Als die Kirche dem Volk eine Stimme verlieh - Die evangelische Friedensarbeit und ihr Einfluss auf die politische Wende in der DDR


Thèse de Bachelor, 2009

60 Pages, Note: 1,1


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen:

1 Vorwort

2 „Die Kirche im Sozialismus“
2.1 Selbstverständnis der Kirche
2.2 Die rechtliche Grundlage
2.3 Die religiöse Erziehung - Jugendweihe und Religions-unterricht
2.5 Opposition: Verantwortlichkeit der Kirche
2.6 Konfliktpotenzial MfS - Warum die Kirche in den Fokus geriet

3 Zeichen setzen: Wichtige Persönlichkeiten und ihr Wirken im Widerstand - Zwei Beispiele
3.1 Fallbeispiel Oskar Brüsewitz: „Das Fanal von Zeitz“
3.1.1 Leben und Wirken
3.1.2 Die Reaktionen auf die Selbstverbrennung
3.2 Fallstudie: Pfarrer Matthias Storck
3.2.1 Leben und Wirken
3.2.2 Interview:
3.2.3 Beurteilung des Falles Storck

4 Politische Rolle im Wandel der Zeit - Historischer Rückblick
4.1 1949 - 1961
4.2 1962- 1978

5 Die Situation in den 80er Jahren
5.1 Zuspitzung der politischen Situation: 1987
5.2 Die Friedensbewegung
5.2.1 Die Friedensdekade: Schwerter zu Pflugscharen
5.2.2 Das Verhältnis zu den Basis- Gruppen
5.2.3 Friedensgebete
5.2.4 Montagsdemonstrationen - Leipziger Nikolaikirche als Ausgangspunkt einer Massenbewegung
5.3 1989: Die Wende

6 DDR - Zusammenbruch ohne kirchlichen Widerstand? Eine zusammenfassende Beurteilung

7 Ausblick: Nachhaltigkeit der Friedensarbeit

8 Quellenverzeichnis

Anhang
A Chronologie: 1950 - 1990
B Artikel 39 der Verfassung der DDR
C Artikel eines DDR-Lexikons (Ausschnitt): „Religion“
D Bewusstsein der Vergangenheit in der Leipziger Nikolaikirche

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Vorwort

Die Fülle der Informationsquellen, die ich zu Beginn meiner Recherchen vorgefunden habe, ließen mich zunächst überlegen, die folgende Arbeit thematisch auf einen bestimmten Zeitraum zu begrenzen. Von großem Interesse ist hierbei der Zeitraum von 1980 bis 1989. Dieses Zeitfenster ist durch den Beginn der Friedensarbeit durch die Aufnahme der Friedensdekade gekennzeichnet und gipfelt in einer Bewegung der Bevölkerung, die schließlich durch ihre quantitativen Ausmaße zum Zusammenbruch der SED- Diktatur geführt hat. Während des Versuchs, das Themenfeld auf eben dieses knappe Jahrzehnt des massiven Widerstands einzuschränken ist jedoch deutlich geworden, dass die Geschehnisse eben dieser Zeit nicht ausreichend ohne eine Verortung in zurückliegenden Ereignissen der Geschichte der Kirche in der DDR nachzuvollziehen und zu verstehen sind. Aus diesem Grund werden in der folgenden Arbeit einige Aspekte behandelt, die dem besseren Verständnis des äußerst gespannten Verhältnisses zwischen SED- Regierung und der Kirche dienen sollen. So wird ein kurzer Gesamtüberblick über historische Ereignisse in den Jahren 1950 bis 1980 gegeben, obwohl das Hauptaugenmerk auf die Friedensarbeit der evangelischen Kirche in den 80er Jahren liegt.

Es soll in dieser Arbeit gezeigt werden, warum und wie es zu Konfrontationen zwischen dem Staat und der Kirche gekommen ist, also welche Aspekte hierfür entscheidend waren und wie gegen die kirchliche Arbeit, später dann gezielt gegen die Friedensarbeit in Zusammenhang mit der Kooperation mit anderen alternativ politisch gesonnener Gruppen vorgegangen wurde. Das Ziel dieser Arbeit soll hierüber hinaus sein, zu zeigen, welche Rolle die Kirche trotz, oder gerade wegen dieser Auseinandersetzungen in Hinblick auf den Zusammenbruch der DDR und der damit einher gehenden „Wende“ gespielt hat, bzw. welchen Einfluss die Kirche auf die historischen Ereignisse rund um das 1989 in der DDR genommen hat. Die Untersuchungen in dieser Arbeit verlaufen von grundlegenden Informationen über Rechtsstatus u.ä. über chronologische Ereignisse bis hin zu konkreten Aspekten wie die Aktivitäten während der Friedensarbeit, um sich der Zielsetzung zu nähern. In einer abschließenden Beurteilung der Widerstandsrolle der Kirche werden kontroverse Positionen gegenüber gestellt. Ein wesentlicher Aspekt dieser Diskussion ist die Authentizität des kirchlichen Wirkens während des SED- Regimes.

Wenn nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich die Ausarbeitungen ausschließlich auf die evangelische Kirche in der DDR.

2 „Die Kirche im Sozialismus“

Das Kapitel „Die Kirche im Sozialismus“ soll eine Standortbestimmung der evangelischen Kirche in der DDR bieten. Es wird auf das Selbstverständnis der Kirche eingegangen, d. h. es wird näher dargestellt, welche Rolle die Kirche innerhalb der sozialistischen Gesellschaft beabsichtigte einzunehmen und welche Kontroversen damit einher gingen. Das hier beschriebene Selbstverständnis bezieht sich ausschließlich auf die Zeit der selbstständigen Organisation der evangelischen Kirche im Osten nach Gründung des DDR- Kirchenbundes. Die Umstände, die zu dieser formellen Trennung von der EKD geführt haben, werden näher in Kapitel 4.1.2 beschrieben.

Des weiteren wird im Kapitel „Die Kirche im Sozialismus auf die Schwierigkeiten eingegangen, auf die die kirchliche Arbeit in dem Bereich der Bildungsarbeit stieß.

Wichtig ist außerdem für ein hinreichendes Gesamtbild des Standortes der evangelischen Kirche in der DDR zunächst einmal die verfassungsmäßig festgelegten Rechte der Kirche und wie diese umgesetzt, bzw. aktiv missachtet wurden und schließlich der schwelende Konflikt zwischen Kirche und MfS, der die Kirche-Staatsbeziehung während des gesamten Bestehens der DDR prägte und begleitete. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls darauf eingegangen, warum die Kirche sich in der Verantwortung sah, eine derart oppositionelle dem Staat gegenüber einzunehmen, wie sie es tat.

2.1 Selbstverständnis der Kirche

Nachdem die evangelische Kirche in der DDR sich 1969 endgültig von der EKD im Westen Deutschlands getrennt hatte und als eigenständiger Kirchenbund agierte, ging auch ein völlig neues Selbstverständnis damit einher. Man wollte „Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein“[1], also als Teil der gesellschaftlichen Ordnung verstanden werden und nicht als Randgruppe marginalisiert werden.

Die sozialistische Staatsordnung wurde auch als solche anerkannt, und der neu gegründete BEK wollte sich dieser Herausforderung stellen, da man sich der Verantwortung der in der DDR lebenden Menschen gegenüber stets bewusst war. „Man wollte eine Kirche sein, die [...]helfe, [den] Weg in der sozialistischen Gesellschaft und der Welt insgesamt in der Freiheit und Bindung des Glaubens zu finden.“[2] Die BEK sah außerdem ihre Aufgabe darin, „sich dort in die Gesellschaft einzubringen, wo menschliches Leben zu erhalten oder Gefahr von ihm abzuwenden sei.“[3] Diese Leitsätze für die kirchliche Arbeit wurden auf einer Synode der BEK im Jahr 1973 festgeschrieben.

Die nach und nach abgekürzte Formel „Kirche im Sozialismus“, die aus der oben genannten hervorging, wurde schließlich zur Standortbestimmung der evangelischen Kirche und blieb dies auch bis zum Zusammenbruch des SED- Regimes.

Allerdings sollte erwähnt werden, dass die Formulierung „Kirche im Sozialismus“ starker Kritik unterzogen wurde, das sie vom Wortlaut her nahe legt, dass die BEK sich dem Sozialismus verpflichtet fühlt. Jedoch war „weder eine sozialistische Kirche noch eine sozialistische Theologie gemeint, vielmehr wollte die evangelische Kirche [...] zum Ausdruck bringen, dass die „Kirche auch in einer sozialistischen Gesellschaft Verantwortung trage und zu gesellschaftlicher Mitarbeit bereit sein müsse“[4].

Eben diese stark diskutierte „begriffliche Unschärfe der Formel stelle eine integrative Stärke dar“[5], da so Freiraum zur Interpretation der Intention gegeben war, die eine breitere Akzeptanz ermöglichte, als es bei einer konkreten Formulierung der Fall gewesen wäre.

2.2 Die rechtliche Grundlage

Rechtliche Vorgaben in Bezug auf die Kirche sind vorwiegend Artikel 39 der Verfassung zu entnehmen, wobei „zu bemerken ist [...], dass die Kirchen nicht etwa unter den Schutz des Staates gestellt, sondern umgekehrt zu staatstreuem Verhalten verpflichtet [worden sind].“[6] Die Formulierungen innerhalb des Artikels entsprechen denen der Weimarer Verfassung in Bezug auf Kirchen- und Religionsangelegenheiten, da diese übernommen worden sind.

Verantwortlich für kirchenpolitische Aspekte war der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, dem die „Arbeitsgruppe für Kirchenfragen“ unterstand. Außerdem ist im MfS eine Abteilung speziell für das „Sicherheitsgebiet Kirchen und Religionsgemeinschaften“ eingerichtet worden. Hierbei ist zu erwähnen, dass die gesamte Kirchenpolitik der DDR hauptsächlich auf die evangelische Kirche ausgerichtet war. „Anders als in den evangelischen Kirchen schließt das Selbstverständnis der katholischen Kirche die Anerkennung der außertheologischen Wirklichkeit des Staatssozialismus für die eigene Wesensbestimmung aus“.[7] Aufgrund dieser politischen Abstinenz wurde seitens des Staates keinerlei Notwendigkeit gesehen, sich umfassender mit der katholischen Kirche zu befassen.

Die eigentliche Gesetzgebung in Bezug auf die „Kirchenfragen“ ist zeitlich in drei Abschnitte zu teilen. Der erste Abschnitt betraf den zeitlichen Rahmen von der Gründung der DDR 1949 bis zum Jahr des Mauerbaus 1961. Der zweite Abschnitt setzt in eben diesem Jahr ein und erstreckt sich bis 1978, als es zu einer neuen Gesetzgebung in Bezug auf die Kirchen kommt, in der seitens der DDR- Regierung Zugeständnisse gemacht wurden, die jedoch mehr oder weniger nur auf dem Papier existierten: Seelsorgerische Betreuung von Gefangenen, Gleichstellung von kirchlich gebundenen Sozialdiensten mit staatlichen, erneute Betonung des Verfassungsrechtes auf Religionsfreiheit und die Erlaubnis für kirchliche Sendungen in Rundfunk und Fernsehen.

Der dritte Abschnitt setzt schließlich mit dieser neuen Gesetzgebung ein und endet mit dem Untergang der DDR nach dem Fall der Mauer 1989.

Zwischen dem Staatssekretariat für Kirchenfragen und der Kirchenführung gab es bis 1978 keine offiziellen Begegnungen, Probleme wurde stets fallbezogen geklärt. Das Gespräch 1978 konnte nur dadurch ermöglicht werden, dass beide Seiten ihre Grundposition zurück genommen haben, die einer Annäherung im Weg stand: Seitens der Kirche wurde der Sozialismus als Gesellschaftsform nicht mehr so kritisch gesehen und die Staatsführung erklärte das „Absterben der Religion“[8], wie es gemäß marxistischer Lehre vorher gesagt wird, für nicht wahrscheinlich. Trotz der Gesprächsmöglichkeit ist „aus der Begegnung [...] 1978 [...] kein vereinbartes, gemeinsam formuliertes Regelungssystem für das Staat-Kirche- Verhältnis hervorgegangen [...]. Ebenso wenig wurde die Position der Kirche eindeutig definiert.“[9] Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten in mancherlei Situation gab es auch eine positive Seite, da die Kirche durch die Nichteinmischung des Staates eine gewisse Selbstständigkeit und Unabhängigkeit behielt, die sie während der gesamten Zeit des Bestehens der DDR von anderen gesellschaftlichen Organisationen abgrenzte.

Während dieser gesamten Zeit hat sich die Kirche stets in einer rechtlichen Grauzone bewegt, denn „es gab [zu keiner Zeit] in der DDR [einen] verfassungsmäßig garantierten und somit rechtlich einklagbaren Bestand an grundlegenden Regelungen, Statusbeschreibungen und Aufgabenzuweisungen.“[10]

2.3 Die religiöse Erziehung - Jugendweihe und Religions-unterricht

Gemäß der Verfassung der DDR, welche im Jahr 1949 verabschiedet wurde, hatte die Kirche zunächst ein Recht auf die Erhebung von Kirchensteuern und von Religionsunterricht in den Schulen. Jedoch bestanden diese Rechte nur auf dem Papier. In Wahrheit war bereits 1950 der Religionsunterricht an den Schulen untersagt. „Die Verfassungsrechte konnten nirgends eingeklagt werden, [...] die einfachsten Dinge wurden deshalb zum Gegenstand langwieriger Verhandlungen bis auf höchste Ebenen.“[11] Ein Entgegenkommen bei solchen Anliegen gab es oft nur, wenn dem Staat verdeutlicht werden konnte, dass er auch Vorteile daraus ziehen konnte.

„Die Spielräume der Kirche waren eine Mischung von jederzeit widerrufbaren Gewohnheitsrechten und gewohnheitsrechtlichen Illegalitäten.“[12] Jegliche Art von kirchlichen Veranstaltungen musste angemeldet werden und es musste eine Genehmigung vorliegen, wenn es sich bei diesen Veranstaltungen nicht um Gottesdienste oder Unterricht handelte.

Das Bildungssystem der DDR wurden der sowjetischen Pädagogik angepasst, die auf der Lehre des Marxismus-Leninismus basierte. Das dieser Lehre entsprechende „wissenschaftliche Weltbild“ wiederum basierte auf einem Atheismus, der keine Möglichkeit und Notwendigkeit für die Vermittlung christlicher Werte und Normen vorsah.

Häufig fand daher eine Schikane statt, wenn es um die Durchführung von religiösen Unterrichtes ging. Die Unterhaltung eines Unterrichtsraumes wurde erheblich erschwert, indem keine Baugenehmigungen erteilt wurden oder schlichtweg die Mietverträge gekündigt wurden. Kindern wurden bereits früh in der Schule darauf hingewiesen, dass sie als Christen kaum Chancen hätten, später die Oberschule zu besuchen. Die Eltern dieser eingeschüchterten und verunsicherten Kinder zum Protest zu bewegen war häufig aussichtslos, da sie befürchteten, „durch diesen Protest die Chance ihres Kindes [zu] verschlechtern.“[13]

Nachdem es 1953 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppierungen und der Staatsführung kam, die am 17. Juni ihren Höhepunkt erreichten, änderte der Staat seine Vorgehensweise hinsichtlich der Durchsetzung sozialistischer Gesellschaftsstrukturen. 1954 wurde schließlich die Jugendweihe, ursprünglich eine Einrichtung der kommunistischen Arbeiterbewegung, als staatliches Pendant zur kirchlichen Konfirmation reaktiviert. Diese unterstand dem im gleichen Jahr gegründeten „Zentralen Ausschuss für Jugendweihen in der DDR“, der „behauptete [...], die Jugendweihen sollten den Jugendlichen ein modernes, wissenschaftlich fundiertes Weltbild und eine zeitgemäße Lebensorientierung vermitteln.“[14] Ablauf und Inhalt der Jugendweihe waren dem der Konfirmation sehr ähnlich und unterschieden sich im wesentlichen in einem einzigen Merkmal, das jedoch den grundlegenden Unterschied beider Institutionen erkennen ließ: Die konfessionelle Bindung und Lehre wurde völlig außer Acht gelassen und durch eine parteipolitische und damit marxistische Lehre ersetzt.

Die Tatsache, dass die Jugendweihe nicht nur als Alternative zur Konfirmation sondern auch gezielt als Gegenveranstaltung legt nahe, dass sich die Staatsführung sehr früh des gesellschaftlichen Stellenwertes und der Einflussmöglichkeiten der evangelischen Kirche bewusst war. Die Kirche empfand dies als Provokation und reagierte mit der Erklärung, dass die Konfirmation nicht vereinbar wäre mit der Jugendweihe auf diese. Die faktische Benachteiligung der betroffenen Kinder und der auf ihnen lastende Druck durch die Schulen veranlasste die Kirchenvertreter jedoch bald, die Erklärung zurückzuziehen und die Jugendweihe neben der Konfirmation zuzulassen: „Jugendliche, die regelmäßig kirchliche Veranstaltungen wie Gottesdienste oder Religionsunterricht in Anspruch [nahmen], bzw. die Teilnahme an der Jugendweihe [verweigerten], [hatten] entgegen staatlichen Versicherungen mit Benachteiligungen in Ausbildung und Beruf zu rechnen, weil darin mehr oder weniger klare Indizien für ‚gesellschaftliche Unzuverlässigkeit’ gesehen [wurden].“[15] Während an der ersten Jugendweihe, die 1955 in Berlin- Köpenick statt fand, kaum Jugendliche teilnahmen, stieg die Teilnehmerzahl bis 1957 auf lediglich 20 %. Dies führte zur Intensivierung der „Werbeanstrengungen“ seitens des Staates in Form von noch gezielteres Ausgrenzen von bekennenden christlichen Jugendlichen. Resultat dieser Bemühungen war eine Teilnehmerzahl im Jahre 1960 von ca. 80 % aller Jugendlichen im passenden Alter, also ungefähr um das 14. Lebensjahr.

Immer wieder versuchte die Kirchenleitung ein Gespräch mit den zuständigen Personen im Politbüro einzufordern, jedoch wurden diese stets abgeblockt und es kam nie zu einem klärenden Sachgespräch.

2.5 Opposition: Verantwortlichkeit der Kirche

Nach Neubert hat die Tradition der Menschenrechte ihren Ursprung im Protestantismus. „Das protestantische Bekenntnis zum individuellen Glauben, der allein das Verhältnis zu Gott in freier Gewissensentscheidung reguliert, zeige [daher] eine große Affinität zur modernen Menschenrechtsdiskussion. Die große Bedeutung, die der protestantische Glaube der individuellen Gewissensentscheidung beimesse, habe wesentlich dazu beigetragen, dass die evangelische Kirche in der DDR zum Anwalt der Menschenrechte geworden sei.“[16] Ihr obliegt es somit, sich gezielt für Minderheiten, Unterdrückte und gegen Diskriminierung einzusetzen. Eben diese Offenheit macht die evangelische Kirche als Vertreter des Volkes auf ethisch-moralischer Grundlage glaubwürdig.

Die Kirchenvertreter standen (teilweise) ebenfalls in der Öffentlichkeit für persönliche Überzeugungen ein, obwohl persönliche Nachteile in Kauf genommen werden mussten. Man kann der evangelischen Kirche geradezu eine „emotionale Konfliktkompetenz“ nachsagen. Sie verstand es stets sich einerseits ihrer religiösen Verantwortung gegenüber der Bevölkerung bewusst zu bleiben und dieser nachzukommen und andererseits deeskalierende Einflüsse auszuüben, die manch schwierige Situation besänftigt haben.

Ihre Standhaftigkeit in diesen Bereichen war es, die den Kirchenvertretern Respekt gerade bei den „bedürftigen“ Gruppierungen, also den Querdenkern in der Gesellschaft, einbrachte. Die Kirche hat nicht nur immer ihre demokratische Struktur gegenüber SED- Regierung verteidigen können, sondern war auch, was ihr hierdurch ermöglicht wurde, häufigste Kritikerin der Staatsführung.

Somit war die Kirche mit Abstand der geeignetste Ort, um den Anliegen kleinerer Bevölkerungsgruppierungen Gehör zu schenken und dem Staat als Opposition gegenüber zu treten. Eine weitere Qualifikation für diese Vermittlerrolle war die Tatsache, dass die evangelische Kirche Kontakt zu beiden Seiten des Konfliktes, oder besser gesagt allen drei Seiten, da sie selbst auch erheblich vom Konfliktpotenzial, das vom Staat einerseits und Kirche und unabhängigen Gruppierungen andererseits ausging, betroffen war, hatte. Hinzu kam der Kontakt zur EKD, der sicherlich auch erheblichen Einfluss auf die rebellierenden Intentionen der Ost- Kirche nahm. Als einzige Organisation innerhalb der DDR, die relativ autonom agieren konnte, hatte die evangelische Kirche also direkten Kontakt zum Westen, ohne dass dieser durch die Zensur lief.

2.6 Konfliktpotenzial MfS - Warum die Kirche in den Fokus geriet

1950 wurde der Staatssicherheitsdienstes als Teil des Ministerrates gegründet. Dieser Sicherheitsdienst wurde, und wird auch heute noch, häufig mit dem gekürzten Begriff „Stasi“ bezeichnet. Der vollständige Name lautet allerdings „Ministerium für Staatssicherheit“, kurz MfS. Das MfS unterstand direkt dem Politbüro des ZK und bestand aus zahlreichen Abteilungen denen spezifische Zuständigkeitsbereiche zugeteilt wurden. Eine dieser Abteilungen war speziell für Kirchenangelegenheiten zuständig: Es handelte sich hierbei um Abteilung 4 der Hauptabteilung der Berliner Zentrale.

Die Arbeit vollzog sich hier, wie auch in den anderen Abteilungen, v.a. personenbezogen, zu größeren Einsätzen kam es in der Regel eher selten. Häufig wurden für die Observationen von Einzelpersonen oder kleineren Personengruppen „Inoffizielle Mitarbeiter“, die so genannten IM, und „Offiziere im besonderen Einsatz“, die OibE, in das nähere Umfeld der betroffenen Personen eingeschleust, um detaillierte Informationen über die Zielpersonen zu erhalten. Die IM und OibE sorgten für eine gründliche Berichterstattung über die Zielpersonen, ohne offiziell für das MfS zu arbeiten, es handelte es sich gewissermaßen um Zivilpersonen. Der „spektakulärste Fall eines eingeschleusten OibE im Bereich der evangelischen Kirche war der Magdeburger Konsistorialpräsident, [also der Leiter der Kirchenverwaltung des Landes Sachsens], Detlef Hammer“[17]

Bei den Observationen, die auch als „operative Vorgänge“ bezeichnet werden, handelte es sich häufig um reine Präventivmaßnahmen. Resultat einer derartigen Personenkontrolle waren Inhaftierung, Repressalien, Enthebungen von Ämtern oder Rekrutierung als IM. Die Erkenntnisse, die aus den operativen Vorgängen gewonnen wurden, wurden peinlichst genau dokumentiert und verwahrt, nachdem sie gründlich ausgewertet und analysiert wurden.

Die typischen Verdachtsmomente waren eine mögliche oppositionelle Einstellung zur DDR in Tat und Wort oder aber die „Anfälligkeit“ gegenüber solchen oppositionellen Einstellungen. So stellte sich auch gerade die evangelische Jugendarbeit als eines der Hauptkonfliktfeldern zwischen MfS und Kirche heraus. „Die sog. offene Jugendarbeit, der Versuch, Jugendliche mit weltlichen Themen, jugendgemäßer Musik und Freizeitgestaltung an die Kirche zu binden, wurde staatlicherseits als Eingriff in ureigenste Rechte angesehen, der unerbittlich auch mit Hilfe des MfS zu unterbinden war.“[18] „Die kirchliche Jugendarbeit , die für die Kirchen zu einer Frage ihrer weiteren Existenz geworden war, [tangierte] aus staatlicher Sicht [...] immer wieder das Erziehungsmonopol in der monolithisch organisierten Gesellschaft.“[19] Geschickt eingesetzte Schikane gegen die Träger der offenen Jugendarbeit, wie beispielsweise Hygiene- Kontrollen, sollten den progressiven und daher beliebten Umgang mit der Jugend behindern und eindämmen.

Auch die Tatsache, dass die evangelische Kirchen in der DDR so nahen Kontakt zur EKD unterhält, in finanzieller Hinsicht und nach der Gründung des „Bundes evangelischer Kirchen der DDR“ weiterhin in organisatorischen Angelegenheiten, weckte Misstrauen seitens des MfS. „Der Protestantismus [hatte] von jeher versucht, direkten Einfluss auf die soziale Gestaltung der Gesellschaft zu nehmen, sich in den öffentlichen Diskurs einzubringen und die Grenzen zur säkularisierten Umwelt offenzuhalten“[20], was natürlich durch die ungehinderten Westkontakte zusätzlich an Brisanz gewann. Trotz der vielfältigen Versuche der Behinderung der kirchlichen Aktivitäten, sei es durch die abstruse Rechtslage, den Ausschluss christlicher Schüler vom weiteren Bildungsweg oder in späteren Jahren die Sammlung oppositioneller Gruppierungen zu einer gemeinsamen Protestbewegung, hat die Kirche sich stets einen Handlungsspielraum erhalten können, der diese Organisation zum potenziellen Risiko werden ließ.

Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle, dass die atheistische Prägung der angestrebten sozialistischen Gesellschaft in der DDR ein Weltbild vertrat, dass sich grundlegend von dem der Kirche unterschied. Religion hatte in dem „wissenschaftlichen Weltbild“ des Sozialismus keinen Platz und wurde zum Untergang verurteilt. In einem Lexikon der DDR heißt es in einem Artikel zum Thema Religion: „Die erkenntnistheoretischen Wurzeln der Religion liegen im illusorischen Überschreiten der historisch bedingten Erkenntnisschranken der jeweiligen Gesellschaftsformation, die es nicht ermöglichten, die natürlichen und besonders gesellschaftlichen Zusammenhänge wissenschaftlich zu erfassen. Religiöse Fragen sind die phantastische(sic!), besonders emotionale und verzerrte Widerspiegelung wirklicher Fragen[...].“[21]

Die Religion an sich wird diffamiert und weiterhin als dem neuen Gesellschaftsmodell nicht angemessen deklariert. „Aus staatlicher Perspektive besteht [...] [ein] Widerspruch zwischen der notwendigen Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte an der einen Aufgabe, die von der Partei definiert wird und die Identität der sozialistischen Gesellschaft konstituiert einerseits und der Einschränkung der öffentlichen Wirksamkeit derjenigen gesellschaftlichen Erscheinungen, die die Einsicht dieser Aufgabenstellung gefährden, andererseits.“[22]

Es fiel demnach in den Verantwortungsbereich der Staatssicherheit, das Sicherheitsrisiko so weit es geht einzudämmen, was ihr jedoch weitgehend bis zuletzt mangels belastender Indizien nicht gelang. Die Kirche hatte keinen Putsch geplant, sondern hegte Hoffnungen auf Reformen innerhalb des Gesellschaftssystems.

3 Zeichen setzen: Wichtige Persönlichkeiten und ihr Wirken im Widerstand - Zwei Beispiele

Im folgenden Kapitel sollen zwei Fallbeispiele angeführt werden. Es handelt sich bei beiden Fällen um evangelische Pfarrer, deren Arbeit und Wirken die Aufmerksamkeit des MfS auf sich gezogen hat. Zunächst wird ein kurzer Eindruck der Personen anhand eines Lebenslaufes und der Beschreibung ihrer Tätigkeiten gegeben, anschließend erfolgt eine Verortung dieser Aktivitäten. Im ersten Fall handelt es sich hierbei um die Reaktionen der Umwelt auf die Aktivitäten des Pfarrers Brüsewitz, im zweiten Fall wird eine Beurteilung der Ereignisse um den Pfarrer Storck gegeben.

3.1 Fallbeispiel Oskar Brüsewitz: „Das Fanal von Zeitz“

Der Pfarrer Oskar Brüsewitz ist weit über den Osten hinaus bekannt geworden, denn auch die Westmedien haben großes Interesse an den Geschehnissen der damaligen Zeit gehabt. Oskar Brüsewitz ist lange Zeit sehr aktiv in der kirchlichen Arbeit gewesen und ist dem MfS ständig durch seine unkonventionellen Methoden aufgefallen. Trotz erheblicher Behinderungen seiner offenen Gemeindearbeit, beispielsweise durch Versetzung, hat Oskar Brüsewitz immer nachhaltigen Eindruck hinterlassen und sich sehr engagiert für gesellschaftliche Reformen eingesetzt, indem er stets öffentlich für Reformen eingetreten ist und sich nicht den Mund hat verbieten lassen. Angesichts der scheinbar ausweglosen Situation in diesem Bestreben, es ist kein deutliches Entgegenkommen seitens des Staates zu sehen gewesen, ist es zu einer letzten verzweifelten Tat des Pfarrers gekommen, die Bürger der DDR, und durch das Medieninteresse auch die der BRD, auf die sozialen Missstände innerhalb des Landes aufmerksam zu machen: 1976 hat sich der Pfarrer öffentlich vor einer Kirche selbst verbrannt.

3.1.1 Leben und Wirken

Oskar Brüsewitz wurde am 30. Mai 1929 in Willkischken in Ostpreußen in ärmlichen Verhältnissen als Kind einer Handwerkerfamilie geboren. Nach dem Besuch der Volksschule begann er im Jahr 1943 eine kaufmännische Lehre, die er jedoch aufgrund der Kriegsgeschehnisse nicht beenden konnte und schließlich ein Jahr später in den Westen floh. Dort wurde er jedoch im Alter von 15 Jahren von der Wehrmacht eingezogen und nach Warschau geschickt wurde, wo er erneut einen Fluchtversuch wagte, der allerdings fehl schlug. Bereits nach kurzer Zeit an der Front geriet der junge Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft, welche er im Herbst 1945 verlassen konnte. Daraufhin begann er noch im gleichen Jahr in der Nähe von Chemnitz eine dreijährige Lehre zum Schuhmacher, die er erfolgreich absolvierte. Nach seiner bestanden Gesellenprüfung zog er nach Melle um und eröffnete dort eine eigene Schuhmacherwerkstatt. 1951 machte er schließlich seinen Meister im Schuhmacherhandwerk und heiratete etwa zur gleichen Zeit. Als ein Jahr später seine Tochter Renate geboren wurde zog Brüsewitz gemeinsam mit seiner jungen Familie nach Hildesheim um. Das Familienglück währte allerdings nicht lange und die Ehe wurde bereits ein Jahr später wieder geschieden. Um sich nun neuen Herausforderungen zu stellen siedelte Brüsewitz 1954 in die DDR über und beginnt eine Ausbildung an der Predigerschule Wittenberg. Diese Ausbildung musste er jedoch noch im gleichen Jahr aufgrund einer schweren psychosomatischen Erkrankung aufgeben, und begab sich zur Rehabilitation in Kur. Nach seiner baldigen Genesung ging Brüsewitz nach Leipzig und eröffnete dort 1955 erneut eine eigene Schuhmacherwerkstatt. Noch im gleichen Jahr heiratete Brüsewitz seine Leipziger Bekanntschaft Christa Rohland und beteiligte sich seinen religiösen Interessen gemäß sehr engagiert im Leipziger Gemeindeleben. Bereits nach einjähriger Ehe wurde dem Ehepaar Brüsewitz 1956 der Sohn Matthias geboren, 1958 bekamen sie eine Tochter, die auf den Namen Esther getauft wurde. 1960 erkrankte Brüsewitz erneut und die Familie zog daraufhin nach Weißensee um, wo die zweite gemeinsame Tochter, Dorothea, zur Welt kam. In Weißensee arbeitete Brüsewitz als selbstständiger Schuhmacher und wurde schließlich Zweigstellenleiter eines Geschäfts der PGH Sömmerda. Auch in dieser Gemeinde gestaltete Brüsewitz das Gemeindeleben aktiv mit und kümmerte sich v.a. um die Jugendarbeit und die Evangelisationsarbeit des Kirchenkreises Sömmerda. Sein Engagement wurde jedoch seitens des Staates wie auch von einzelnen Gemeindemitgliedern kritisch beäugt, da Brüsewitz sehr energisch und innovativ für die Gemeindearbeit geworben hatte. So nahm er 1964 abermals eine Ausbildung an einer Predigerschule, diesmal in Erfurt, auf und beendete diese schließlich 1969. Ein Jahr später übernahm er eine Pfarrstelle in einer evangelisch-lutherischer Gemeinde des Ortes Rippicha im Kreis Zeitz. Auch hier schürte er bereits nach kurzer Amtszeit interne und externe Konflikte durch seine unkonventionelle Art und Weise, Menschen seiner Gemeinde für Kirchenarbeit und die Teilnahme an den Gottesdiensten zu gewinnen. Er brachte beispielsweise Plakate mit evangelisierenden Botschaften neben kommunistischen Propaganda- Plakaten an und an seiner Kirche konnte man ein Kreuz, welches aus Neonröhren zusammengesetzt wurde, bewundern. Die Symbolik und Innovation der Ideen Brüsewitz’ hatten neben dem bereits erwähnten Konfliktpotential jedoch auch zur Folge, dass seine Kirche immer außerordentlich gut besucht war und die Gemeinde verhältnismäßig aktiv an der Kirchenarbeit mitwirkte. 1976 wurde dann Pfarrer Brüsewitz die Versetzung in eine andere Gemeinde nahe gelegt, da die Kirchenleitung eine offene Auseinandersetzung mit staatlichen Stellen fürchtete. Im August des selben Jahres folgte die Reaktion Brüsewitz’, die weitreichende Konsequenzen hatte. Am 18.8. entrollte Pfarrer Brüsewitz demonstrativ vor der Michaeliskirche in Zeitz einen Banner, auf dem er seine Meinung zur derzeitigen Situation offen kundtat: „Funkspruch an alle: Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen“[23]. Nach dem Entrollen des Plakates stellte sich Brüsewitz auf den Kirchenplatz, übergoss sich mit Benzin und entzündete dies. Unmittelbar waren Mitarbeiter des MfS zur Stelle, löschten den Pfarrer und entfernten den Banner. Brüsewitz wurde in das Bezirkskrankenhaus Halle-Dölau gebracht, wo er vier Tage später an seinen schweren Verletzungen durch die Verbrennungen starb.

In dem von ihm verfassten Abschiedsbrief erklärte er seine Tat dadurch, dass er als Zeuge der Unterdrückung der Gesellschaft in der DDR einen Sendungsauftrag zu erfüllen hätte. Er beklagte den „scheinbaren tiefen Frieden, der auch in die Christenheit eingedrungen [sei]“, während „zwischen Licht und Finsternis ein mächtiger Krieg [tobe]“[24]. Pfarrer Brüsewitz hat durch seine Protestaktion ein Exempel statuiert, das als „Fanal von Zeitz“ bekannt wurde und in die Geschichte einging.

3.1.2 Die Reaktionen auf die Selbstverbrennung

Das MfS konnte zwei Tage lang die Protestaktion des Pfarrers Brüsewitz vertuschen und aus den Medien fern halten. Nachdem die Fernsehanstalten und der Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland jedoch am 20. August von dem Freitod des Pfarrers In Zeitz berichteten, waren auch die staatlichen Stellen der DDR gezwungen, Stellung zu beziehen. Sie bezeichneten Brüsewitz mit Hinweis auf seine vorherigen psychischen Erkrankungen als Psychopathen und verschwiegen so die Botschaft, die Brüsewitz verbreiten und publik machen wollte. Die Verleumdung der Geisteskrankheit, die Brüsewitz zu der Tat getrieben haben soll, wurde gegen Ende des Monats August von den Zeitungen „Das Neue Deutschland“ und die „Neue Zeit“ unterstützt. Am 22. August verfasste die Kirchenleitung der DDR ein „Wort an die Gemeinde“, das einen Aufruf zur Fürbitte enthielt und in den Gottesdiensten verlesen wurde. Das „Wort an die Gemeinde“ nahm Abstand sowohl von den Unterstellungen, dass Brüsewitz psychisch gestört war, als auch von dessen Absicht, „das Geschehen in Zeitz zur Propaganda gegen die Deutsche Demokratische Republik zu benutzen“[25].

Bei der Bevölkerung stieß die Radikalität der Protestaktion auf „positive“ Resonanz. Eine Welle der Solidarisierung griff um sich und die evangelische Kirche sah sich erstmalig bewusst als Raum der Opposition. Auch einige andere Personen nutzten das öffentliche Interesse an der Aktion des Pfarrers Brüsewitz und bekannten öffentlich ihre Zustimmung zu dessen Botschaft: Am 11. September 1976 gab der Liedermacher Wolf Biermann sein erstes Konzert nach elfjährigem Berufsverbot in der Prenzlauer Nikolaikirche und bezeichnete die Verbrennung von Oskar Brüsewitz als „Republikflucht in den Tod“. Der Auftritt und die Fürsprache für die Aktion seitens Brüsewitz’ führte zwei Monate später zur Ausbürgerung des Liedermachers. „Biermann hat mit seinen Liedern [...] vielen Sprache geliehen, sie aus der Dumpfheit des stummen Ertragens befreit. Von nun an fanden Schriftsteller, die bei der SED in Ungnade gefallen waren, immer häufiger in kirchlichen Veranstaltungen ihr Publikum.“[26]

Weiterhin wehrten sich „35 junge Marxisten“, zu denen auch bekannte Personen wie die Liedermacherin Bettina Wegner und der Autor Klaus Schlesinger gehörten, in einem Protestschreiben an das Zentralkomitee gegen die Verleumdung Brüsewitz’ in den Medien. Die Marxisten und die evangelische Kirche stellten sich gemeinsam gegen die DDR- Regierung.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde am 18. Juni 1977 in Bad Oeynhausen das „Christlich-Paneuropäische Studienwerk“ gegründet, das am 18. Oktober 1977 das so genannte Brüsewitz-Zentrum, dessen Ziel es gemäß der Satzung ist, „im christlichen Geiste der Grund- und Menschenrechte zur besseren Verständigung, Zusammenarbeit und Solidarität im ganzen deutschen Volk, in Europa und zwischen den Völkern der Welt beizutragen“[27]. Die Verletzung der Religionsfreiheit in der DDR sollte ins öffentliche Bewusstsein gerückt und transparent gemacht werden. 1983 musste die Tagungsstätte aus finanziellen Gründen aufgegeben werden, jedoch wurde die Organisation der deutschlandpolitischen Bildungsarbeit daraufhin in ein Büro in Bonn verlegt. Allerdings wurde auch dieses Büro nach der Wende und der damit eingeleiteten deutschen Einheit im Jahre 1990 ebenfalls geschlossen.

Auch die Zeitung „Das Neue Deutschland“ entschuldigte sich 30 Jahre nach dem Tod von Oskar Brüsewitz 2006 öffentlich für den verleumderischen Artikel, den es 1976 über die Geschehnisse um Brüsewitz veröffentlicht hatte und rechtfertigte dies damit, dass der besagte Artikel „in einem der zahlreichen Büros des Zentralkomitees der Partei“[28] verfasst worden sei. In diesem Zusammenhang wurden außerdem einige ausgewählte Leserbriefe veröffentlicht, die bereits kurz nach der Veröffentlichung des Artikels 1976 an die Zeitung geschickt wurden, aufgrund der Kritik an der Regierung jedoch nicht publik gemacht wurden.

[...]


[1] Maser, Peter: Glauben im Sozialismus: Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR, Berlin: Holzapfel Verlag, 1989, S. 144.

[2] Alsmeier, Bernd: Wegbereiter der Wende: die Rolle der Evangelischen Kirche in der Ausgangsphase der DDR, Politische Studien Band 3, Pfaffenweiler: Centaurus-Verlags-Gesellschaft, 1994, S. 12 f.

[3] Alsmeier, Bernd: Wegbereiter der Wende, Pfaffenweiler 1994, S. 13.

[4] Ebd., S. 12.

[5] Reitinger, Herbert: Die Rolle der Kirche im politischen Prozess der DDR 1970 bis 1990, tuduv-Studien: Reihe Politikwissenschaften Band 47, München: tuduv- Verlags- Gesellschaft, 1991, S. 9.

[6] Ebd., S. 26.

[7] Fischer Weltalmanach: Chronik Deutschland 1949 - 2009: 60 Jahre deutsche Geschichte im Überblick, Bonn: Fischer Taschenbuch Verlag: Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2008, S. 211.

[8] Meyers Neues Lexikon, Bd. 11. 2, Artikel “Religion”, Leipzig: völlig neu erarb. Auflage in 18 Bänden, 1975, S. 462.

[9] Alsmeier: Wegbereiter der Wende, Pfaffenweiler 1994, S. 18.

[10] Ebd., S. 16.

[11] Schröder, Richard: Vom Gebrauch der Freiheit: Gedanken über Deutschland nach der Vereinigung, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1996, S. 156.

[12] Ebd., S. 157.

[13] Ebd., S. 158.

[14] Blühm, Reimund/Onnasch, Martin; in: Dähn,Horst (Hg.): Die Rolle der Kirchen in der DDR: eine erste Bilanz, Geschichte und Staat Bd.291, München: Günter Olzog Verlag GmbH, 1993, S. 178.

[15] Reitinger: Die Rolle der Kirche im politischen Prozess der DDR 1970 bis 1990, München 1991, S.33 f.

[16] Alsmeier: Wegbereiter der Wende, Pfaffenweiler 1994, S.85 f.

[17] Silomon, Anke: Synode und SED-Staat: die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Görlitz vom 18. - 22. September 1987, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1997, S. 65.

[18] http://www.mfs-insider.de/Abhandlungen/Kirche.htm

[19] Ebd.

[20] Alsmeier: Wegbereiter der Wende, Pfaffenweiler 1994, S.85.

[21] Meyers Neues Lexikon, Band 11.2, Leipzig 1975, S. 462.

[22] Thumser, Wolfgang: Kirche im Sozialismus: Geschichte, Bedeutung und Funktion einer ekklesiologischen Formel, Beiträge zur historischen Theologie Band 95, Tübingen: Mohr, 1996, S. 205.

[23] Vgl. http://www.bruesewitz.org/flammen.html

[24] Motschmann, Jens: Die Pharisäer: die evangelische Kirche, der Sozialismus und das SED- Regime, Frankfurt a. M./ Berlin: Verlag Ullstein GmbH, 1993, S. 132.

[25] Vgl. Wort an die Gemeinden der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen vom 21. August 1976; http://www.bruesewitz.org/wort.html

[26] Schröder: Vom Gebrauch der Freiheit, Stuttgart 1996, S. 184 f.

[27] Vgl. http://www.bruesewitz.org

[28] http://www.neues-deutschland.de/artikel/95311.html

Fin de l'extrait de 60 pages

Résumé des informations

Titre
Als die Kirche dem Volk eine Stimme verlieh - Die evangelische Friedensarbeit und ihr Einfluss auf die politische Wende in der DDR
Université
Bielefeld University
Note
1,1
Auteur
Année
2009
Pages
60
N° de catalogue
V199071
ISBN (ebook)
9783656275961
ISBN (Livre)
9783656275237
Taille d'un fichier
13256 KB
Langue
allemand
Mots clés
DDR, Kirche, Wende, Widerstand
Citation du texte
Sina - Christin Wilk (Auteur), 2009, Als die Kirche dem Volk eine Stimme verlieh - Die evangelische Friedensarbeit und ihr Einfluss auf die politische Wende in der DDR, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199071

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