Der Bauernbursche: „als Verbrecher selbst so schuldlos“? – Die Bauernburschenepisode im „Werther-Roman“


Hausarbeit, 2011

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Einleitung

Erst ist es Liebe und Leidenschaft. Dann Leiden und Eifersucht. Und schließlich muss ein Mensch sterben.

Die Rede ist hier nicht etwa vom tragischen Schicksal Werthers, dessen leidenschaftliche Liebe zu Lotte unerfüllt bleibt und welcher daran so sehr verzweifelt, dass er den einzigen Ausweg in der Tötung seiner selbst sieht.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit soll im Folgenden vielmehr ein unscheinbarer Knecht stehen, dessen Schicksal jedoch nicht minder tragisch als das Werthers ist und welches auf seine eigene Art zu faszinieren vermag.

Die Episode des Bauernburschen, welche Werther selbst mit aufrichtigem Interesse verfolgt, beginnt zunächst wie eine zarte Liebesgeschichte, um dann langsam und doch schier unaufhaltsam in einen Kriminalfall umzuschlagen[1]. Der Bauernbursche verliebt sich, erfährt jedoch statt Gegenliebe Zurückweisung und wird letztlich zum Mörder. Seine Schuld steht dabei eigentlich außer Frage. Und doch ist anhand des Herausgeberberichts Folgendes von den Gedanken Werthers zu diesem Mordfall zu lesen:

[...] unüberwindlich bemächtigte sich die Theilnehmung seiner und es ergriff ihn eine unsägliche Begierde den Menschen zu retten. Er fühlte ihn so unglücklich, er fand ihn als Verbrecher selbst so schuldlos, er setzte sich so tief in seine Lage, daß er gewiß glaubte auch andere davon zu überzeugen.[2]

Diese Bewusstseinshaltung Werthers, mit der er den Bauernburschen - einen Mörder - als unschuldig betrachtet, erscheint zunächst kontraintuitiv und widerspricht dem allgemeinen Moralverständnis. Fragen ergeben sich, auf die Antworten gefunden werden wollen:

Worin liegt diese ungewöhnliche Einstellung Werthers dem Knecht gegenüber begründet? Warum also empfindet er ihn als schuldlos? Und weshalb nimmt er an dem Schicksal dieses unscheinbaren Menschen überhaupt solch starken Anteil? So stark, dass Werther letztendlich sein eigenes Schicksal an das des Bauernburschen knüpft und seine eigene Leidenschaft ein ebenso großes Ausmaß an Gewalt annimmt? Weswegen erscheint den beiden unglücklich Verliebten überhaupt Gewalt als einzig möglicher Ausweg?

Um diese Fragen zu beantworten, werde ich eine nähere Analyse des besonderen Verhältnisses zwischen Werther und dem Knecht vornehmen, in welcher auch geklärt werden soll, worauf jene unheilvolle Schicksalsverknüpfung beruht.

Auf diese Weise gilt es herauszufinden, ob die intuitive Verurteilung der Tat des Bauernburschen gerechtfertigt ist, oder ob Werther doch dazu fähig ist, wenn nicht die Gesellschaft, so doch vielleicht den Leser von der Unschuld des Knechts zu überzeugen.

Der Bauernbursche: „als Verbrecher selbst so schuldlos"? - Die Bauernburschenepisode im „Werther-Roman"

Ich habe heut eine Scene gehabt, die, rein abgeschrieben die schönste Idylle von der Welt gäbe [...] Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß bey der Erinnerung [...] mir die innerste Seele glüht [...] und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte.[3]

An diesen Worten, mit denen Werther von der ersten Begegnung mit dem Bauernburschen berichtet, wird deutlich, wie angetan und begeistert er von diesem einfachen Menschen ist. Zunächst lamentierend, es gar nicht mit Worten ausdrücken zu können, beschreibt Werther dann aber dennoch, warum genau denn dieser unscheinbare Knecht ihn „[...] zu dieser lebhaften Theilnehmung hingerissen hat"[4]: Es ist dessen leidenschaftliche Liebe für eine Witwe, in deren Diensten er steht, und diese Liebe ist geprägt von „dringende[r] Begierde" und „heiße[m] sehnliche[n] Verlangen"[5], zugleich aber auch von „Zartheit", „Unschuld" und „Reinheit"[6]. Eine durch und durch sinnliche Art der Zuneigung, die dabei jedoch äußerst rein ist, wie Werther immer wieder betont,[7] - Mit eben diesem Doppelcharakter gelingt es dem Bauernburschen unbewusst, Werther zu faszinieren und für sich einzunehmen.

Die Bauernburschenepisode ist durchgängig in einem von Triebhaftigkeit und instinkthafter Körperlichkeit bestimmten Ton gehalten. Besonders die ausgesprochen sinnliche Färbung der Liebe hebt sich von den sonst eher züchtigen, wenn auch nicht weniger leidenschaftlichen Darstellungen von Verliebtheit des übrigen Romans ab.[8] Wenn Werther etwa schwärmt:

„Wie reizend es war, wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem Körper sprach, der ihn ohne jugendliche Reize gewaltsam an sich zog und fesselte [...]"[9],

so wird daran auch deutlich, wie sehr Werthers eigene Zuneigung für Lotte doch eher „[...] auf das Platonische beschränkt"[10] bleibt: Auf fromme Handküsse oder ähnliche kleine Vertraulichkeiten. Er behauptet sogar: „ Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart."[11] Es ist eine mehr vergeistigte Art der Liebe. Werther kann die eigene Körperlichkeit und sein sinnliches Verlangen, bedingt durch gesellschaftlich-sittliche Anschauungen und dadurch entstehende Hemmungen, nicht ausleben.[12] Also verschiebt er seine leidenschaftliche Verliebtheit teilweise in den Bereich des Geistes und versucht, sie dort zur reinen, zur heiligen Liebe umzuwandeln, was sich auch in der „[...] Stilisierung Lottes zur Heiligen"[13] fortsetzt - in seiner Darstellung ihrer als ein vollkommenes, engelsgleiches Wesen. Sinnliche Gefühle einem solch heiligen Wesen gegenüber müssen aber zwangsläufig den Charakter des Sündhaften annehmen. Auch wenn er oft begehrt, Lotte körperlich näher zu kommen, so wagt er es doch nicht. Aufgrund seines ständigen inneren Hin- und Hergerissenseins zwischen Sinnlichkeit und Sünde quälen ihn selbst kleinste Berührungen. Nur in den unterbewussten Räumen des Traumes tritt Werthers sinnliche Begierde deutlicher und freier hervor. Im Zustand des Bewusstseins jedoch klagt er:

Weiß der große Gott, wie einem das thut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit [,..][14]

Dem Bauernburschen hingegen liegen solche Gedanken der Sündhaftigkeit des körperlichen Begehrens völlig fern. Gesellschaftlich-sittlichen Denkweisen und den damit verbundenen Schranken und Grenzen scheint er nicht unterworfen zu sein.

[...]


[1] Košenina, Alexander: Es „ist also keine dichterische Erfindung": die Geschichte vom Bauernburschen in Goethes „Werther" und die Kriminalliteratur der Aufklärung. In: Goethe-Jahrbuch. Hrsg. von Werner Frick, Jochen Golz, Albert Meier und Edith Zehm. 124. Band der Gesamtfolge. Göttingen: Wallstein Verlag 2007. S. 191.

[2] Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. Hrsg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2006. Band 11. S. 205.

[3]Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 33-37.

[4]Ebd. S. 33.

[5]Ebd. S. 35.

[6]Ebd. S. 35.

[7] Vgl. Gerhard, Melitta: Die Bauerburschenepisode im „Werther". In: Goethes „Werther" . Kritik und Forschung. Hrsg. von Hans Peter Herrmann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994 (= Wege der Forschung, 607). S. 34.

[8] Vgl. ebd. S. 33-34.

[9]Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 35.

[10] Könecke, Rainer: Stundenblätter Goethes „Die Leiden des jungen Werther" und die Literatur des Sturm und Drang. Hrsg. von Jürgen Wolff. 2. Auflage. Stuttgart: Klett 1991 (= Stundenblätter Deutsch). S. 133.

[11] Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 79.

[12] Vgl. Gerhard, M.: Die Bauerburschenepisode im „Werther". S. 35.

[13] Könecke, R.: Stundenblätter. S. 133.

[14] Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 177.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der Bauernbursche: „als Verbrecher selbst so schuldlos“? – Die Bauernburschenepisode im „Werther-Roman“
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Germanistik)
Veranstaltung
"Werther" und "Werther"-Rezeption
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
16
Katalognummer
V198110
ISBN (eBook)
9783656241287
ISBN (Buch)
9783656242475
Dateigröße
767 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bauernbursche, verbrecher, bauernburschenepisode, werther-roman
Arbeit zitieren
Kristin Zabel (Autor:in), 2011, Der Bauernbursche: „als Verbrecher selbst so schuldlos“? – Die Bauernburschenepisode im „Werther-Roman“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198110

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