Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung.
2. Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm als Spiegel des bürgerlichen Frauenbildes
3. Die Frauenarbeit in ausgewählten Kinder- und Hausmärchen
3.1. Die Arten der Frauenarbeit in den Kinder- und Hausmärchen
3.2. Das Idealbild der fleißigen (Haus-)Frau
3.3. Das abschreckende Beispiel fauler Frauen
3.4. Die Funktionen der Frauenarbeit in den Kinder- und Hausmärchen und der sozialen Wirklichkeit des 19 Jahrhunderts
4. Schluss.
5. Literaturverzeichnis.
1. Einleitung
Viele Menschen sind mit Märchen aufgewachsen. Besonders die im deutschsprachigen Raum bekannteste Märchensammlung der Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm erfreut sich seit ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1812 äußerster Beliebtheit. Ihr Erfolg ist bis heute ungebrochen. Dazu äußerte sich Grimm-Experte Heinz Rölleke folgendermaßen:
[...] seither [ist] fast jeder deutschsprachig aufgewachsene Mensch diesen Grimmschen Texten begegnet, hat im frühesten Kindesalter seine Sprachfähigkeit daran geschult und ein erstes Literaturverständnis entwickelt, hat sein Unterbewußtsein mit archaisch anmutenden Figuren, Motiven und Handlungsabläufen angefüllt. Allein aus diesem Grund kann man das Phänomen gar nicht ernst und wichtig genug nehmen [...]1
Die Grimmschen Märchen waren und sind für viele Menschen prägend. Der Einfluss, den so tugendhafte Märchencharaktere wie das fleißige Aschenputtel oder die tüchtige Goldmarie auf die Werte- und auch Arbeitsmoralvorstellungen ihrer Leser und Leserinnen haben dürften, sollte nicht unterschätzt werden. Und wer hat nicht manchmal in Zeiten des „Faulenzens“ ein schlechtes Gewissen, denkt er an die arbeitsscheue Pechmarie, deren Trägheit mit einem Regen aus Pech bestraft wird?
Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein, dass bisher nur weibliche Märchenheldinnen erwähnt wurden - denn genau diese sind es, die in der vorliegenden Arbeit die Hauptrolle spielen werden. Es sind die weiblichen Märchenfiguren, deren Arbeit und deren Müßiggang im Folgenden genauer untersucht werden sollen. Hierbei sind für mich folgende Fragestellungen relevant: Welche Arten der Frauenarbeit treten in den Grimmschen Märchen auf und welchen Zweck erfüllen sie? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Arbeit für die Märchenmoral und das vermittelte Frauenbild?
Gleichzeitig möchte ich versuchen, einen Zeitbezug herzustellen und von den Grimmschen Märchen ausgehend auch in soziologischer Hinsicht Aussagen über das Frauenbild des Bürgertums in Bezug auf Arbeit und Müßiggang im 19. Jahrhundert zu treffen.2 Welche Aufschlüsse geben uns die Märchen über die Wertvorstellungen ihrer Zeit?
Um diese Fragen zu klären, werde ich zunächst erläutern, inwiefern die Kinder- und Hausmärchen trotz ihrer Jahrhunderte alten Wurzeln die gesellschaftlichen Werte ihrer Zeit spiegeln. Daran anschließend werde ich im Hauptteil direkt an ausgewählten Märchen untersuchen, welche Frauenarbeiten dort auftreten, welche Rolle in diesem Zusammenhang Fleiß und Faulheit spielen und welche Funktionen die Arbeiten erfüllen. Auf diesem Wissen aufbauend sollen dann Bezüge zu dem bürgerlichen Verständnis von Frauenarbeit hergestellt werden.
2. Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm als Spiegel des bürgerlichen Frauenbildes
Was die Weise betrifft, in der wir gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen3
Mit der Sammlung der Märchen und Sagen, die in der ersten Auflage im Jahre 1812 unter dem Namen Kinder- und Hausmärchen erschien, haben die Brüder Grimm versucht, die mündlich überlieferte Poesie des Volkes in möglichst reiner und treuer Form wiederzugeben.4 Die jeweiligen Märchenstoffe sind teilweise seit mehreren Jahrhunderten von dem Volk tradiert und damit zu fast zeitlosen Gebilden geworden. Gleichzeitig aber möchte ich nun in dieser Arbeit versuchen, die Grimmschen Märchen auf ihre Zeit und die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu beziehen. Wie aber soll dies bei einer scheinbaren Überzeitlichkeit der Märchen funktionieren?
Ich gehe wie Nicole Lehnert davon aus, dass auch die Grimmschen Märchen ein „gesellschaftliches Produkt ihrer Zeit“5 sind und verschiedene Filterprozesse dazu beigetragen haben, dass bürgerliche Werte und Normen in die Sammlung einfließen konnten.6 Dafür spricht zum einen schon der große Erfolg, den die Kinder- und Hausmärchen in bürgerlichen Kreisen genossen und der höchstwahrscheinlich durch die „Übereinstimmung der im Märchen ausgedrückten Inhalte mit den Vorstellungen des aufstrebenden Bürgertums“7 zustande kam.8 Aus diesen Gründen fand die Sammlung dort auch als Erziehungsbuch für Kinder, vor allem für die Mädchen, großen Anklang.9 Zum anderen können die Eingriffe und Veränderungen, die vor allem Wilhelm Grimm an den Märchen der Sammlung von Auflage zu Auflage vornahm, als Anpassungen an die zeitgenössischen Wertvorstellungen betrachtet werden.10 Es lässt sich hierbei von einer „Verbürgerlichung“ und Pädagogisierung der Märchen sprechen.11 Ingrid Spörk konstatiert sogar eine „Änderung der Märchenmoral zugunsten der bürgerlichen rbeits- und Gehorsamsvorstellungen“ besonders bei Märchen wie Frau Holle und Aschenputtel - jenen Märchen also, mit denen ich mich im Verlauf dieser Arbeit auch beschäftigen werde.12
Wir dürfen also davon ausgehen, dass sich in den Kinder- und Hausmärchen trotz ihrer scheinbaren Überzeitlichkeit sehr wohl bürgerliche Idealvorstellungen auch über die Frauenarbeit finden lassen. Hierfür liefert Nicole Lehnert noch mehr Argumente: Die Informanten der Brüder Grimm, bei denen es sich vor allem um junge Frauen handelte, stammten zum Großteil aus bürgerlichen Schichten.13 Desweiteren dürfte sich auch die bürgerliche Erziehung der Grimms selbst und deren Aufwachsen in einer patriarchalischen Tradition in der Auswahl und Bearbeitung der Märchen niedergeschlagen haben.14
Welches Frauenbild in Bezug auf Arbeit und Müßiggang die Grimmschen Märchen propagieren und inwiefern dies Aufschlüsse über das bürgerliche Frauenideal zulässt, soll nun im Folgenden genauer analysiert werden.
3. Die Frauenarbeit in ausgewählten Kinder - und Hausmärchen
Die vollständige Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen umfasst 243 Texte.15 Neben den bekannten Zaubermärchen finden sich darin auch Sagen, Schwänke und Legenden sowie eine Vielzahl von Texten, die innerhalb der verschiedenen Auflagen entfernt wurden oder neu dazugekommen sind. Um aus dieser Fülle eine für unsere Analyse der Frauenarbeit sinnvolle Auswahl zu treffen, habe ich für die Märchen folgende Kriterien festgelegt: Zur besseren Vergleichbarkeit habe ich mich auf die Zauber- bzw. Feenmärchen beschränkt. Desweiteren sollte eine weibliche Figur als Heldin auftreten, die eine Arbeit verrichtet oder aber Müßiggang betreibt. Mithilfe dieser Bedingungen erwiesen sich die Märchen Aschenputtel (KHM 21), Frau Holle (KHM 24), Sneewittchen (KHM 53), Schneeweisschen und Rosenrot (KHM 161) sowie das weniger bekannte Spindel, Weberschiffchen und Nadel (KHM 188) als besonders geeignet. Trotz schwankhafter Züge habe ich auch die Märchen König Drosselbart (KHM 52) und Die Schlickerlinge (KHM 156) in meine Analyse einbezogen,16 da hier die Frauenarbeit besonders detailliert beschrieben wird beziehungsweise ihr eine besondere Bedeutung zukommt.
3.1. Die Arten der Frauenarbeit in den Kinder- und Hausmärchen
Bei der Betrachtung und dem Vergleich der oben genannten Märchen fällt unmittelbar auf, dass jegliche Frauenarbeit auf den Bereich des Häuslichen beschränkt ist und aus hauswirtschaftlichen Tätigkeiten besteht. Fast keine der Frauen begibt sich für ihre Arbeit aus einem häuslichen Umfeld heraus, um etwa wie männliche Märchenhelden einen Beruf auszuüben, in der Ferne als Geselle in die Lehre zu gehen, oder gar Abenteuer zu bestehen. Umgekehrt lässt sich auch kaum eine männliche Märchenfigur finden, die Hausarbeiten verrichtet. Hauswirtschaftliche Tätigkeiten, darunter besonders die Textilkunst, sind im Märchen ausschließlich Sache der Frauen.17 Es zeigt sich, wie auch Nicole Lehnert festgestellt hat, dass die Arbeit entlang der Geschlechtergrenzen aufgeteilt wird - ein Phänomen, welches sich auch in der sozialen Wirklichkeit wiederfindet.18 Tatsächlich gab es eine solche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern bereits seit der Steinzeit.19 Schon hier war vor allem die Textilkunst wie das Spinnen ein typisch weibliches Betätigungsfeld.20 Dazu bemerkten die Brüder Grimm in einer Anmerkung zu Die Schlickerlinge: „Das Spinnen ist die eigentliche Arbeit der Hausfrau nach alten Sitten, ihr Leben und Weben.“21 Im 19. Jahrhundert wurde versucht, diese Arbeitsteilung auf natürliche und angeborene Wesenseigenschaften bzw. Geschlechtscharaktere zurückzuführen.22 Dabei wurden Männern Eigenschaften wie Aktivität und Stärke zugeordnet, die sie angeblich für eine Tätigkeit in der Außenwelt, also in der Öffentlichkeit, qualifizierten.23
[...]
1 zit. nach Lehnert, Nicole: Brave Prinzessin oder freie Hexe? Zum bürgerlichen Frauenbild in den Grimmschen Märchen. Münster: Selbstverlag 1996. S. 3.
2 Vgl. Lehnert, N.: Brave Prinzessin oder freie Hexe? S. 3.
3 Grimms Märchen. Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2007. S. 18.
4 Vgl. Choi, Moon Sun: Märchen als Mädchenliteratur: Mädchenbilder in literarischen Märchen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Lang 2007. S. 163.
5 Lehnert, N.: Brave Prinzessin oder freie Hexe? S. 3.
6 Vgl. ebd.
7 Spörk, Ingrid: Studien zu ausgewählten Märchen der Brüder Grimm: Frauenproblematik - Struktur -
Rollentheorie - Psychoanalyse - Überlieferung - Rezeption. 2. Auflage. Königstein/ Ts.: Verlag Anton Hain 1986 (= Hochschulschriften Literaturwissenschaft; 66). S. 50-51.
8 Vgl. ebd.
9 Vgl. [Art.] Frauenmärchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 5. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich und Hermann Bausinger. Berlin: de Gruyter 1987. S. 213, 216.
10 Vgl. Choi, M. S.: Märchen als Mädchenliteratur. S. 163.
11 Vgl. Spörk, I.: Studien zu ausgewählten Märchen der Brüder Grimm. S. 51.
12 Vgl. ebd.
13 Vgl. Lehnert, N.: Brave Prinzessin oder freie Hexe? S. 7.
14 Vgl. ebd. S. 21-22.
15 Grimms Märchen. S. 1286-1293.
16 Vgl. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung - Wirkung - Interpretation. Berlin: de Gruyter 2008. S. 124, 326.
17 Vgl. Lehnert, N.: Brave Prinzessin oder freie Hexe? S. 32.
18 Vgl. ebd. S. 55.
19 Vgl. Duden, Barbara und Karin Hausen: Gesellschaftliche Arbeit - geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. In: Frauen in der Geschichte I. Frauenrechte und die gesellschaftliche Arbeit der Frauen im Wandel. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Studien zur Geschichte der Frauen. Hgg. von Annette Kuhn und Gerhard Schneider. 3. Auflage. Düsseldorf: Schwann 1984 (= Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien; Band 6). S. 14.
20 Vgl. ebd. und Volkmann, Helga: Fäden spinnen, Schicksal weben. Spinnen und Weben in Märchen und Mythen. In: Homo faber - Handwerkskünste in Märchen und Sagen. Verlorene Paradiese - gewonnene Königreiche. Forschungsbeträge aus der Welt der Märchen. Hgg. von Harlinda Lox, Helga Volkmann und Thomas Bücksteeg. Krummwitsch: Königsfurt 2005. S. 33.
21 Grimms Märchen. S. 1100.
22 Vgl. Maas, Barbara: Idealisierung und Domestikation: Das bürgerliche Frauenbild in der frühviktorianischen Publizistik. In: Frauen in der Geschichte III. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Beiträge zur Geschichte der Weiblichkeit vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. von Annette Kuhn und Jörn Rüsen. Düsseldorf: Schwann 1983 (= Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien; Band 13). S. 141.
23 Vgl. Trocka, Ingrid: Der entbehrliche Luxus. Höhere Schule und Berufsausbildung für Mädchen im 19. Jahrhundert. In: Beruf der Jungfrau. Henriette Davidis und Bürgerliches Frauenverständnis im 19. Jahrhundert. Hsrg. Von Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund. Oberhausen: Graphium Press 1988. S. 29.