Propaganda und Original

Instrumentalisierung des ,,Schimmelreiters" im Dritten Reich


Hausarbeit, 2011

15 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Der Schimmelreiter: Rezeptionsgeschichte und Ausblick

2 Stofftradition im Dritten Reich
2.1 Novellenanalyse im Nationalsozialismus
2.2 Verfilmung nach Curt Oertel

3 Deformierung der Aussage

4 Propaganda auf Kosten des Originals

5 Literaturverzeichnis

1 Der Schimmelreiter: Rezeptionsgeschichte und Ausblick

Nur wenige Monate vor seinem Tod vollendet Theodor Storm im Februar 1888 mit dem ,,Schimmelreiter“ sein letztes Werk. Während die Novelle zu Lebzeiten und kurz nach dem Ableben des husumer Schriftstellers durch die breite Masse der zeitgenössischen Leserschaft wenig Beachtung erfahren hat, avanciert sie in dem Lauf der Geschichte zu seiner bekanntesten Arbeit. Auffällig dabei ist die kontinuierliche Präsens des Stoffes von dem wilhelminischen Kaiserreich bis heute. So sprechen die Etablierung als Schullektüre, drei Verfilmungen sowie international wissenschaftliches Interesse an der Novelle für eine fortlaufend kulturelle Relevanz des Stoffes.

Eine Rezeptionssituation, die aufgrund der politischen Lage in Deutschland retrospektiv besonders kritisch betrachtet wird, ist die der beiden Weltkriege, insbesondere die des Dritten Reiches. Dabei ist der Text gerade in dem totalitären Nazideutschland von einer auffallenden Aktualität (Kapitel 2). Bezüglich der Stofftradition unter dem Naziregime ist sich der gegenwärtige Wissenschaftskanon weitgehend einig, indem er die kontemporäre Interpretation des ,,Schimmelreiters“ als rein propagandistisch motiviert abtut. Dies spiegelt sich in einer Vielzahl später entstandener Sekundärliteratur zu der Lektüre wider. Jüngere Stormforscher rekapitulieren die Phase zwischen dem Ende der Weimarer Republik und 1945 als eine Entfremdung des Textmaterials, die aus einer Umfunktionierung der Novelle resultiere. Im Nationalsozialismus fungiere sie lediglich als ein Medium, ein Mittel zum Zweck derzeitiger Machthaber ihre Propaganda zu verbreiten, wobei eine originalgetreue Interpretation des ,,Schimmelreiters“ gänzlich vernachlässigt werde.[1] Nach dem heutigen Erkenntnisstand eine Annahme, der man kurzerhand gewillt ist, sie als plausibel anzuerkennen. So weiß man doch um die äußerst produktive Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten. Eine eigens dafür eingerichtete Reichschrifttumskammer unter der Leitung von Propagandaminister Joseph Goebbels hat sich vornehmlich darin verstanden, Literatur den ideologischen Maßstäben zu unterwerfen. Eine ,,Gleichschaltung“ des Werkes, um es mit der euphemistischen Terminologie dieser Institution zu umschreiben, wäre demnach keine Besonderheit. Auffallend hingegen ist die Ideologisierung eines vergleichsweise alten Textes des Novellengenres. So muss sich primär die zeitgenössische Literatur einer Kontrolle durch die Reichschrifttumskammer unterziehen. Derzeitige Machthaber waren bemüht Hervorbringungen vergangener Schaffensperioden zugunsten einer nationalistischen Revolution vergessen zu machen. Exemplarisch für diese Ambition ist die deutschlandweite Bücherverbrennung, die regimetreue Studenten nahezu zeitgleich mit der Machtübernahme Adolf Hitlers veranlassen. Während in mehreren deutschen Städten systemkritische Bücher in Flammen aufgehen, erfährt ,,Der Schimmelreiter“ in den Folgejahren einen ungeahnten Höhepunkt seiner Rezeptionsgeschichte. Dabei mangelt es den Nationalsozialisten ihrerzeit keineswegs an ideologiekonformen Schriftwerken. In den eigenen Reihen befinden sich fundamentalistische Autoren wie Wolter von Plettenberg und Waldemar Glaser, die mit Romanen wie ,,Der erste Deutsche“ oder ,,Ein Trupp SA: Ein Stück Zeitgeschichte“ serienmäßig systemstützende Literatur liefern. Dennoch ist es ,,Der Schimmelreiter“, dem eine Verfilmung gewidmet wird, die vorwiegend Schulklassen in die Kinosäle dieser Zeit lockt. Angesichts dieser Tatsachen drängt sich die Frage nach der Motivation der Nationalsozialisten auf, eine heute als nationalistisch unbefangen gemutmaßten Novelle derart umzuformen. So wäre ein Rückgriff auf gegenwärtig vorhandene Propagandaressourcen weitaus naheliegender als die Umfunktionierung einer gänzlich unpolitischen Novelle aus dem Kaiserreich. Es bleibt zu klären, ob die Funktionalisierung des Textes tatsächlich das Produkt propagandistischer Willkür ist oder ob die Stormnovelle ihrerseits bereits das Potenzial einer präfaschistischen Weltanschauung birgt, das die Nationalsozialisten lediglich zugunsten ihrer aufgegriffen haben. Kurzum stellt sich die Frage danach, welche Anhaltspunkte ,,Der Schimmelreiter“ für eine durch die Nationalsozialisten geförderte Rezeption bereitstellt.

Um dieser Fragestellung nachgehen zu können, ist ein vorausgehendes Resümieren der Schimmelreiterinterpretation im Nationalsozialismus Verständnisgrundlage für die folgenden Kapitel. Ein wichtiges Zeugnis der Rezeptionsgeschichte stellt dabei die zu dieser Zeit entstandene Verfilmung des Novellenstoffes durch Curt Oertel dar. An ihr lässt sich exemplarisch das derzeitig vorherrschende Verständnis des Textes abarbeiten, weshalb ihr an dieser Stelle ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Diese rekonstruierte Variante der Textauslegung im Nationalsozialismus wird zudem hinsichtlich ihrer Funktion als Vermittlungsinstanz ideologischer Ideale untersucht. Daraus resultiert der Kern der Arbeit, der die Diskrepanz zwischen der Schimmelreiterinterpretation im Dritten Reich und der Ursprungsnovelle nach Theodor Storm darlegt. Dabei wird der zentralen Frage nachgegangen, inwiefern die nationalsozialistische Schimmelreiterinterpretation mit dem stormschen Original kompatibel ist. In einem abschließenden Kapitel wird das Ergebnis dieser Gegenüberstellung reflektiert festgehalten. An dieser Stelle wird außerdem das Ausmaß des politischen Einflusses auf die Novelle bilanziert.

2 Stofftradition im Dritten Reich

2.1 Novellenanalyse im Nationalsozialismus

Bevor in dem Hauptteil der Arbeit die Textauslegung des ,,Schimmelreiters“ im Dritten Reich mit dem Original verglichen werden kann, ist es zunächst fundamental das Textverständnis der Nationalsozialisten nachzuvollziehen. Dies liefert die Basis für einen anschließenden Vergleich beider Varianten.

Es ist davon auszugehen, dass die in dem Dritten Reich publizierte Literatur der nationalistischen Ideologie zutulich war. Während in einer nicht autokratisch regierten Gesellschaft Kunst und Politik als dichotomisch nebeneinander stattfindend angenommen werden, fusionieren diese autonomen Bereiche unter der Diktatur Hitlers zu einer ideologischen Einheit. Diese ist institutionalisiert in der Reichskulturkammer, die Kunst hinsichtlich ihrer systemstützenden Funktion selektiert. Dabei ist die ihr untergeordnete Reichschrifttumskammer äquivalent in dieser Absicht spezialisiert auf Literatur.[2] Publikationen werden demnach von derzeitig regierenden Machthabern systemopportun eingesetzt. Bücher, die in ihrer Aussage der Vorstellung eines nationalsozialistischen Deutschlands nicht entsprechen, werden durch die Regierung beseitigt. Unter diesen Umständen lässt allein die bloße Tatsache einer geduldeten Rezeption des ,,Schimmelreiters“ darauf schließen, dass das Buch das staatlich auferlegte Selektionsraster als systemkonform gewertet passiert hat. Diese durch die Propagandainstanzen reglementierte Daseinsberechtigung ist also bereits das Indiz einer ideologischen Relevanz des Textes. Sie lässt sich belegen mit der Aufnahme des Buches in den Kanon der Schullektüre dieser Zeit. So veröffentlicht das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung eine eigens geprüfte Schuledition der Novelle. Des Weiteren zählen Soldaten der Wehrmacht zu dem bevorzugten Adressatenkreis der Geschichte um Hauke Haien. Dabei beschränkt sich die Gegenwärtigkeit des Textes nicht lediglich auf die Rezeption des Buches, sondern wird durch formverschiedene Schimmelreiterinterpretationen ausgeweitet. Eine dieser zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Stoff liefert die Stormforschung von Wolfgang Kayser, die ihrerzeit als wissenschaftlich anerkannt gilt. Er sieht in Storms ,,Schimmelreiter“ eine Nähe zu nationalistischen Leitmotiven, indem er den Antrieb des Schriftstellers für seine späteren Novellen als ,,getragen von den Kräften des Stammestums“[3] umschreibt. Ähnlich in dieser Annahme ist eine Arbeit Franz Stuckerts, die das letzte Werk des husumer Autors in einem eigenen Kapitel analysiert. Er stellt den ,,Schimmelreiter“ über andere Hervorbringungen Storms, indem er ihm sowohl quantitativ in der Textlänge als auch qualitativ in der Aussage eine Überlegenheit beimisst. In dem Folgenden konkretisiert er diese Sonderstellung und deklariert die Novelle zu einem beispiellosen Repräsentanten der nationalistischen Ideologie.[4] Derartige Resonanzen legen eine Verwendung der Novelle zu politischen Zwecken nahe. Dabei sind sich Kayser und Stuckert einig in der Annahme, dass das von ihnen gedeutete ideologische Potenzial des ,,Schimmelreiters“ wesentlich durch die Titelfigur repräsentiert werde. So besteht eine Gemeinsamkeit beider Forschungsarbeiten in der Interpretation des Protagonisten, Hauke Haien. Gerade in dem Beitrag Stuckerts wird der Deichgraf als eine Personifikation derzeitig propagierter Ideale gedeutet. Dementsprechend lobt er ihn als einen ,,genialen Mann“[5], dessen geistiges Schaffen von seinem sozialen Umfeld verkannt werde. Den Widerstand der Dorfbewohner gegen Hauke Haiens innovatives Deichbaukonzept sieht Stuckert als Reaktion auf die Ausnahmestellung des Deichgrafens.

[...]


[1] Vgl. Winfried Freund: Glanz und Elend des Bürgers, S. 105- 110.

[2] Vgl. Volker Dahm: Ideologie der Reichskulturkammer, S. 56- 57.

[3] Wolfgang Kayser: Bürgerlichkeit und Stammestum, S. 63.

[4] Vgl. Franz Stuckert: Theodor Storm, S. 99- 114.

[5] Ebd., S. 99.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Propaganda und Original
Untertitel
Instrumentalisierung des ,,Schimmelreiters" im Dritten Reich
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
15
Katalognummer
V198803
ISBN (eBook)
9783656254089
ISBN (Buch)
9783656255970
Dateigröße
497 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Storm, Schimmelreiter, Nationalsozialismus, Novelle, ndl, Theodor
Arbeit zitieren
Leonard Tekstra (Autor:in), 2011, Propaganda und Original, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198803

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