Aus dem Denken über das Andere wächst das Bewusstsein des Eigenen, das Fremde erst rückt auch das Bekannte ins Licht, nur im Erlebnis der Gegensätze erwacht der Mensch zu sich selbst, findet er Heimat. Wo verlaufen die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Befremdlichen? Kann hier die Trennung von Innerem und Äußerem Aufschluss geben und wo findet sich dann das Außen, wo das Innen? In aller Regel folgt die Zuordnung dem Denkmuster der „inneren Heimat“ im Gegensatz zur „äußeren Fremde“ – jede Überkreuzung der Begriffe hätte ernste Folgen für das innere oder äußere Befinden, stellte sich doch die „innere Fremde“ als Fragwürdigkeit des Subjekts, die „äußere Heimat“ aber als Mangel einer wirklichen Zugehörigkeit dar. Auch die örtliche Differenzierung bleibt begrifflich aufeinander angewiesen, es lässt sich kein Außen ohne ein Inneres denken und vice versa. Das „Eigene“ und das „Innere“ bleibt daher ein intuitiv miteinander assoziiertes Wortpaar, ohne dass sich die Begriffe notwendig gegenseitig bedingen. Es entspringt wohl der tief empfundenen und lang tradierten Erfahrung des Menschen, die Angst und das Befremdliche mit dem Äußeren, dem von außen Hereinbrechenden, zu identifizieren, sich gegen alle vermeintlichen Feinde ein sicheres Innen aufzubauen und zu bewahren. Diese „Behausung“ spendet seinen Bewohnern neben der Sicherheit nicht selten auch Licht und Wärme, entsprechend werden dem Unbekannten und Fremden die Helligkeit ab- und die Kälte zugesprochen. Die Stilisierung des Feindes erschöpft sich nicht in den genannten Zuschreibungen, doch soll hier die Feststellung genügen, dass die abstrakte Trennung der Sphären in überaus praktischer Weise Folgen trägt. Dabei soll auch bemerkt werden, dass der Feind wohl das Andere verkörpert, das Andere aber nicht notwendigerweise einen Feind. Ein Blick auf die Geschichte sakraler Architektur zeigt, wie sich im Laufe der Zeit das „Innere“ mit der Idee des Heiligen verbunden hat. Der jüdische Tempel ist ein besonders herausragendes Beispiel für die stufenweise Hinführung von profanem Außen in das heilige und allerheiligste Innere, eine Gliederung, die in vielen anderen Religionen ihre Entsprechung findet.
Inhaltsverzeichnis
- Das Eigene und das Andere – ein begrifflicher Exkurs
- Denken durch die Differenz
- Jehuda Halevi: Das Andere und das Eigene – eine Rechtfertigung?
- Bedingungen des Gesprächs
- Die Entfremdung im Innern des Hauses
- Der Blick aus den Fenstern: Eine Anatomie des Fremden
- Die Aneignung des Eigenen
- Franz Rosenzweig: auf der Suche nach der Mitte
- Die Sprache als Fundament des Eigenen
- Übersetzung als Gefährdung der Tradition
- Zur Aktualität mündlicher Überlieferung
- Dialog und Erzählung
- Jenseits der Geschichte: Eine Absage an den kranken Menschenverstand?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit dem Konzept des „Anderen“ als Kategorie der Selbstbestimmung im Denken von Jehuda Halevi und Franz Rosenzweig. Sie untersucht, wie die Auseinandersetzung mit dem Fremden das eigene Selbstverständnis prägt und zu einer neuen Sicht auf die eigene Identität führt.
- Die Bedeutung des Anderen für die Selbstfindung
- Die Rolle der Sprache und Übersetzung in der Begegnung mit dem Fremden
- Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremden
- Die Herausforderungen und Möglichkeiten des Dialogs mit dem Anderen
- Die Bedeutung der Geschichte und Tradition für das Verständnis des Anderen
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 1 beleuchtet den Begriff des Anderen und seine Bedeutung für die Konstruktion des Eigenen. Es wird argumentiert, dass die Begegnung mit dem Fremden ein Bewusstsein für das Eigene schafft und die Grenzen zwischen beiden Kategorien verwischen kann.
Kapitel 2 diskutiert das „Denken durch die Differenz“ und die Bedeutung des Anderen für den Dialog und das Verständnis. Es wird betont, dass das Andere als Spiegelbild dient und uns zu einer neuen Sichtweise auf das eigene Selbst führt.
Kapitel 3 analysiert Jehuda Halevis Sicht auf das Andere und die Rechtfertigung des Judentums. Es werden die Bedingungen des Gesprächs mit dem Anderen, die Entfremdung innerhalb der eigenen Gemeinschaft und die Aneignung des Eigenen beleuchtet.
Kapitel 4 untersucht Franz Rosenzweigs Philosophie und seine Suche nach der Mitte. Es werden die Rolle der Sprache als Fundament des Eigenen, die Herausforderungen der Übersetzung und die Bedeutung des Dialogs und der Erzählung in der Begegnung mit dem Anderen erörtert.
Schlüsselwörter
Die wichtigsten Schlüsselwörter in dieser Arbeit sind: das Andere, Selbstbestimmung, Fremdheit, Identität, Dialog, Sprache, Übersetzung, Tradition, Geschichte, Jehuda Halevi, Franz Rosenzweig.
- Citation du texte
- Thorsten Beck (Auteur), 2002, Das ‚Andere’ als Kategorie der Selbstbestimmung im Denken Jehuda Halevis und Franz Rosenzweigs, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198375