Stigmatisierung und sprachliche Gewalt in Goethes "Faust I"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Stigma, Identität und Ehre

3. Stigmatisierung und sprachliche Gewalt

4. Stigmatisierung und gesellschaftliche Außenseiter

5. Die Stigmatisierung Gretchens in Goethes „Faust I“
5.1 Prostituierte und Huren in der frühneuzeitlichen Gesellschaft
5.2 Soziale Kontrolle durch Sprache
5.3 Gretchens Stigmatisierung als Hure
5.4 Folgen der Stigmatisierung

6 Fazit

7 Literatur

1. Einleitung

Stigma oder Stigmatisierung sind weitgefasste Phänomene in unserer Gesellschaft, denen wir fast täglich begegnen. Ursprünglich bezeichnete der Begriff ‚Stigma‘ ein rein physisches Merkmale in Form einer körperlichen Andersartigkeit oder Beschädigung. Zur heutigen Definition von Stigmatisierung ist ein Zitat aus Goffmans gleichnamiger Studie besonders gut geeignet: "Stigma - die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist."[1] Daraus wird ersichtlich, dass gesellschaftliche Stigmatisierung ein sozialer Prozess ist, der weitgehend fremdbestimmt ist. Dieser soziale Prozess, das menschliche Zusammenleben allgemein, wird seit jeher durch das System der Sprache geregelt, welches geschriebene und ungeschriebene Normen vorgibt. Es ermöglicht uns, Individuen die darin handeln, als „normal“ bzw. „unnormal“ einzustufen. Durch die Sprache können wir „die Anderen“, d.h. die Normabweichler von „uns“, den Normkonformen unterscheiden. Da dieses Ordnungssystem Sprache - genau wie alle anderen Ordnungssysteme - stark von zeitlichen und sozialen Rahmenbedingungen geprägt ist, liegt es auf der Hand, dass all diese Kategorisierungen äußerst anfällig für Willkür und Subjektivität sind. Trotzdem geschieht es immer wieder, dass ein Großteil von Individuen einer Gesellschaft oder einer Gruppe dazu tendiert, normkonformes und normabweichendes Verhalten gleich oder ähnlich zu definieren und Abweichler in „ein und dieselbe Schublade zu stecken“ – die der Stereotypen. Wir neigen dazu, jedes Individuum, dem wir begegnen, so einem bestimmten Stereotyp zuzuordnen. Stellt sich nachträglich heraus, dass der Eingeordnete seiner zugedachten Rolle nicht voll entspricht und ihm ein Makel (Stigma) anhaftet, wird er stigmatisiert, d.h. spontan mit einer vorerst gedanklichen Ablehnung versehen. Wird diese Ablehnung sprachlich artikuliert, kann sie zu einer Imageschädigung der betroffenen Person führen und deren Leben grundlegend verändern. Diese Person wird von der gesellschaftlichen Mehrheit ausgegrenzt und wegen ihres Stigmas diskriminiert, was den Tod ihrer gesellschaftlichen Existenz bewirken kann. Die Betroffenen werden öffentlich gedemütigt und haben nur selten eine Chance in ihr normales Leben zurück zu gelangen. Als Außenseiter sind sie dazu verdammt am Abgrund der Gesellschaft zu leben, was in vielen Fällen dazu führt, dass sie die ihnen zugesprochene Identität irgendwann akzeptieren und dementsprechend handeln. All diese Prozesse werden durch die Stigmatisierung, d.h. durch sprachliche Gewalt in Gang gesetzt. In und durch Sprache bestimmen wir, wer dazugehört und wer nicht. Die Sprache bestimmt, wie unsere Realität aussieht. Sie ermöglicht es uns, Außenseiter zu schaffen, indem wir solchen Individuen negative Eigenschaften „zusprechen“, ihnen die Ehre und Menschenwürde „absprechen“, und ihnen eine minderwertige Identität „zuschreiben“. Allein das Vokabular dieser Etikettierungen verweist schon auf den schöpferischen Charakter, die Handlungsmacht der Sprache. Wie all diese Prozesse sprachlicher Gewalt von statten gehen, d.h. wie durch die Handlungsmacht der Sprache Außenseiter geschaffen werden, soll im folgenden Teil zunächst allgemein, dann am Beispiel der Stigmatisierung Gretchens in Goethes „Faust I“ näher erläutert werden. Dieses Bürgermädchen wird von ihrer Gesellschaft als Hure etikettiert, verurteilt und ausgestoßen, weshalb auch diese spezielle Kategorisierung der Frauen vor ihrem linguistisch-soziologischen Hintergrund untersucht werden soll.

2. Stigma, Identität und Ehre

Um die Bedeutung des Begriffs ‚Stigma‘ besser verstehen zu können, soll zunächst einmal erläutert werden, woher das Wort stammt und was ursprünglich damit bezeichnet wurde. Die Wurzeln des Begriffs reichen zurück bis in die soziale Welt der Antike, in der die Griechen mit ‚Stigma‘ „auf körperliche Zei­chen [verwiesen], die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wur­den in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, daß der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war – eine gebrandmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte […].“[2] Schon damals diente das Stigma dazu, die „guten“ von den „schlechten“ Menschen zu unterscheiden. Das zutiefst diskriminierende, für jedermann sichtbare Brand- oder Schandmal gewährleistete die Identifizierung des minderwertigen Individuums, welches fortan von der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Die Exklusion von Menschen oder Gruppen, die sich durch ein bestimmtes „physisches, psychisches oder soziales Merkmal“ von der Mehrheit „negativ“[3] unterscheiden, gehört auch heute noch zu den wesentlichen Aspekten der Stigmatisierung. Der Terminus wird jedoch, so Goffman, heute „eher auf die Unehre selbst als auf deren körperliche Erscheinungsweise angewandt.“[4] Die Ehre einer Person, d.h. ihr Ansehen, ist ein fester Bestandteil ihrer sozialen Identität, die von der Gesellschaft antizipiert wird. Dieses Image eines Menschen macht ihn „zum Gegenstand von Achtung, Selbstachtung und Rücksichtnahme […], die in Alltagsritualen zum Ausdruck kommen.“[5] Image (oder Face) konstituiert sich demnach in der verbalen Interaktion, in der es immer wieder neu verhandelt werden kann. In solchen Kommmunikationssituationen liegt das Interesse aller Gesprächsteilnehmer normalerweise darin, das jeweilige Selbstbild aufrecht zu erhalten. Werden diese Erwartungen jedoch nicht erfüllt, kann das Image einer Person auch verletzt werden, z.B. durch Beleidigungen. Solche Imageschädigungen sind eindeutige Akte verbaler Gewalt, d.h. sie sind eine Sprechhandlung, die „eine am Gespräch teilnehmende Person in deren […] konversationellen Spielraum […] einschränkt und in ihrer sprachlichen >Funktionsfähigkeit< schädigt, einschränkt oder gefährdet.“[6] Ehre lässt sich demzufolge als „im mitmenschlichen Zusammenleben durch Worte und Handlungen bekundete Achtung gegenüber einer Person definieren.“[7] Strasser und Brömme benutzen den sinnverwandten Begriff ‚Prestige‘ in diesem Zusammenhang, den sie klar von dem des Stigmas abgrenzen. Prestige bezieht sich bei ihnen auf die soziale Wertschätzung eines oder mehrerer Individuen, die ihm/ ihnen „aufgrund von positiv bewerteten Eigenschaften, wie berufliche Position oder Clubmitgliedschaft, entgegengebracht wird.“[8] Mit Stigma hingegen bezeichnen sie die Geringschätzung einer Person, die ihr durch negative Bewertung eines oder mehrerer diskreditierender Merkmale zugeschrieben wird. Trotz der Gegensätzlichkeit des Begriffspaares - ‚Prestige‘ und ‚Stigma‘ - haben sie jedoch gemeinsam, dass die Bewertung der Person in beiden Fällen eine Folge von Fremdeinschätzungen ist, und nicht von persönlichen Merkmalen. Deshalb ist es wichtig, personale und soziale Identität voneinander zu unterscheiden. Personale oder persönliche Identität bezeichnet die „individuelle Einzigartigkeit“ die sich „aus der einmaligen Kombination vieler Einzelmerkmale“[9] ergibt, während soziale Identität „die Zuordnung einer Person zu einer Klasse von Menschen [bedeutet], denen gegenüber, definiert durch die jeweiligen Merkmale, relativ homogene Vorstellungen und Erwartungen bestehen.“[10] Letztere wird also gesellschaftlich antizipiert, indem einem Individuum bestimmte Eigenschaften und Attribute zugeschrieben werden, von denen angenommen wird, dass sie auf diesen Menschen zutreffen. Goffman bezeichnet diese oberflächliche Zuschreibung bestimmter Charaktereigenschaften als „virtuale soziale Identität“ und unterscheidet sie von der „aktualen sozialen Identität“[11], d.h. von den Attributen, deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden kann. Doch was geschieht, wenn virtuale und aktuale soziale Identität voneinander abweichen, d.h., wenn ein Mensch eine diskreditierende Eigenschaft besitzt, die ihn von anderen „normalen“ Menschen seiner Personenkategorie unterscheidet? Dieses Stigma kann dazu führen, dass ein „Individuum, das leicht in gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden können“[12], aufgrund dieser unerwünschten Andersartig von seinen Mitmenschen gemieden und diskriminiert wird. Es wird von seiner Umwelt ausgegrenzt.

[...]


[1] Goffman 1979, S. 7.

[2] Goffmann 1970, S. 9

[3] Kröner 1982, S. 734.

[4] Goffman 1970, S.9

[5] Meier 2007, S. 12.

[6] Ebd., S. 13.

[7] Ebd., S. 23.

[8] Strasser, Brömme 2004, S. 412.

[9] Frey 1983, S. 45.

[10] Ebd., S. 45.

[11] Goffman 1970, S. 10.

[12] Ebd., S. 13.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Stigmatisierung und sprachliche Gewalt in Goethes "Faust I"
Hochschule
Universität Trier
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
22
Katalognummer
V198339
ISBN (eBook)
9783656247593
ISBN (Buch)
9783656248491
Dateigröße
508 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
stigmatisierung, gewalt, goethes, faust
Arbeit zitieren
Anja Schäfer (Autor:in), 2010, Stigmatisierung und sprachliche Gewalt in Goethes "Faust I", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198339

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