sich deutlich ein Wandel in der Zuweisung der Geschlechterrolle im Feld der Schwangerschaft und Geburt. Daraus folgt ein neuer Arbeitsbereich für die Hebamme, die sich seitdem nicht mehr nur um die schwangere Frau, sondern um die gesamte Familie kümmert. Ein Aspekt auf den ich später noch eingehen werde. Interessant ist auch, dass Frau Mißmahl die Ernährungsberatung als festen Bestandteil ihrer Arbeit sieht. Im späteren Verlauf des Interviews bezeichnet sie sich sogar als „Gesundheitserzieherin“[12] für die ganze Familie. Hier schon zeigen sich die Vielfalt ihrer Arbeit und die unterschiedlichen Aspekte, die diese beinhaltet. Frau Mißmahl bewertete zu diesem Zeitpunkt den Beruf Hebamme mehr als Berufung. Sie „könne nicht so arbeiten wie im Supermarkt und um vier Uhr Schluss machen.“[13] Schlechte Laune oder eine Erkältung seien auch kein Grund, um mal nicht zu arbeiten. Sie habe diese Pflicht (die Frauen zu betreuen), egal ob Rücken- oder Kopfschmerzen; Kinder werden geboren und nähmen darauf keine Rücksicht.[14] Diese Einstellung habe längst nicht jede Hebamme, dabei sei sie das Wichtigste, um den Frauen und jungen Familien hilfreich und vollständig zur Seite stehen zu können. Wichtig sind auch die „Hausbesuche“[15]. Die Hebamme bewegt sich also nicht nur in ihrem eigenen Umfeld, sondern auch in der Wohnung der Patientinnen. An diesem Punkt entsteht der direkte Kontakt, nicht nur mit der Frau, sondern auch mit ihrem Leben. Sie lernt die Familie sowie deren Situation kennen und kann sich ein sehr gutes Bild von dem sozialen Umfeld machen, in welches das Kind hineingeboren wird. Ein erster Eindruck von dem Einfluss, den die Hebamme auf die Familie ausüben kann, entsteht im folgenden Zitat:

„Ich denke mir, dass man als Hebamme sogar einen viel größeren Einfluss auf die Frau, die Familie erst mal hat, weil wir erst mal einen ganz anderen Zugang haben, durch die Hausbesuche. Dann natürlich wir in einer ganz sensiblen Phase des Schwanger-seins, des Gebärens und Eltern-Werdens die Frauen natürlich viel sensibler begleiten, als ein Arzt und natürlich einen viel sensibleren Einfluss auf die Frauen ausüben beziehungsweise nicht nur auf die Frau selbst, sondern auch auf den Mann und das Kind.“[16]

2.2.2 Die „Gesundheitserzieherin“

Die Beratung geht also in den meisten Fällen über die Schwangerschaft hinaus, betrifft beispielsweise Ernährung, Familienverhältnisse und auch Wohnverhältnisse. Schwangere Frauen seien in dieser Lebensphase „auch offen halt um ihren Lebenswandel zu ändern und ihren Lebensstil zu ändern und sich dem Gesunden und Guten zuzuwenden.“[17] Dieses „Gesunde und Gute“ ist es also, was die Hebamme mit ihrer Arbeit zu vermitteln versucht. In diesem Punkt gelangt sie auch wesentlich in Konflikt mit der Medizin, die laut Frau Mißmahl immer nur auf der Suche nach dem Krankhaften sei und nicht die gesunde Schwangere im Sinn habe:

„Heutzutage ist es auch so, dass manche Frauen sich beschweren, dass der Arzt sie sozusagen als Leibeigene behandelt und nicht will, dass sie mit anderen Ärzten oder der Hebamme spricht. Das Konkurrenzdenken ist da schon da.“[18]

Die Aufgabe der Hebamme sei es, den Frauen diese besondere Zeit ihres Lebens so normal wie möglich zu gestalten und so wenig wie möglich in diesen natürlichen Prozess einzugreifen. Viele Dinge könnten effektiver und schonender mit einer kleinen Änderung der Ernährung oder des Lebenswandels korrigiert werden, anstatt den Körper mit chemischen Medikamenten zu behandeln. Dieser Punkt ist besonders interessant für die Kulturanthropologie, denn hier zeigt sich das Bild welches die Gesellschaft immer noch von Schwangerschaft hat: die schwangere Frau gilt als krank und muss bestmöglich geschont und behandelt werden. Als gutes Beispiel nannte Frau Mißmahl in einem späteren Gespräch die Nahrungsergänzungsmittel, die Frauen nach und während der Schwangerschaft verschrieben und empfohlen bekommen. „Die gibt es oft auch im herkömmlichen Handel halt zu kaufen und daher kaufen die Frauen einfach irgendwas ohne sich durchzulesen, was drin ist.“[19] So erkannte Frau Mißmahl beispielsweise einen Zusammenhang zwischen häufig auftretender Schwangerschaftsdiabetes, und der hochdosierten Aufnahme von Nahrungsergänzungmitteln, die „ausdrücklich nur vom Arzt empfohlen werden und auch durch eine gesunde Ernährung halt ersetzt werden könnten.“[20] Eine Meinung, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelt hat. Der Fortschritt in der Medizin und die zunehmende Medikalisierung bezog schließlich auch die Geburt mit ein. Das Bild der „Krankheit Frau“ [21] hat sich in unserer Kultur bis heute erhalten, wie man an den Ausführungen von Frau Mißmahl erkennen kann:

„Ein Mediziner ist immer auf der Suche nach Krankhaftem und da stoßen wir (ähm) einfach zusammen. Das ist einerseits (ähm) dieses, diese starke Suche nach Komplikationen, nach Risiken, (ähm) von der Hebammenseite ist es genau das Gegenteil, wir versuchen alles wirklich möglichst als gesund als normal die Schwangerschaft anzusehen und natürlich darauf auch die Schwangere zu beeinflussen, dass sie halt einen gesunden Lebenswandel führt. Da kommen wir dann zum Beispiel auch in Konflikt halt auch mit bestimmten Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln, die von Ärzten oft sehr pauschal halt verschrieben werden (…).“[22]

[...]


[1] Ansprache Papst Pius XII. an die Mitglieder des Verbandes katholischer Hebammen Italiens am 29. Oktober 1951. In: Schriftenreihe der Aktion Leben e.V., Absteinach 2005.

[2] Schmidt-Lauber, Brigitta: Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens. In: Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Berlin/Hamburg 2001, S. 169-185.

[3] Scherzer, Ricarda: Hebammen. Weise Frauen oder Technikerinnen? Zum Wandel eines Berufsbildes. Frankfurt 1988, S. 90.

[4] Scherzer, Ricarda: Hebammen. Weise Frauen oder Technikerinnen? Zum Wandel eines Berufsbildes. Frankfurt 1988, S. 90.

[5] Metz-Becker, Marita (Hrsg.): Hebammenkunst gestern und heute. Zur Kultur des Gebärens durch drei Jahrhunderte. Marburg 1999, S. 23.

[6] Schnitzer, Anna: Zum Bedeutungswandel von Geburt und Mutterschaft. Betrachtungen eines sozialen Ereignisses. Halle-Wittenberg 2004, S.15.

[7] Scherzer, Ricarda: Hebammen. Weise Frauen oder Technikerinnen? Zum Wandel eines Berufsbildes. Frankfurt 1988, S. 108.

[8] Astrid Roth (Hrsg.): Therese Schlundt. Geschichten einer Kölner Hebamme. Köln 2003.

[9] Towler, Jean: Midwives in history and society. London, Croom Helm, 1986.

[10] hebammenforschung.de/ am 07.02.2010 um 14 Uhr.

[11] Interview (27.12.2010) S. Anhang, S. 1.

[12] Interview (27.12.2010) S. Anhang, S. 12.

[13] Ebd., S. 4.

[14] Ebd., S. 4.

[15] Ebd., S. 1.

[16] Interview (27.12.2010) S. Anhang, S. 2.

[17] Ebd., S. 3.

[18] Ebd., S. 3.

[19] Ebd., S. 13.

[20] Interview (27.12.2010) S. Anhang, S. 13.

[21] Metz-Becker, Marita (Hrsg.): Hebammenkunst gestern und heute. Zur Kultur des Gebärens durch drei Jahrhunderte. Marburg 1999.

[22] Interview (27.12.2010) S. Anhang, S.3.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Der Alltag einer freiberuflichen Hebamme
Untertitel
Die Hebamme als Indikator sozialen und kulturellen Wandels
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
30
Katalognummer
V198075
ISBN (eBook)
9783656248378
ISBN (Buch)
9783656248576
Dateigröße
631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
alltag, hebamme, indikator, wandels
Arbeit zitieren
Maren Mißmahl (Autor:in), 2011, Der Alltag einer freiberuflichen Hebamme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198075

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