Das Unheimliche wird in dieser Arbeit für einmal als eines verstanden, das nicht nur in den Motiven und Themen, sondern vorwiegend in der hoffmannschen Poetik verankert ist. Von der Analyse soll keines der „Nachtstücke“ ausgeschlossen werden, die konsequente Einheit des Zyklus lässt sich an einer Untersuchung des Unheimlichen gleichsam en passant aufzeigen. Der Autor Hoffmann liefert selbst bezüglich des Fantastischen und Unheimlichen in seinen Erzählungen reiche poetologische Hinweise, welche sich weit aufschlussreicher als die Theorien über das literarische Fantastische anderer Autoren auf seine Erzähltexte anwenden lassen. Ausgehend von der Annahme, dass alleinig der Text einer Erzählung die schauerliche Wirkung übertragen und beim Leser entstehen lassen kann, soll darauf eine detaillierte textuelle Analyse, die jeweils bei den beiden von der Forschung am eklatantesten gemiedenen Novellen „Ignaz Denner“ und „Das Gelübde“ ansetzt, der Frage nachgehen, wo das Unheimliche im Erzähltext manifest wird, was genau uns denn in diesen Geschichten erschauern macht und welche sprachlichen Mittel der Zeit-, Figuren- und Raumgestaltung entscheidend dazu beitragen. Sicherlich trifft man dabei in allen „Nachtstücken“ auf grelle Schauerelemente. Sie drehen sich beständig um Wahnsinn, Selbstmord, Totschlag, Satanismus, Revenants, dunkle Schlösser, Automate und Trugbilder. Ihre wahrlich beängstigende Wirkung jedoch, das zeigt der dritte Teil der Arbeit, entsteht im Wesentlichen durch die genannten Erzähltechniken - die perspektivische, den Leser in extremer Nähe zu den Figuren haltende Erzählweise, ein stetes, über Beglaubigungsstrategien bewirktes In-die-Irre-Führen desselben, durch Brüche, die bei gleichzeitiger Verrätselung und Illusionsaufrechterhaltung, die Ironie, die Gemachtheit und die Inszenierung der Erzählung offen legen sowie durch stets vieldeutige Enden, wo Fragen ungeklärt bleiben und die über Staunen und Schrecken auch nach dem Schliessen des Buchdeckels verunsichern, jegliche Vereindeutigung verweigern und den Leser somit im Unheimlichen zurücklassen.
Die Erzähltexte der „Nachtstücke“ sind ein bewusst und berechnend inszeniertes Verwirrspiel, das über die Themen der Erzählungen, und, stärker noch, über die Sprache, in der es verfasst ist, laut wird und über das das Unheimliche, gleich einem Automat, eine Art Eigenleben erlangt, das gerade nur im Rahmen von Literatur und über besagte Erzähltechniken funktionieren kann.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die unheimliche Erzähltechnik E. T. A. Hoffmanns
3. Die textuelle Manifestation des Unheimlichen in den „Nachtstücken“
Das gestaltlose Auftauchen des Unheimlichen im Heimischen
Unheimliches Spiel mit Zahlen, Zeiten und Zeitpunkten
Zweifelhafte Identitäten
Schaurige Gesichtszüge, Anatomien, Sprachen und Stimmen
Die abenteuerliche Aufmachung des Bösen
Verwunschene Topographien, verzerrte Räume und ihre Ausleuchtung
4. Der automathafte Erzähltext
Dunkle Schicksalsahnungen
Zauberische Artefakte
Wiederholung - Eine Struktur des Unheimlichen
Der Text im Text des Textes - Das Spiegelkabinett der „Nachtstücke“
Am Ende der „Nachtstücke“ - Am Ende der Nacht?
5. Fazit
Bibliographie
1..Einleitung
Die Faszination für unheimliche und fantastische Literatur nimmt keinen Abbruch. Dies zeigen, um nur beispielhaft einige Autoren zu nennen, die anhaltenden Bestsellererfolge eines Stephen King, eines Dean Koontz oder einer Anne Rice. Seien es ausgeklügelte Platzierungen des Fantastischen in einer alltäglich scheinenden Realität oder die Erlebnisse avantgardistischer Vampire; die Leser[1] des 21. Jahrhunderts geben sich noch immer gerne der wohligen „Angst im Lehnstuhl“ hin.[2] Diese Entwicklung überrascht - oder nimmt ihren Lauf vielleicht gerade - weil der ‚romantische Waldrand’[3] als Übergang in zauber- und märchenhafte Dimensionen in der heutigen, im Vergleich zum 18. und 19. Jahrhundert umso technologisierteren und naturwissenschaftlich-ausdividierteren Welt entfernter denn je zu sein scheint.
Ein ‚kleines’ Meisterwerk unheimlicher Literatur veröffentlichte Stephen King 1993 im Rahmen einer Sammlung von zwölf seiner Kurzgeschichten unter dem bezeichnenden Titel „Nightmares and Dreamscapes“. Die Erzählung „Crouch End“ beginnt mit einem Gespräch zweier Polizeibeamter auf dem Revier des gleichnamigen Londoner Vororts. Der ältere Constable glaubt, dass der Stadtteil einer jener Orte ist, wo fremde Dimensionen in die diesseitige einbrechen können.[4] Über dieses Thema spricht er mit dem jüngeren, ungläubig wirkenden Beamten, weil sie erst vor wenigen Stunden eine völlig verwirrte Frau, Doris Freeman, verhört haben, die ihnen erzählte, sie habe ihren Mann während der Suche nach einer Adresse in Crouch End verloren. Was sie erlebt hat, erfährt der Leser in nur bruchstückhaften Schilderungen, die, obwohl sie von einem auktorialen Erzähler stammen, anmuten, als seien sie Eindrücke der hysterischen Frau selbst. Unterbrechungen durch die Gedankengänge des zweifelnden Constable und Rückblenden zum Verhör mit den Fragen des älteren Polizisten lassen den Leser in der Folge über den Wahrheitsgehalt der Geschichte der Frau stets in Zweifel - zumal Doris selbst betont, sich während der letzten Stunden einem Alptraum näher als einem Wachzustand gefühlt zu haben. Gegen diese Sicht sprechen allerdings die vielen Details, an die sie sich erinnert. Mit einem Taxi fuhren sie und ihr Mann nach Crouch End. In einer Telefonzelle schlagen die beiden die Anschrift eines Kollegen des Mannes nach, den sie besuchen möchten. Nachdem das Taxi plötzlich verschwunden ist, macht sich das Ehepaar zu Fuss auf den Weg und verirrt sich. Allmählich treten Vorzeichen des Unheimlichen auf, Doris gewahrt an verschiedenen Orten dieselbe einäugige graue Katze und Häuser, die in ständig wechselnden Lichtverhältnissen immer verlassener und älter wirken. Ein Schild, auf dem Doris zuvor ‚Crouch End Town’ las, verkündet nun ‚Crouch End Towen’ und Beschriftungen von Fabrikgebäuden tragen fremde Namen wie ‚Alhazred’ und ‚Cthulhu Kryon’.[5] Doris’ Mann verschwindet im Dunkel einer Unterführung, sie irrt alleine weiter - bis sich plötzlich der Boden auftut und tentakelartige Fangarme nach ihr greifen. Aus der Ohnmacht erwacht Doris, gemäss dem Titel der Erzählung, an einer Strassenecke kauernd. Weder über den Verbleib ihres Mannes noch über das, was ihr im Detail geschah, erhält man als Leser gänzlichen Aufschluss. Erzähltechniken, von denen die Spannung und das Unheimliche mehr abhängen als vom Inhalt der Geschichte, - die polyperspektivische Schilderung eines bereits vergangenen Geschehens, sprachlich wiederkehrende Zeichen des Unheimlichen, intertextuelle Verweise und Montagen sowie ein Ende, das etliche Fragen offen lässt - hat ein Autor rund zweihundert Jahre vor Stephen King zur Perfektion gebracht.
Im Fokus dieser Arbeit steht ein unheimlicher Erzählzyklus par excellence: Die im Frühjahr und Herbst 1817 in zwei Teilen bei Georg Andreas Reimers Realschulbuchhandlung in Berlin erschienenen „Nachtstücke“ von E. T. A. Hoffmann (1776-1822). Der Zyklus umfasst seine mittlerweile wohl berühmteste Erzählung „Der Sandmann“, nebst „Ignaz Denner“, „Die Jesuiterkirche in G.“, „Das Sanctus“ im ersten Teil und „Das öde Haus“, „Das Majorat“, „Das Gelübde“ und „Das steinerne Herz“ im zweiten.
Ihnen sollte ein paradoxes Wirkungsschicksal beschert sein. Auf der einen Seite hatte Hoffmann bereits zu Lebzeiten mit den Veröffentlichungen seines ersten Erzählzyklus „Fantasiestücke in Callots Manier“ (1814/15) und seinem ersten Roman „Die Elixiere des Teufels“ (1815/16) „Hochschätzung beim lesenden Publikum“[6] erreicht und wurde nur wenige Jahre nach seinem Tod in Frankreich zu einer Art ‚Begründer der modernen Fantastik’ erhoben. Hoffmanns Werke und seine Konzeption einer „Poesie des fantastique vraisemblable “[7], formten die Ausgestaltungen des Grotesken, Unheimlichen und Fantastischen in der Literatur der Moderne und nahmen nachweislich grossen Einfluss auf Honoré de Balzac und Charles Baudelaire in Frankreich, auf Edgar Allan Poe in Amerika sowie auf Nikolaj Gogol, Wladimir Fedorowitsch Odojewskij und Fedor Michailowitsch Dostojewskij in Russland.[8] Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei Hoffmanns Aufnahme in Deutschland. Bisher wurden gerade mal zwei zeitgenössische Rezensionen der „Nachtstücke“ aufgefunden, wovon nur eine positiv ausgefallen ist.[9] Zudem äusserten sich post mortem einige illustre Angehörige seiner eigenen Gilde diffamierend über seine Werke. Folgenreich war besonders die Kritik Walter Scotts, der damaligen „europäische[n] Autorität in litteris“.[10] 1827 publizierte er die Abhandlung „On the Supernatural in Fictious Composition; and particularly on the Works of Ernest Theodore William Hoffmann“, worin er zwar das „Nachtstück“ „Das Majorat“ lobend hervorhebt, allerdings nur als „rhetorisches Mittel [...] um den Sandmann desto schärfer abwerten zu können“. Die „Einfälle“ Hoffmanns in dieser Erzählung würden, so beschreibt es Kaiser mit Worten Scotts, „Vorstellungen“ ähneln, die ein „übertriebener Gebrauch des Opiums“ hervorrufe.“ Nur wenige Monate nach dieser Veröffentlichung übersetzte Goethe „einen längeren Auszug“ und verschärfte das Urteil Scotts mit Nachdruck; „die krankhaften Werke des leidenden Mannes“ Hoffmann seien zu meiden.[11] Diese und weitere negative Urteile bis böswillige Karikaturen in den Literaturgeschichten Gervinus’ (1842), Vilmars (1845) und Eichendorffs (1857) wirkten derart auf die Literaturwissenschaft nach, dass die Werke Hoffmanns bis in die 1970er Jahre hinein oft in die Trivialliteratur verwiesen und von der germanistischen Forschung ausgeschlossen wurden.[12]
Die Forschung bezüglich des Unheimlichen bei E. T. A. Hoffmann wurde stark von Sigmund Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ (1919) beeinflusst. Es ist mitunter sein Verdienst, dass dem „unerreichte[n] Meister des Unheimlichen in der Dichtung“[13] vermehrt Aufmerksamkeit zukam, mit seiner psychoanalytischen, jeglicher Grundlage im Erzähltext entbehrenden Interpretation des „Sandmanns“ drängte er jedoch spätere Untersuchungen zu tiefenpsychologischen Deutungsansätzen.[14] Mittlerweile hat sich die Situation deutlich verbessert. Da der unheimlichen und fantastischen Literatur seit den späten 1970er Jahren ein wissenschaftliches Interesse zukommt, das bis heute ungebrochen ist und in solchen Arbeiten Hoffmanns Erzählungen nicht fehlen, ist die Zahl der Aufsätze, mindestens zum „Sandmann“, kaum mehr überblickbar geworden. Trotzdem vermisst man gerade für die „Nachtstücke“ noch heute mit Ausnahme für „Das öde Haus“ detaillierte Einzelanalysen der übrigen Erzählungen sowie solche, die sich dem Zyklus als Ganzes widmen, was insofern überrascht, als dass die „Nachtstücke“ von hoher stilistischer und motivischer Einheit sind. Zudem überwiegen neben den psychoanalytischen Ansätzen diejenigen, die sich der Motivik, der Epochenproblematik und der Sozialkritik des Zyklus widmen und somit die Interpretation zu sehr vereindeutigen, was die Erzähltexte im Grunde verbieten. Erzähltechnische beziehungsweise sprachlich-stilistische Untersuchungen sind erst in jüngster Zeit und wiederum meist nur für den „Sandmann“ geleistet worden.
All diesen Tatsachen soll mit dieser Arbeit Rechnung getragen werden. Das Unheimliche wird für einmal als eines verstanden, das nicht nur in den Motiven und Themen, sondern vorwiegend in der hoffmannschen Poetik verankert ist. Von der Analyse soll keines der „Nachtstücke“ ausgeschlossen werden, die konsequente Einheit des Zyklus lässt sich an einer Untersuchung des Unheimlichen gleichsam en passant aufzeigen. Der Autor Hoffmann liefert selbst bezüglich des Fantastischen und Unheimlichen in seinen Erzählungen reiche poetologische Hinweise, meist in Form von Diskussionen fiktiver Freunde im Vorfeld oder Anschluss an eine Geschichte, welche sich weit aufschlussreicher als die Theorien über das literarische Fantastische anderer Autoren auf seine Erzähltexte anwenden lassen. Ausgehend von der Annahme, dass alleinig der Text einer Erzählung die schauerliche Wirkung übertragen und beim Leser entstehen lassen kann, soll darauf eine detaillierte textuelle Analyse, die jeweils bei den beiden von der Forschung am eklatantesten gemiedenen Novellen „Ignaz Denner“ und „Das Gelübde“ ansetzt, der Frage nachgehen, wo das Unheimliche im Erzähltext manifest wird, was genau uns denn in diesen Geschichten erschauern macht und welche sprachlichen Mittel der Zeit-, Figuren- und Raumgestaltung entscheidend dazu beitragen. Sicherlich trifft man dabei in allen „Nachtstücken“ auf grelle Schauerelemente. Sie drehen sich beständig um Wahnsinn, Selbstmord, Totschlag, Satanismus, Revenants, dunkle Schlösser, Automate[15], Trugbilder und geheimnisvolle, ‚magnetische’ Phänomene. Ihre wahrlich beängstigende Wirkung jedoch, das zeigt der dritte Teil der Arbeit, entsteht im Wesentlichen durch die genannten Erzähltechniken - die perspektivische, den Leser in extremer Nähe zu den Figuren haltende Erzählweise, ein stetes, über Beglaubigungsstrategien bewirktes In-die-Irre-Führen desselben, durch Brüche, die bei gleichzeitiger Verrätselung und Illusionsaufrechterhaltung, die Ironie, die Gemachtheit und die Inszenierung der Erzählung offen legen sowie durch stets vieldeutige Enden, wo Fragen ungeklärt bleiben und die über Staunen und Schrecken auch nach dem Schliessen des Buchdeckels verunsichern, jegliche Vereindeutigung verweigern und den Leser somit im Unheimlichen zurücklassen.
Die Erzähltexte der „Nachtstücke“ sind ein bewusst und berechnend inszeniertes Verwirrspiel, das über die Themen der Erzählungen, und, sich hierin bereits von der Romantik abhebend, stärker noch über die Sprache, in der es verfasst ist, laut wird und über das das Unheimliche, gleich einem Automat, eine Art Eigenleben erlangt, das gerade nur im Rahmen von Literatur und über besagte Erzähltechniken funktionieren kann. Hoffmann selbst ist gewissermassen Mechanicus, Automat-Fabrikant und gleicht den in unzähligen seiner Werke auftauchenden Charakteren, die für die Verführung der Protagonisten durch die von ihnen hergestellten Trugbilder und Maschinen-Menschen verantwortlich sind. Seinen Wunsch, selbst einmal ein Automat zu verfertigen, den Hoffmann seinem Tagebuch am 2.10.1803 einschreibt[16], wird er sich mit seinen literarischen Texten weit wirkungsvoller und langlebiger erfüllen, als es ein richtiges Automat je gewesen wäre.
2. Die unheimliche Erzähltechnik E. T. A. Hoffmanns
An affair with isolation in a blackheath cell,
Extinguishing the fires in my private hell,
Provoking the heartache to renew the licence
Of a bleeding heart poet in a fragile capsule
Propping up the crust of the glitter conscience
Wrapped in the christening shawl of a hangover,
Baptised in the tears from the real
- Fish
Der vieldeutig seine eigene Schaffensweise reflektierende Autor E. T. A. Hoffmann bietet einem bezüglich des Unheimlichen in seiner Dichtung reiche Anlaufstellen in den je einen Teil des Zyklus der „Nachtstücke“ eröffnenden Erzählungen „Der Sandmann“ und „Das öde Haus“. Dort ‚verlangt’ Hoffmann von seinen Lesern sich medias in res mit dem ‚Wunderlichen’ und dem ‚Wunderbaren’ auseinander zu setzen. In seiner Manier geschieht dies nicht über Aussagen, die ihm als Autor, zumindest nicht unvorbehalten, selbst zuzuschreiben sind, sondern in einem fiktiven Gespräch dreier Freunde, ähnlich derer in seinem weiteren Erzählzyklus „Die Serapionsbrüder“ (1819-21). In dieser Arbeit soll sich für einmal nicht über bestehende literaturtheoretische Ansätze zum Unheimlichen oder Fantastischen Hoffmanns Erzählungen genähert werden. Denn einerseits lässt sich der eigenwillige Schreiber kaum in einen theoretisch vereindeutigenden Rahmen zwängen und andererseits hat er selbst in den Rahmengesprächen der Erzählzyklen der „Nachtstücke“ und der „Serapionsbrüder“ soviel an aussagekräftigem, theoretischem und poetologischem Material verfasst, dass unbedingt von diesem ausgegangen werden sollte: Es gilt, dass Hoffmann in der Regel sich „selbst besser gelesen hat als ein Grossteil seiner späteren Exegeten.“[17]
Typisch für besagte Rahmengespräche ist, dass man als Leser an keiner Stelle, etwa von einem auktorialen Erzähler, eine festigende Beurteilung des Gesagten oder eine vereindeutigende Stellungnahme zu den Meinungen der fiktiven Charakteren erhält.[18] Vielmehr bewirken die teilweise gegenläufigen Aussagen bewusst eine Beschäftigung des Lesers mit den Diskursen der Beteiligten - gleichzeitig und in derselben Weise bewusst - jedoch auch ein Offenlassen des Themenkreises, weil Hoffmann, den idealen Leser im Blick, diesen einerseits für das Wunderliche und Wunderbare einstimmen und vorprägen, ihn andererseits verwirren und ihm die Brüchigkeit einer festgesetzten Wahrnehmung der Wirklichkeit aufzeigen möchte.[19]
Ohne auch nur die Namen oder die Situation der drei beisammen sitzenden Freunde Lelio, Franz und Theodor zu erfahren[20], heisst es gleich zu Beginn des Rahmengesprächs im „Öden Haus“:
„ Man war darüber einig, dass die wirklichen Erscheinungen im Leben oft viel wunderbarer sich gestalteten, als alles, was die regste Fantasie zu erfinden trachte. “ (159)[21]
Dieser „nicht zu vernachlässigende Grundstock des Erzählens“[22] enthält bereits diejenigen Begriffe und Konzepte, die das gesamte Werk Hoffmanns durchziehen und um die sich „Das öde Haus“ und „Der Sandmann“ mehr noch als alle anderen „Nachtstücke“ drehen: Wirklichkeit, Erfindung, Fantasie, Erscheinung, Gestaltung und das Wunderbare. Wichtig erscheint mir hier nicht ihre Deutung, die von der Forschung hinlänglich vorgenommen wurde.[23] Herauszustellen ist ihr unentwirrbares Nebeneinander, in dem sie jeweils im Text auftauchen. Von besonderer Eindringlichkeit geschieht dies im ersten Satz der ersten Leseranrede im „Sandmann“:
„ Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige ist, was sich mit meinem armen Freunde, dem jungen Studenten Nathanael zugetragen, und was ich Dir, günstiger Leser! zu erzählen unternommen. “ (21)
Das äusserst dichte Textgewebe um die Antinomie von Erfindung und Wirklichkeit muss ganz genau gelesen werden: Es stammt von einem scheinbar auktorialen, ‚allwissenden’ Erzähler, der durch seine freundschaftliche Bekanntschaft mit Nathanael und dem Wissen, was diesem tatsächlich geschehen ist, die Authentizität und Wahrhaftigkeit des Erzählten vorgibt, dieses aber gleichzeitig als seltsam, wunderlich und gar als erfunden bezeichnet - dass dies die Erzählung schliesslich ist, muss man im Hinterkopf behalten: Die Erfindung des, vielleicht mehr als jeder andere mit Herausgeberfiktion spielenden Autors E. T. A. Hoffmann. Dieser lasse in der zitierten Leseranrede, so Schmidt, „das Verhältnis des Wunderbaren/Wunderlichen seines Textes zur Wirklichkeit oder zur Phantasie bewusst in der Schwebe“.[24] Dieses In-der-Schwebe-Lassen hat für den Leser eine überaus verunsichernde Wirkung zur Folge:
„ Die Ambiguität des Erzählers gegenüber dem Realitätsgehalt seines Textes reflektiert und potenziert die Unsicherheit des Lesers gegenüber dem Realitätsgehalt von Nathanaels Weltsicht.“[25]
Der Leser beider Erzählungen wird demnach schon zu Beginn „geneigt gemacht, das Wunderbare in der Phantasie/Dichtung als eine nicht von vornherein zu verwerfende Aussage über die Wirklichkeit zu akzeptieren.“[26] Er bereitet sich darauf vor, dass es im Folgenden um die adäquate Wahrnehmung von Wirklichkeit, Fantasie und Wunderbarem geht, erwartet hierüber jedoch weitere Klärung.
Im Rahmengespräch zum „Öden Haus“ ergreift Lelio das Wort; mit seiner Äusserung über die Fadheit historischer Romane wird klar, dass die Freunde neben erkenntnistheoretischen Problemen auch poetologische diskutieren. Doch die Freunde werden zunehmend uneins und jeder der drei formuliert eine andere Sicht des Wunderbaren. Franz unterbricht Lelio, der argumentiert, dass dem Menschen die Erkenntnis in Geheimnisse seit dem Sündenfall abgehe, und beruft sich auf die „ Sehergabe, das Wunderbare zu schauen “ einiger weniger Menschen, die mit dem sechsten, vom „ Anatom Spalanzani “ entdeckten Sinn der Fledermäuse vergleichbar, „ viel mehr ausrichtet, als alle übrige Sinne zusammengenommen “.[27] Merkwürdigerweise wird die Rede durch einen Lacher Franzens („ „Ho ho“, rief Franz lachend “) unterbrochen, obwohl er ja gerade das Wort hatte. Möglicherweise ein Versehen Hoffmanns, lässt sich dies jedenfalls, worauf auch Kaiser hinweist[28], nicht mehr eindeutig korrigieren; die Unsicherheit darüber, welche von wem geäusserte Meinung nun für die Erzählung entscheidend ist, bleibt vorhanden - sofern die Textgestalt belassen wird. Der erwähnte sechste Sinn, so fährt Franz weiter fort, ermögliche es seinen Inhabern, er spricht unter anderem von „ Somnambulen “ (159), gleich das „ Exzentrische “ zu sehen, für das es im „ gewöhnlichen Leben keine Gleichung “ gäbe und es deshalb „ wunderbar “ genannt würde. Er kenne jemanden, dem diese Sehergabe besonders gegeben sei und charakterisiert diesen wie folgt:
„ Daher kommt es, dass er oft unbekannten Menschen, die irgend etwas Verwunderliches in Gang, Kleidung, Ton, Blick haben, tagelang nachläuft, dass er über eine Begebenheit, über eine Tat, leicht hin erzählt, keiner Beachtung wert und von niemanden beachtet, tiefsinnig wird, dass er antipodische Dinge zusammenstellt und Beziehungen heraus fantasiert, an die niemand denkt. “ (160)
Gemeint ist hiermit der letzte im Bunde, Theodor.[29] In seinem Charakterzug sieht Deterding den „ganze[n] poetische[n] Prozess des Grotesken“ Hoffmannscher Art, mit „Inhalt“, „Entstehung“ und „Erzählweise“.[30] Deshalb muss das ‚Herausfantasieren’ aus Alltäglichem durchaus mit der darin anklingenden Ironie gelesen werden, denn dahinter verbirgt sich eine zentrale Schaffensweise Hoffmanns, auf die man bereits in den „Fantasiestücken“, im einleitenden Essay „Jaques Callot“ trifft: Jaques Callot (1592-1635), auf dessen manieristische Produktion von Kunst sich Hoffmann, das eigene Verfahren rechtfertigend, beruft, nimmt seine Figuren „ aus dem Leben “ und verleiht ihnen eine „ lebensvolle Physiognomie ganz eigener Art “, sodass sie wie „ etwas fremdartig Bekanntes “ erscheinen.[31] So seien Callots monochrome Radierungen, seine „ aus den heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen “, letztlich „ nur Reflexe aller der fantastischen wunderlichen Erscheinungen, die der Zauber seiner überregen Fantasie hervorrief. “ (I,1,9). Nach Hillebrand, die sich mit Erzählstrategien der Verwirrung beschäftigt, lenke Hoffmann schon in jenem Essay „in einem geschickten Kunstgriff [...] das Interesse des Lesers auf das eigene, groteske Erzählen“ und formuliere hier sein „Programm der Komposition heterogener Teile zu einem Ganzen“. Dieses Programm sei „gerade dazu angetan [...] den „Blick zu verwirren“ [...] Gemeint ist der Blick des Lesers.“ Denn nirgends würde der Leser dieses ‚Ganze’ erkennen können, weil er „vom Erzähler durch ständige Sprünge zwischen verschiedenen Realitätsebenen derart genarrt [wird], dass eine Orientierung in einer paradox erscheinenden fiktiven Welt schwer fällt.“[32]
Dem Grotesken ist per definitionem etwas Heterogenes, Ambivalentes inhärent, denn der Begriff ging aus bildlichen Mischdarstellungen von Mensch und Tier hervor: „ Das Groteske ist vor allem Mischung, Amalgam, Heterogenität, Hybridität und oszilliert zwischen Lachen und Furcht, Leben und Tod, Überfluss und Kargheit, Üppigkeit und Dürre. “[33] Das Groteske weckt ein Lachen - aber jenes, das uns verunsichert, im Halse stecken bleiben will und dessen Reiz etwas Unheimliches, Dämonisches anhaftet.[34]
Das nächste Kapitel der Arbeit wird mit der Analyse des verwirrenden Einsatzes heterogener, zuweilen unvereinbarer sprachlicher Mittel in den „Nachtstücken“ aufzeigen, wie dem Leser wahrlich die Sinne beziehungsweise die Orientierung in der literarisch erzeugten Welt schwinden kann.
Im Rahmengespräch zum „Öden Haus“ steht somit (letztlich) ein Autor hinter den Figuren, der seine Schaffensweise in deren Munde ironisierend reflektiert und auf das ihr inhärente Unheimliche und Groteske hinweist, seine Identität aber nicht preisgibt und das eigene Erzählen irritierenderweise sogar kritisiert. Eine Technik, die in den „Serapionsbrüdern“ noch klarer als in den „Nachtstücken“ zu Tage tritt:
„ Es ist interessant, wie Hoffmann, indem er in den Gesprächen der Serapionsbrüder immer wieder seine eigenen Kritiker fingiert, die Fäden, die so schon sehr komplex sind, natürlich nur noch mehr verwirrt und diesen heterogenen Gebilden [gemeint sind die eigentlichen Geschichten, die sich die Serapionsbrüder schildern] noch einige heterogene Elemente hinzufügt, denn wie soll man ein Werk eindeutig auf eine Bedeutung, einen Sinn festlegen, wenn dessen Autor die kritischen Argumente immer schon mitliefert. Auf wessen Seite steht er? “[35]
So lautet die Frage Mombergers - sie bleibt unbeantwortet. Seine Arbeit zeigt an Hoffmanns Schreibweise und Sprache dessen ‚Sich-Wegschreiben’ von der Romantik und Hoffmanns Rolle als Wegbereiter der Moderne. Momberger beschäftigt sich deshalb zwangsläufig mit der Genese und dem Einsatz des Phantastischen und Unheimlichen. Er verfolgt die poetischen Mittel, die Hoffmann als Schreiber einsetzt, um die besagte unentscheidbare, in der Schwebe bleibende Ambivalenz seiner Texte zu erreichen.
Aufschlussreiche Informationen erhalte man dabei aus der an „Nussknacker und Mäusekönig“ anknüpfenden Diskussion der Serapionsbrüder. Theodor wirft dort ein, dass das von Lothar vorgetragene Märchen einer Fieberfantasie gleiche: „ dass dir ein tüchtiges Fieber zu Hülfe gekommen sein müsse “.[36] Lothar entgegnet, er würde „ wehmütig versichern, dass es dem armen Autor gar wenig helfe, wenn ihm wie im wirren Traum allerlei Fantastisches aufgehe, sondern dass dergleichen, ohne dass es der ordnende richtende Verstand wohl erwäge, durcharbeite, und den Faden zierlich und fest daraus erst spinne, ganz und gar nicht zu brauchen. Zu keinem andern Werk würd’ ich ferner sagen, gehöre mehr ein klares, ruhiges Gemüt, als zu einem solchen, das wie in regelloser spielender Willkür von allen Seiten ins Blaue hinausblitzend, doch einen festen Kern in sich tragen solle und müsse.“ (II,6,250)
Hier taucht „plötzlich der Verstandesmensch auf, der seine Mittel und Techniken rational prüft, um den gewünschten Effekt zu erzielen“. Hoffmann nehme damit bereits Gedanken Edgar Allan Poes zur Textproduktion, beispielsweise die „der rationalen Beherrschung der literarischen Mittel“ und - entgegen dem schöpferischen Genie der Romantik - den „quasi verweltlichten Autor als Textproduzenten“ vorweg, was für die Schreibweise und die Texte der Moderne so wichtig geworden sei.[37] Hoffmanns Texte bilden „kein kontinuierlich-harmonisches Ganzes“ mehr, sie „bestehen aus Blöcken, unterschiedlichen Textsorten und Schreibweisen, verschiedenen Erzählebenen, die auf komplexe Weise sich verbinden und kreuzen.“[38]
In den Erzähltexten, vornehmlich in den Märchen, unterscheidet Momberger dann „wenigstens vier Textebenen“: „ Zunächst die realistische Ebene, die der Geheimräte, der Konrektoren, kurz: der philisterhaften bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit; dem steht die mythische Ebene gegenüber, Atlantis, Urdarbrunnen, auf der der Archivarius Lindhorst der Salamander Phosphorus ist; davon zu unterscheiden ist die eigentlich phantastische Ebene des Erzählvorgangs, die sich im Schnittpunkt der beiden anderen findet und auf der das „durchaus Fantastische ins gewöhnliche Leben“ hineinspielt: sie ist die wichtigste Ebene der Texte, weil sie die der phantastischen Effekte ist, wo die Identitäten der beiden anderen sich auflösen; schliesslich findet sich noch die Ebene des Erzählvorgangs selbst, auf der der Akt des Schreibens als textueller Prozess thematisiert wird. “[39]
Entscheidend für die „Nachtstücke“ ist nun, dass, obwohl es sich nicht um Märchen handelt, sie sich trotzdem hier situieren lassen: Nebst der genannten Ebene des Erzählvorgangs mit dem Rahmengespräch beziehungsweise der Leseranrede, beginnen sie meist auf der realistischen Ebene, in der Residenzstadt ***n im „Öden Haus“ und in Nathanaels gutbürgerlichem Heimathaus der Stadt S. im „Sandmann“. Diese Ebene wechselt zwar im Verlauf der Geschehnisse nicht auf eine ganz und gar mythische, wird aber doch von ähnlich wunderbar anmutenden Elementen infiltriert: Einem wiedergängerischen (dem Ammenmärchen und seinem Namen nach auch mythisch konnotierten) Sandmann beziehungsweise Coppelius/Coppola und sich belebenden Abbildern des Lebendigen, das Automat Olimpia und das Gemälde Edwines/Emdondes. All das wird wiederum von der ‚prosaisch-bürgerlichen’ Perspektive verworfen, negiert und für unsinnig erklärt (Claras Brief und Siegmunds Meinung im „Sandmann“, die ernüchternden Kommentare Graf P.’s und Doktor K.’s im „Öden Haus“). Ist der Alltag von Fantastischem durchdrungen oder wird er selbst fantastisch? Kreuzung der Sinnebenen, kein Nebeneinander einer „Logik des ‚entweder-oder’“, sondern ein Ineinanderfliessen einer „Strategie des ‚sowohl - als auch’“, sorgt in einer rationalen „Verwendung der Phantastik“ dafür, dass „die ratio sich gegen sich selbst kehrt“.[40]
Zur selben Disjunktion gelangt Falkenberg, indem er die Rolle der Unsicherheit bei der Begegnung mit einem unheimlichen Phänomen betont. Das Auftreten von Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Unheimlichen hat vor Freud bereits Ernst Jentsch in seinem Aufsatz „Zur Psychologie des Unheimlichen“ (1906) festgestellt.[41] Nach Falkenberg lege Jentsch den Fokus auf die desorientierenden Aspekte des Unheimlichen; Auslöser des unheimlichen Gefühls sei eine „cognitive uncertainty“, eine Art instinktive Unsicherheit, weshalb das Unheimliche durchaus etwas Altbekanntes oder Vertrautes sein könne, im ersten Moment der Begegnung jedoch nicht als solches er kannt werde. Freud hingegen situiert das Unheimliche mehr in der Vergangenheit, dort wo die Verdrängung passiert. Nur geht das Unheimliche nicht immer auf ein Verdrängtes zurück und vor allem würde man im Moment des unheimlichen Gefühls nicht das Verdrängte aktualisieren. Wirksam sei erstmal die bedrohende Präsenz des Unheimlichen, die verunsichert und desorientiert.[42] Eine ähnliche Desorientierung und kognitive Unsicherheit seitens des Lesers manifestiere sich in den fiktionalen Realitäten romantischer Texte, die, strukturell ähnlich einer optischen Täuschung, der die logische Disjunktion eines ‚sowohl - als auch’ zu Grunde liegt, paradoxe Ambiguitäten generieren würden, die zu einem unheimlichen Leseerlebnis führen.[43] Ein solches Leseerlebnis ist von verunsichernder Ambivalenz geprägt und gleicht der Begegnung Nathanaels mit dem an sich ambivalenten, lebendigtoten Automat Olimpia.
Die Erzählstrategie der Verunsicherung hat bei Hoffmann konsequenterweise zur Folge, „ das durchaus Fantastische ins gewöhnliche hineinzuspielen und ernsthaften Leuten, Obergerichtsräthen, Archivarien und Studenten tolle Zauberkappen überzuwerfen, dass sie wie fabelhafte Spukgeister am hellen lichten Tage durch die lebhaftesten Strassen der bekanntesten Städte schleichen und man irre werden kann an jedem ehrlichen Nachbar “ (II,6,250), wie es der Serapionsbruder Cyprian im Anschluss an das Märchen „Nussknacker und Mäusekönig“ treffend zur Sprache bringt. Nach Momberger ist somit mindestens ein - wenn auch nicht einziges - klar formuliertes Ziel des Fantastischen „die Fiktionen des alltäglichen Lebenszusammenhangs zu zerreissen und neu zusammenzusetzen, so dass ihre Brüchigkeit, ihre Falschheit erkannt wird. Eine [...] Technik des Verfremdens und Verstörens“.[44]
Hierin unterscheide sich Hoffmann von einem Grossteil der fantastischer Literatur von „Tieck über Nerval bis zu Lovecraft“. In der fantastischen Literatur gehe es normalerweise darum, „etwas Unmögliches, Phantastisches, Unheimliches, Übersinnliches so darzustellen, dass der Leser wenigstens bis zu einem gewissen Punkt der Erzählung, bereit ist, dem unmöglichen Ereignis eine mögliche Existenz zuzugestehen.“ Hierfür bedürfe es der „Mittel realistischen Erzählens“, einer „fingierten Kausalität“, die die unmöglichen Welten möglich erscheinen lasse. Diese Schreibweise etabliere sich deshalb aber gerade auf der Ebene der Beziehung zwischen Zeichen und Referenz: „sie fingiert Referenz wo keine sein kann“.[45]
Hoffmanns Schreibweise hingegen gehe hierüber hinaus und würde „die Einheit des Zeichens selbst“ angreifen, „Signifikant und Signifikat“ auseinander reissen. Dies erreiche er einerseits mit der Technik der „Verschiebung“, mit der beispielsweise ein vorerst im realistischen Code begonnenes Diskurssystem plötzlich zum mythischen Code und wieder zurück verschoben wird.[46] Diese tritt somit häufiger in den Märchen auf. Andererseits setzte Hoffmann die Technik der „Verdichtung“ ein, welcher man auch in den „Nachtstücken“ begegnen kann. Bei diesem sprachlichen Mittel bestehe, ähnlich wie bei einer Metapher, aber mit gegenteiligem Effekt, eine „Ähnlichkeitsbeziehung [...] zwischen Signifikanten, die einander auf der Ebene des Signifikats nicht entsprechen“.[47] Ganz ähnlich fasst dies Pollet, der den Wort- und Bildsinn in den „Nachtstücken“ untersucht. „Die Vergegenständlichung eines übertragenen Sinnes durch seine Verwörtlichung“ sei „ein wesentliches Mittel der phantastischen Schreibweise“, welches denselben Effekt hat, wie ihn Momberger beschreibt: Die Verdichtung einer Metapher. Dazu müsse sich die Verwörtlichung „in das Gleiten der Rede in die Erzählung“ einschreiben, „die es dem Leser im Prinzip verbietet, sich seinerseits auf eine allegorische Interpretation zurückzuziehen.“[48] Mit nochmals anderen Worten umschreibt dies Werber: „ Die Lust am Unheimlichen basiert auf der permanenten Ambivalenz des Bezuges auf das „wörtlich“ oder „uneigentlich“ Gesagte der Erzählungen. “[49] Im Gegensatz zu Momberger und Werber führt Pollet jedoch auch den gegenteiligen Prozess an: „einen wörtlichen Gebrauch, der sich verflüchtigt oder ausser Kraft setzt - nennen wir das, mangels einer besseren Bezeichnung, „eine Entwirklichung“ (déréalisation).“[50] Das Spezielle an den hoffmannschen „Nachtstücken“ sei, „dass der Prozess der Verbuchstäblichung, der in Szene gesetzt wird, niemals eindeutig ist. Er öffnet eine unaufhebbare und sich vertiefende Bresche, einen Riss in die geschlossene Einheit des Sprachsystems.“[51]
Zum selben Resultat gelangt schliesslich auch Momberger: Der Sinn einer fantastischen Erzählung Hoffmanns ist immer schon von einer Differenz gezeichnet, die zu einer „irreduziblen Ambiguität des phantastischen Diskurses führt.“[52] Diese irreduzible Ambiguität könne soweit gehen, dass „jedes Ereignis, jede Person, jedes Zeichen“ sich verdoppelt, sich aufspaltet, einen Doppelgänger erhält und zuletzt „die angenommene Realität selbst als ein Imaginäres“ erscheint und gleichzeitig „die Normalität der bürgerlichen Welt [...] zur Phantasmagorie“ wird.[53]
An diesem Punkt hätte beispielsweise Freud mit seinem Aufsatz und dem ersten, die Etymologie von ‚unheimlich’ minitiös verfolgenden Teil ansetzen können. Nach der Wiedergabe von Wörterbucheinträgen zu ‚heimlich’ und ‚unheimlich’ kommt Freud zum Schluss: „ Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich. “[54] Mit dieser Ambivalenz hätte die bei E. T. A. Hoffmann oft auftretende, wechselseitige (!) Durchdringung des ‚Heimisch-Vertrauten’ mit dem ‚Unheimlich-Fremden’ und der damit zusammenhängenden Verunsicherung adäquater umschrieben werden können, statt wie Freud im zweiten Teil eine „Sandmann“-Analyse mit strikt psychoanalytischen Erklärungsmustern vorzunehmen.[55]
Allerdings dürfte unter diesen Voraussetzungen dann das Böse, so Köhn, nicht mit dem „Nur-Alltäglichen“ gleichgesetzt werden, „denn die entscheidende Folge der generellen Ambivalenz muss ja sein, dass Gut und Böse austauschbar werden und dieselben Phänomene verschiedene Bewertungen erfahren können“[56], was schliesslich zur Folge hat, dass man als Autor einerseits in einem Archivarius Gespenstisches erblicken können und die imaginative Kraft besitzen muss, diesem eine Zauberkappe überzustülpen sowie andererseits sich nicht davor scheuen darf, das Mythische eines allwissenden mächtigen Zauberers an die Gestalt eines Archivarius zu binden und diese auf alltäglichen Strassen umhergehen zu lassen - wie Hoffmann es meisterhaft in seinem mit ‚Märchen aus der neuen Zeit’ untertitelten „Goldenen Topf“ durchgeführt hat.
Selbst Franz Fühmann, der das Schauerliche bei Hoffmann hauptsächlich von dessen zeitgenössischen Lebenswirklichkeit, beispielsweise also von den für die damalige Bevölkerung tatsächlich beängstigend eintretenden Ereignisse der Kriegswirren um Napoleon, der beginnenden Arbeitsteilung und Spezialisierung, dem allmächtig gewordenen Geld, das sogar Grund und Boden käuflich werden liess und dem Bau erster Dampflokomotiven abhängig macht[57], anerkennt die besagte Ambivalenz in den hoffmannschen Erzählungen; hier am Beispiel von „Rath Krespel“, wo am Schluss unklar bleibt, ob der Tod Antonies durch ihr Singen verursacht wurde oder nicht:
„ Es ist schon alles in Ordnung, das heisst: unentschieden, und jedem bleibt die Wahl seiner Lesart frei; allerdings wird er durch sie auch festgelegt. Eben diese Unbestimmtheit, dieses Offensein mehrerer Möglichkeiten gehört zum Einzigartigen von Hoffmanns Kunst; es ist dies eine seiner Methoden, um die Gespenstischkeit eines Alltags zu fassen, der von mehreren Wertsystemen bestimmt ist, seine Mehrdeutigkeit, sein Doppelwesen, kurzum: seine Widersprüchlichkeit. Wir begegnen diesem Zug bei Hoffmann immer wieder [...].“[58]
In dieser Arbeit soll nicht über die ohnehin nicht mehr abzusteckende Tragweite des Einflusses der Lebensumstände auf den „von jeder patriotischen Exaltiertheit“ und „jeder dogmatischen Bindung“[59] freie Autor Hoffmann spekuliert, sondern festgehalten werden, dass seine fantastische und unheimliche Schreibweise ein bedrohliches Eigenleben entwickeln kann, das einem realen Automat, sei es nun ein redender Türke oder eine Dampfmaschine, gleicht, aber ‚nur’ im Rahmen von Literatur wirken und die besagten Widersprüche etablieren kann.[60]
Mayer ist eine weitere Autorin, die gegen vereindeutigende Interpretationen von Hoffmanns Werken einwendet, „dass die Verleugnung jeder Ambivalenz Hoffmanns eigenen theoretischen Überlegungen zum Thema des Unheimlichen direkt zuwiderläuft“.[61] Im Folgenden verweist sie auf eine weitere, im Bezug auf das Unheimliche wenig beachtete Stelle in den „Serapionsbrüdern“, die Diskussion von Cyprian, Lothar, Ottmar und Theodor im Anschluss an die kleine „Spukgeschichte“, die Cyprian erzählt hat. Ottmar gibt dort Folgendes zu bedenken:
„ Nun ist aber die Geschichte mit dem Teller so ohne alle Staffierung gewöhnlicher Spukgeschichten, selbst die Stunde allem spukischen Herkommen entgegen, und das Ganze so ungesucht, so einfach, dass gerade in der Wahrscheinlichkeit, die das Unwahrscheinlichste dadurch erhält, für mich das Grauenhafte liegt. “ (III,7,73)[62]
Tatsächlich verhält es sich mit Hoffmanns unheimlichen Erzählungen oftmals so, dass sie mit ihrer Entfaltung mitten in der Wirklichkeit, am helllichten Tag und mitten in gut situierter Bürgerlichkeit, also ganz ohne gewohnte schauergeschichtliche Elemente, in ihrer Nähe zum Wahrscheinlichen, das Unwahrscheinliche mal allmählich, mal plötzlich einfliesst und das Wahrscheinliche somit ins Erschreckende und Grauenhafte - und dieses wechselseitig wieder zurückgewendet wird: In den „Nachtstücken“ regiert nach Miller das Paradox, „das Überwirkliche“ ergebe sich „nur als eine punktuelle Verzerrung des Wirklichen“, als eine „fragmentarisch[e], unzusammenhängend[e] und schädlich[e]“. Diese durch die Erfahrung mit dem Fantastischen „verstreuten Bruchstücke“ füge Hoffmann hingegen im Märchen „zu einem geschlossenen System einer zweiten Wirklichkeit zusammen [...] und hebt so den Schrecken und die Verstörung auf, die in seinen anderen Erzählungen von der Phantasmagorie ausgehen.“[63]
Die vier Freunde seien nach der „Spukgeschichte“, so Mayer weiter, am Ende ihres Gesprächs darüber einig, dass „die unheimlichste Wirkung“ direkt dem „schlechthin Unerklärlichen“ entspringe. Denn das Unerklärliche provoziere gerade das „ Gefühl der gänzlichen hülflosesten Ohmacht “ (III,7,73), von dem Theodor spricht, weil es „die Brüchigkeit des Weltbildes durchscheinen lässt, das sich der Mensch zurechtbastelt.“[64]
In diesem Sinne ist das hoffmannsche Unheimliche nicht ein Einbrechen von Übernatürlichem in die Realität. Vielmehr ist es in der Realität latent anwesend und kann sich ‚allein’ mit einem Blick durch ein optisches Instrument, einem Betrachten eines Bildes oder einer Begegnung mit einer sich grotesk ausnehmenden Person offenbaren - die bisherige Sichtweise der Welt wird ver-rückt, die Perspektive eine fremde, bisher ungesehene, aber immer schon da gewesene; wird sie verschoben, fällt der vermeintlich mit beiden Füssen auf dem Boden stehende Mensch aus allen Wolken - hinein in Unsicherheit und Desorientierung. Mit der unglaublichen Nähe zu den Figuren, in die man sich als Leser Hoffmannscher Texte unweigerlich begeben muss, erleben wir diesen Prozess mit und stossen letztlich auf das Unheimliche in der Poetik, in Hoffmanns Sprache und Stil, die dafür sorgen, dass wir den Buchdeckel mit einem Gefühl der tatsächlichen Verstörung schliessen - oder vielleicht gar nicht schliessen können - weil man ahnt, dass das Grauen nicht mehr zurück in die Seiten gebannt werden kann.
Soviel zu den Techniken, die Hoffmann bezüglich der Ebenen des Erzählten anwendet. Zu der unauflösbaren, verstörenden Ambiguität der Texte und der Leserverunsicherung trägt, wie oben mit Momberger angedeutet, die Ebene des Erzählvorgangs, also diejenige auf der der Schreibakt selbst thematisiert wird, entscheidend bei. Besonders ist dies am Erzähler des „Sandmanns“ ersichtlich, der sich nach der Wiedergabe der zwei Briefe Nathanaels und des einen von Clara in den Text einschaltet und vorgibt, ein Freund Nathanaels zu sein. Von der Geschichte habe er durch die drei Briefe erfahren, „ welche Freund Lothar [ihm] gütigst mitteilte “ (23). Der Erzähler ist also zusätzlich noch ein Freund Lothars, dieser muss die Briefe aufbewahrt und sie ihm übergeben haben. Im Weiteren berichtet der Erzähler ‚ganz pragmatisch’ von den Schwierigkeiten, die sich ihm am Beginn des Schreibprozesses gestellt haben:
„ So trieb es mich denn gar gewaltig, von Nathanaels verhängnisvollem Leben zu Dir zu sprechen. Das Wunderbare, Seltsame davon erfüllte meine ganze Seele, aber eben deshalb und weil ich Dich, o mein Leser! gleich geneigt machen musste, Wunderliches zu ertragen, welches nichts Geringes ist, quälte ich mich ab, Nathanaels Geschichte, bedeutend - originell, ergreifend, anzufangen: „Es war einmal“ - der schönste Anfang jeder Erzählung, zu nüchtern! - „In der Provinzial-Stadt S. lebte“ - etwas besser, wenigstens ausholend zum Climax. - Oder gleich medias in res: „‚Scher’ Er sich zum Teufel’, rief, Wut und Entsetzen im wilden Blick, der Student Nathanael, als der Wetterglashändler Giuseppe Coppola“ - Das hatte ich in der Tat schon aufgeschrieben [...] Mir kam keine Rede in den Sinn, die nur im mindesten etwas von dem Farbenglanz des innern Bildes abzuspiegeln schien. Ich beschloss gar nicht anzufangen. “ (22f.)
Dies zeigt einerseits das genannte Bewusstsein eines Autors über seine erzählerischen Mittel, die er einsetzt und andererseits, dass „ein Grossteil der gesamten Erzählung nämlich [...] nicht in die Zuständigkeit des Erzählers“ fällt. Fast die Hälfte des Erzähltextes geht ihm in den Briefen voraus und überschreitet seine Perspektive. Folglich wird dem „bereits Erzählten im Nachhinein ein anderer Status zugewiesen“ und kann „nicht mehr als unmittelbare und authentische Darstellung“ gelesen werden, „sondern erweist sich als immer schon über den Erzähler vermittelte Fiktion“.[65]
Dies ist ja auch bei der Erzählung Theodors vom öden Haus der Fall, diese ist genau genommen eine schon niedergeschriebene, als Stütze für das Erzählen nimmt er sein Notizbuch hervor. Der Autor Hoffmann distanziert sich vom eigenen Text, in dem er ihn in den Mund einer fiktiven Figur legt, die selbst schon Distanz zum Erlebten über eine Verschriftlichung gewonnen hat.
Der Erzähler des „Sandmanns“ spricht davon, er wolle den ‚Farbenglanz’ des ‚inneren Bildes’ ‚abspiegeln’. Momberger merkt hierzu treffend an: „der Erzähler kann sein inneres Bild nur gewonnen haben aus der Lektüre der Briefe: es verweist so auf zwei andere Bilder, die ihrerseits auch nicht als Original angesehen werden können“[66], da die Briefe verschriftetes Abbild der inneren Bilder der fiktiven Figuren Nathanael und Clara sind. Diese Urbilder seien, so Momberger, aber „nicht mehr revozierbar“. Der Erzähler im „Sandmann“ spricht explizit davon, dass er über ein solches Original nicht verfügt:
„ Vielleicht gelingt es mir, manche Gestalt, wie ein guter Portraitmaler, so aufzufassen, dass Du es ähnlich findest, ohne das Original zu kennen [...].“ (23)
Dies bedeutet nun nichts anderes, als „Mimesis ohne Original, Mimesis der Mimesis“. Und so gibt der Erzähler selbst zu, „dass seiner Erzählung der Status eines Simulacrums zukomme.“[67] Der Begriff des Simulacrums wird in Mombergers Arbeit zur Wesensart von Hoffmanns Poetik: „ Das Simulacrum etabliert sich im Bereich der Ähnlichkeit, darin besteht seine subversive Macht, denn es ist zunächst von der Kopie, dem Ebenbild, nicht zu unterscheiden: seine Kraft beruht auf der Täuschung, dass es sich als Ebenbild auszugeben vermag. “ Seine Täuschung liegt gerade hierin, denn letztlich hat ein Simulacrum nicht den Status eines Ebenbildes, hinter dem sich die Idee, das Original offenbart. „Das Simulacrum ist somit eine Kopie der Kopie, Nachahmung einer Nachahmung [...] Repräsentation zweiter Ordnung“, es beruht „auf einem blossen Effekt [...] ist Konstrukt, Produkt eines Maschinisten“.[68]
Dass Hoffmann selbst ein solcher ist, sollte mitunter in diesem Kapitel deutlich geworden sein. Mit den Einblicken in das Räderwerk der eigenen Poetik gelingt es ihm, ein ausserordentlich verstörendes und meisterhaftes Wechselspiel zwischen ständigem Aufrechterhalten und Durchbrechen der Illusion zu inszenieren, das thematisch oft über optische Täuschungen, Trugbilder und Automate, Simulacren, erzählstrategisch mit einem Textkonstrukt, das selbst einem Automat gleicht, hervorgerufen wird. Was sich in Hoffmann ankündige sei „eine Poetik des Simulacrums, eine Poetik der Bilderwelt, der Phantasmagorie, wie sie dann für die Moderne konstitutiv wird.“[69] So klar wie Momberger hat dies meines Wissens nur Pollet erkannt: „ Am Ende [...] erweisen sich die „Nachtstücke“ als Begründung der „modernen“ Phantastik in dem Sinne, dass uns zum ersten Mal in der Kunst des Angstmachens, Trug- und Wahnbilder wörtlich vorgeführt werden. “[70]
Diese Aspekte zeichnen sich einmal mehr in der Ansicht des „Sandmann“-Erzählers ab, der glaubt, dass er „ das wirkliche Leben [...] nur in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne. “ (23) Denn was liefert ein matt geschliffener Spiegel anderes als ein Trugbild, ein verzerrtes, verschwommenes, täuschendes und mehr noch, nach der Natur eines Spiegels, ein verkehrtes Abbild der Dinge? Der Erzähltext ist demnach möglicherweise nur eine täuschende, verkehrte Sicht von dem, was sich in Wirklichkeit abgespielt hat.
Muss man einem solchen Autor nicht ‚misstrauen’, muss er einem nicht ‚unheimlich’ erscheinen und einen mit solchen Aussagen verwirren und verunsichern? Es spricht einiges dafür, um zum Rahmengespräch des „Öden Hauses“ zurückzukehren. Kaum hat man dort die oben zitierte Charakterisierung Theodors gedanklich zu fassen versucht, erkennt Lelio Letzteren in der Schilderung vom ‚Herausfantasieren aus Alltäglichem’ wieder und erwähnt von ihm, dass er wohl „ was ganz Besonderes im Kopfe zu haben scheint “, weil er „ mit solch seltsamen Blicken in das Blaue herausschaut “ (wer aber ins Blaue hinausblickt, hat, der Redewendung nach, gerade nichts Bestimmtes im Sinn!). Der nun erst das Wort ergreifende Theodor bestätigt trotzdem, seine Blicke seien „ der Reflex des wahrhaft Seltsamen “, das er „ im Geiste “ geschaut habe - eine Wendung, die stark an die Formulierung Hoffmanns zur künstlerischen Fantasie Callots erinnert. Es handle sich um eine „ Erinnerung “ an ein erlebtes „ Abenteuer “, doch bevor er der Aufforderung der beiden Freunde, er solle erzählen, nachkommt, kritisiert Theodor deren Sichtweise des Wunderbaren. Besonders Lelio[71] habe sich mit den Beispielen, die seine Sehergabe hätten darstellen sollen, vertan und das Wunderliche mit dem Wunderbaren verwechselt:
„ Aus Eberhards Synonymik musst du wissen, dass wunderlich alle Äusserungen der Erkenntnis und des Begehrens genannt werden, die sich durch keinen vernünftigen Grund rechtfertigen lassen, wunderbar aber dasjenige heisst, was man für unmöglich, für unbegreiflich hält, was die bekannten Kräfte der Natur zu übersteigen, oder wie ich hinzufüge, ihrem gewöhnlichen Gange entgegen zu sein scheint. [...] Aber gewiss ist es, dass das anscheinend Wunderliche aus dem Wunderbaren sprosst, und dass wir nur oft den wunderbaren Stamm nicht sehen, aus dem die wunderlichen Zweige mit Blättern und Blüten hervorsprossen. “ (160f.)
Präzise betrachtet ist dies aber nicht die Ansicht der Figur Theodor, denn Hoffmann betreibt zuweilen ein Spiel mit Zitaten, manchmal auch ohne die Quelle so klar anzugeben. Die Unterscheidung von wunderlich und wunderbar ist fast wörtlich Johann August Eberhards „Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik in einem kritisch-philosophischen Wörterbuche der sinnverwandten Wörter der hochdeutschen Mundart“ (1795-1802) entnommen.[72] Immerhin macht diese Äusserung Theodors die schon im ersten Satz des Rahmengesprächs anklingende, adäquate Sichtweise des Wunderbaren nochmals deutlicher. Wunderlich ist ‚nur’ die Oberfläche, beispielsweise also eine seltsame Kleidung oder ein skurriles Gebaren eines Menschen, das oft etwas Wunderbares, möglicherweise etwas Unbegreifliches verbirgt, das man nicht wahrhaben will oder kann. Beide Erscheinungsweisen kämen, so Theodor weiter, in seinem erlebten Abenteuer zum Tragen:
„ In dem Abenteuer, das ich euch mitteilen will, mischt sich beides, das Wunderliche und Wunderbare, auf, wie mich dünkt, recht schauerliche Weise. “ (161)
Über diese Mischung erhalten wir an dieser Stelle keinen Aufschluss, vielmehr kann der informierte Hoffmann-Leser eine latente ‚Warnung’ erkennen: Die heterogene Mischung aus Wunderlichem und Wunderbarem wird kaum mehr ihre Elemente freigeben, bleibt diffundierendes Ineinanderfliessen polarer Bestandteile und entzieht sich somit der Analyse. Eine Mischform jedenfalls ist auch Theodors nachfolgende Ich-Erzählung, denn er nimmt „ sein Taschenbuch hervor “, in dem „ allerlei Notizen von seiner Reise “ (161) eingetragen sind und blickt, während dem Erzählen, dann und wann wieder in dieses Buch; die Ich-Erzählung wird medial demnach sowohl schriftlich als auch mündlich mitgeteilt:
„ Die Handlung geht aus der fiktiv-autobiographischen Schrift eines Ich-Erzählers hervor, der rückblickend über eine Sommerreise berichtet. Es wird ein mündliches Erzählen inszeniert, das konsequent auf den Akt des Schreibens bezogen bleibt und das Geheimnis der poetischen Verdichtung [die Mischung aus Wunderlichem und Wunderbaren] als Ausgangspunkt der Geschehnisse wählt. “[73]
Nach der noch genauer zu erläuternden Schilderung des ersten Erblickens des öden Hauses unterbricht Theodor seinen Bericht. Bei jedem Vorbeigehen hätte er sich „ in ganz verwunderliche Gedanken nicht sowohl vertiefen, als verstricken “ (162) müssen. Er wendet sich an die Zuhörer - ob nur an die beiden Anwesenden scheint aufgrund des Wortes ‚alle’ etwas fragwürdig. Spricht uns Theodor hier gar als mitbeteiligte Leser an?
„ Ihr wisst es ja alle, ihr wackern Kumpane meines fröhlichen Jugendlebens, ihr wisst es ja alle, wie ich mich von jeher als Geisterseher gebärdete und wie mir nur einer wunderbaren Welt seltsame Erscheinungen ins Leben treten wollten, die ihr mit derbem Verstande wegzuleugnen wusstet! [...] gern zugestehen darf ich ja, dass ich oft mich selbst recht arg mystifiziert
habe, und dass mit dem öden Hause sich dasselbe ereignen zu wollen schien, aber - am Ende kommt die Moral, die euch zu Boden schlägt, horcht nur auf! - Zur Sache! - “ (162f.)[74]
Abgesehen von der spannungserzeugenden und, da die vorgefasste Sichtweise des Wunderbaren sich, Theodor deutet es an, im Folgenden nicht bestätigen muss, verunsichernden Aussicht auf ein unerwartetes Ende der Erzählung, irritiert zusätzlich die Selbstironie des Ich-Erzählers. Wird er nun die Phänomene des Wunderlichen und Wunderbaren in richtiger, differenzierter Weise sehen oder in der ‚Verstrickung’ verbleiben? Gebannt, wie Theodor vom öden Haus, liest man weiter...
„Nun, die Zuhörer würden schon merken. Und natürlich auch der Leser, lässt sich hinzufügen“, fasst dies treffend Deterding, der angesichts der erneuten Reflexion Theodors über das Wunderbare, dieses mit dem Schrecken in Verbindung bringt: „ Das Wunderbare „tritt ins Leben“. Im Wunderlichen erscheint es, und im Entdecken des Wunderlichen - im genauen Sinn des Wortes „entdecken“ - wird es erkannt. Die Erkenntnis hat in der unheimlichen Erzählung [Hoffmanns] den Charakter des Erschreckens und der Furcht [...].“[75] Wichtig ist, dass sich Furcht und Erschrecken mittels der Verunsicherung einer ironisierenden und polyperspektivischen wie polyvalenten Erzählweise auf den Leser übertragen können.
Im „Bereich des Dämonischen“, beispielsweise also im „Öden Haus“, ginge es, so Deterding, um eine ‚existenzielle Gefährdung’: „ Der ‚Gezeichnete’, der sich dem Wunderbaren öffnet, stürzt über der Entdeckung zunächst des Wunderlichen in ein Verderben hinein, dessen Grauen für den Betroffenen - und damit für den Leser - auch in der unausweichlichen Mechanik besteht, mit der es sich vollzieht. “[76] Existenziell wird die Krise zwar für Theodor mit den Krankheitsanfällen, die sie nach sich zieht, hauptsächlich aber, leidet er an einer Krise seiner Sehweise. Dies kann in einer Arbeit über Hoffmann nie genug betont werden und wurde, wie Segebrecht bedauert, „in der Forschung noch längst nicht hinreichend dargelegt“: „in welchem Masse...das Ringen um die richtige Form des Erkennens der Wirklichkeit von Ich und Welt ein beherrschendes Thema der Dichtungen E. T. A. Hoffmanns ist“.[77] So wird im „Öden Haus“ - und in unzähligen anderen Erzählungen - der Glaube „an die Unerschütterbarkeit von verstandesgeleiteter Wahrnehmung“[78] ständig relativiert. Mit anderen Worten:
„ Hoffmann geht es nicht um die Repräsentation einer andern, höheren Welt, sondern darum, diese Welt als eine andere zu sehen, als „etwas fremdartig Bekanntes“ [Man denke erneut an „Jaques Callot“!]. Das Phantastische ist immer schon Bestandteil dieser Welt, es bedarf nur einer Verschiebung der Perspektive, um die Grundlage der geschlossenen Ordnung zu erschüttern. “[79]
Theodors Blick ist es, der einer Krankheit unterliegt: „ als lähme eine Art Starrsucht [...] nur meinen Blick “ (173). Wie er wörtlich ausführt, verstrickt er sich in eine möglicherweise verhängnisvolle und übersteigerte Sichtweise der geschauten „ wunderliche [n] Erscheinung “ (162) des öden Hauses und dem beherbergten Zauberbild des Mädchens. Oder wird das in Aussicht gestellte überraschende Ende seiner Erzählung gar bestätigen, dass er keiner falschen Wahrnehmung unterlag und sich das Wunderbare tatsächlich ereignete? Die Protagonisten der „Nachtstücke“ trauen oft ihren Augen nicht, können nicht glauben was sie sehen - im Zuge ihrer Wahrnehmungskrisen beginnen wir als Leser dem Text zu misstrauen, sehen ihn ähnlich einem flimmernden Trugbild, das vorgibt mal von diesem, mal von jenem Urheber zu sein, die Identitäten der Figuren nicht preisgibt und wörtlich Wiederkehrendes in völlig andere Zusammenhänge und Erzählebenen stellt. Was bleibt ist eine irreduzible Unsicherheit, ein Erzähltext, der uns durchaus fantastische Inhalte vorführt, aber wesentlich von einer fantastischen, unheimlichen Schreibweise durchzogen ist, auf deren Ebene die ‚Mechanik des Grauens’ viel eher anzusiedeln ist als auf der thematischen. Es ist die Schreibweise Hoffmanns, die uns nicht entscheiden lässt zwischen ‚Zauberkappen’ und ‚Gerichtsräthen’, eine Schreibweise, die immer Illusion und Realität zugleich vorspiegelt und immer ambig ist. Allein aus diesen Gründen kann Heimisches unheimlich, Alltägliches gespenstisch und scheinbar Harmloses bedrohlich werden: Nicht weil es an sich gespenstisch ist, sondern weil der konstruierende, verzerrende Blick der Figuren, ihre Wahrnehmung der Welt (möglicherweise auch diejenige Hoffmanns) sich das Gespenstische denken, sich vorstellen, die Perspektive ver-rücken kann:
„ Der versponnen vor sich hin murrende Sonderling auf einer Bank an der Berliner Heerstrasse und ein füchsisch dreinschauender, altmodisch gekleideter Handwerksmann in einem Gasthaus, eine düster aufragende Hausfassade oder eine vermauerte Tür, ein missgestalteter Türklopfer, eine Punschbowle, ein blosser graphischer Schnörkel können hinreichen, um der geschärften Aufmerksamkeit die Sehgewohnheiten als brüchig und das geschäftige Strassentreiben bei hellichtem Tag als bedrohlichen Mummenschanz erscheinen zu lassen.“[80]
Zusammenfassend lässt sich zum Rahmengespräch der Erzählung „Das öde Haus“ bestätigen, dass sich ein Schlüsselbegriff im Wunderlichen und Wunderbaren und deren sich nicht trivial ausnehmenden Wahrnehmung finden lässt. Für Deterding ist der Begriff des Wunderbaren ein für Hoffmanns Gesamtwerk überaus wichtiges Konstitutivum: Das Wunderbare sei „in den Erzählungen, Romanen und Novellen Hoffmanns [...] ein Unerklärliches, das die Hülle des Wunderlichen unvermittelt durchstösst und präsent ist, häufig mit der Tendenz zum Unheimlichen. Es ist ein hereinbrechendes Ereignis, das zum Dämonischen öffnet - oder umgekehrt zum Komischen, manchmal beides zugleich: zum Grotesken.“[81]
Als Schlüsselwort und Evokation des Unheimlichen wertet in ganz ähnlicher Weise Hillebrand die Bedeutung des Wunderbaren: „Wunderbar ist gleichsam das magische Wort, das die Bizzarerien des Erzählens zu rechtfertigen scheint. “[82] Zu diesen ‚Bizzarerien’ zählt sie, wie die drei Freunde im poetologischen Gespräch, eine Mischung von Realität und Irrealität sowie eine Reihe weiterer Phänomene, um die sich insbesondere der Themenkreis der „Nachtstücke“ bildet:
„ In der Konfrontation empirisch erfahrbarer Realität und der Gegenwirklichkeit aus Traum, Vision, Wahn, Somnambulismus, also jenem, das in den Bereich der „unerforschlichen Geheimnisse“ fällt, liegt das eigentliche Interesse des Erzählens. “[83]
Solche Erzählelemente - „Traum, Wachtraum, Hypnose, Wahnsinn oder durch Punschgenuss „verschobene“ Denkweise“ - erwähnt auch Vitt-Maucher in ihrem Aufsatz über narrative Medien bei Hoffmann und anderen Autoren. Sie gelangt dabei zu einem entscheidenden, in andern sich mit diesen Elementen auseinander setzenden Forschungsansätzen fehlenden Resultat, denn die genannten „alternativen Zustände der menschlichen Vernunft“ würden eben „nicht nur als Themen vieler Erzählungen“ verwendet:
„ Vielmehr nutzt Hoffmann häufig seine Kenntnis dieser Zustände zu praktisch poetologischen Zwecken: Sie bestimmen, als Perspektive des Narrators selber, die Sehweise, den Diskurs, ja sogar die Aussage des Werks. “[84]
Verwendet ein Autor oder eine seiner erzählenden Figuren tatsächlich eine träumerische, somnambule, visionäre bis wahnhafte Perspektive (im wahrsten Sinne des Wortes also ‚Sichtweise’) seines eigenen Erzählens und Erlebens, hat dies unweigerlich Phantasmagorien zur Folge, denn was liefern Visionen, Träume und Wahnsinn anderes als Trugbilder, Täuschungen, Verzerrungen der Wirklichkeit, Simulacren? Dadurch entstehen Geschichten, die unheimliche und gespenstische Ereignisse, groteske Verzerrungen der Wirklichkeit thematisieren und in ihnen eine unheimliche Erzähltechnik, die das Textkonstrukt zum unheimlichen Gebilde werden lässt, das dieselbe Verunsicherung über die Lebendigkeit beziehungsweise den Wahrheitsgehalt schafft wie sie beim Betrachten eines Automats, einer optischen Täuschung oder eines Trugbildes entstehen kann. Obwohl der hoffmannsche Erzähltext Einblick in seinen Bau gewährt, liefern die erzählstrategischen polyperspektivischen und sprachlich verdichtenden Mittel keine Wertungen, keine Vereindeutigungen über die Wahrnehmung der Wirklichkeit, von Traum, von Belebtem oder Unbelebtem und Identischem oder Nicht-Identischem.
3. Die textuelle Manifestation des Unheimlichen in den „Nachtstücken“
Tell me why the ghosts always frighten me
Back to the caves of my childhood I ever run
But still I'm freezing
Wake me up in the evening
When landscapes are covered with a dark blue film
Wake me up in the evening
When noises scream and shivers rise
Moving little nightmares
Rumours of shivering cries
And a minor road swirling and creeping towards its slow end!
- Markus B.
Die „Nachtstücke“ - dieses hoffmanneske[85] Diorama des Schreckens menschlicher Abgründe, des Mordes, des Wahnsinns, krankender Künstler, der Fantasten, spukender Schlossgespenster und anderer Teufeleien bei gleichzeitiger ironisch-burlesker Durchbrechung derselben - bilden ein Faszinosum, das manch heutige Horrorerzählung noch immer in den Schatten stellen kann.
Im Gegensatz zu den anderen beiden Erzählzyklen Hoffmanns, den „Fantasiestücken“ und den „Serapionsbrüdern“, sind die „Nachtstücke“ keine neu editierte Kollektion bereits publizierter Erzählungen, sondern zugleich „im Verband unter dem endgültigen Titel veröffentlicht worden.“[86] Es ist deshalb notwendig, „das einzelne Werk auch als Teil jenes dichten Textgewebes zu verstehen, als das die „Nachtstücke“ von Anfang an geplant waren.“[87] Dieses Textgewebe zeigt sich bereits an der Platzierung der acht einzelnen Erzählungen im Zyklus - so eröffnen die beiden, sich nicht nur durch die Motivik des Optischen sehr nahe stehenden, ‚ hors d’œuvres ’ „Der Sandmann“ und „Das öde Haus“ den ersten beziehungsweise zweiten Teil. Wie im vorhergehenden Kapitel erläutert, sind sie zudem Ort der ausführlichsten poetologischen Hinweise und Gespräche in den „Nachtstücken“. Am Schluss der beiden Teile stehen die - trotz der vergleichsweise heiteren und helleren Erzähltöne nicht weniger nächtlichen - ironischen Brechungen „Das Sanctus“ und „Das steinerne Herz“ und ergeben so allein auf Ebene der Anordnung der einzelnen Stücke den für ein Nachtstück charakteristischen Hell-Dunkel Kontrast. Bei genauerem Hinsehen enden sogar diese beiden ‚helleren’ „Nachtstücke“ nicht in einem überschwänglichen, ironiefreien Frohsinn und lassen Vieles unerklärt und rätselhaft.[88] Dazwischen weben, mit ihrer Motivik und Sprache wohl in den Zyklus eingebetteten Stücke „Ignaz Denner“, „Die Jesuiterkirche in G.“, „Das Majorat“ und „Das Gelübde“ das Nächtliche und Unheimliche facettenreich weiter.
Bezüglich des Übertitels „Nachtstücke“ sind verschiedentlich Assoziationen getätigt worden, die meisten, sich mit dem Erzählzyklus auseinander setzenden Autoren verweisen auf die Malerei, die den Begriff erstmals hervorbrachte. Das Wort ‚Stücke’ bedeute dabei „soviel wie ‚Gemälde’. Ein Nachtstück ist ein Bild, das Figuren, Gegenstände oder Landschaften in nächtlicher oder künstlicher Beleuchtung zeigt.“[89] Mit anderen Worten erhält die Gattung, die im Barock ihren Höhepunkt erlebte, ihren stilistischen Charakter durch einen betonten „Hell-Dunkel-Kontrast, wobei das Licht sakralen, künstlichen oder nächtlich-natürlichen Ursprungs“ sein kann.[90] „ Meister dieses Genres waren Rembrandt [...] Pieter Breughel der Jüngere (sog. ‚Höllenbreughel’), Gerard van Honthorst und vor allem Antonio Correggio. “[91] Dieser wird gar in der „Jesuiterkirche in G.“ erwähnt (121).[92] Auf die bedeutungstragende Umsetzung rembrandtscher Raumdarstellung in den „Nachtstücken“ wird in einem Abschnitt dieses Kapitels eingegangen. Ein weiteres Assoziationsfeld zum Begriff ergibt sich über den ‚Import’ aus der englischen graveyard poetry, wo Titel wie Thomas Parnells „Night-Piece on Death“ (1722) oder Edward Youngs „Night Thoughts“ (1742-45)[93] „polemisch auf die aufklärerische Lichtmetaphorik“ bezogen waren und die „romantische Aufwertung der Nacht“ aufzeigten, wie sie auch an Überschriften deutscher Werke erkenntlich war: Novalis’ „Hymnen an die Nacht“ (1799), Bonaventuras „Nachtwachen“ (1804) oder Gotthilf Heinrich Schuberts „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ (1808) und „Die Symbolik des Traumes“ (1814).[94]
Der genannte Hell-Dunkel-Kontrast beruht bei E. T. A. Hoffmann jedoch nicht auf „einer starren Entgegensetzung von Romantik und Aufklärung“. Er setzt „das Licht des verstandesgeleiteten sittlichen Lebens ins Verhältnis zu jenen Kräften [...], aus denen es sich immer auch speist, an denen es seine Grenze findet und denen es in unablässiger Anstrengung abgewonnen werden muss.“ Somit wird jede einseitige Vertiefung, sei es die Ratio oder die Nachtseiten der Psyche, kritisiert.[95]
Besonders angesprochen habe Hoffmann in Bezug auf die Malerei der „Kontrast“, der „anstelle einer wohlabgewogenen harmonischen Schönheit das Verzerrte und Entstellte zur Darstellung bringt“.[96] Das Verzerrende und Entstellende, sowie das Heterogene, Kontrastive, das, wie im ersten Kapitel bereits aufgezeigt, der Schreibweise Hoffmanns ohnehin immanent ist, findet über den Titel des Erzählzyklus und das darin angewendete poetische Verfahren, Eigenarten einer ursprünglich malerischen Gattung in die Dichtung zu übertragen, eine weitere Rechtfertigung.
Auf jeden Fall lässt sich darauf schliessen, dass „Hoffmann [...] den Titel Nachtstücke mit grossen [sic] Bedacht gewählt“ hat, denn die „Nacht als Handlungszeit mit entsprechender Beleuchtung beziehungsweise Farbe - verbindet sich mit einer figürlichen - metaphorischen oder metonymischen - Schicht des Bedeutens.“[97] Somit hat der Titel „Nachtstücke“ „vor allem eine integrative Funktion“ und „verhilft den Erzählungen zu einer thematischen und stilistischen Einheit“.[98]
Da das Unheimliche oft mit denselben lexikalischen Zeichen im Text der „Nachtstücke“ auftritt, kann in Bezug auf diese Bedeutungsschichten und der stilistischen Einheit auch von semiotischen Systemen die Rede sein. So sind beispielsweise die Abschnitte im Folgenden nach solchen semiotischen Systemen, nach Zeit, Figurencharakteristik und Raumgestaltung gruppiert. Charue-Ferrucci macht, unter Berufung auf eine moderne französische Theorie des Fantastischen von Louis Vax, darauf aufmerksam, dass die Hervorbringung von Furcht und Schrecken auf der Leserseite ein in den Strukturen des Erzähltextes verankertes Mitwirken von Zeit und Raum benötigt.[99] Dem Schauer, oder der Furcht als literarisches Gestaltungsmittel kommt auch in Punters erstem Band der bis in die heutige Zeit reichenden Darstellung der Entwicklung der englischen gothic novel eine zentrale Stellung zu:
„ Fear is not merely a theme or an attitude, it also has consequences in terms of form, style and the social relations of the texts; and exploring Gothic is also exploring fear and seeing the various ways in which terror breaks through the surfaces of literature, differently in every case, but also establishing for itself certain distinct continuities of language and symbol. “[100]
Dass die Furcht nicht nur Thema eines literarischen Werks ist, sondern durch den Text, durch das Wörtliche bricht, sich auf den Leser übertragen kann und dazu spezifische sprachliche Mittel nötig sind, entspricht gänzlich dem im ersten Kapitel erläuterten Verständnis des Unheimlichen als vorwiegend von der Erzähltechnik abhängiges. Dem Unheimlichen soll deshalb bis auf die semiotische Ebene des Textes, den Zeichen mit denen es sich manifestiert, die Figuren versehen sind und mit denen der umgebende Raum gezeichnet wird, nachgegangen werden.
Das gestaltlose Auftauchen des Unheimlichen im Heimischen
Der ein „ beschwerliches, mühseliges, dürftiges Leben “ (46) führende Revierjäger Andres in „Ignaz Denner“ hört eines düsteren, stürmischen Tages unversehens, weil er den Knecht erst gegen Abend zurückerwartet, jemanden vor seiner Tür „ daherschreiten “. Doch lesen wir diese erste Erscheinung des Unheimlichen in der Erzählung genau: „ Da hörte Andres auf einmal es vor dem Hause daherschreiten, wie menschliche Fusstritte “. Die Fusstritte tönen ‚nur’ wie menschliche, genau genommen und gelesen müssten sie es nicht sein. Zusätzlich hört Andres diese Fusstritte sich nicht etwa aus der Ferne nähern, auf einmal, plötzlich sind sie da, vor seinem Haus. Wegen dem Gebell der Hunde vermutet er, dass es „ ein Fremder “ ist und geht zur Tür.[101] Kaum hat Andres erklärt, dass er dem Fremden, der bei Sturmwetter um etwas Erholung und Erquickung bittend vor der Türe seines ärmlichen, sich isoliert im Wald befindenden Forsthäuschens steht, nichts bieten könne ausser einem Stuhl - schon sind die beiden „ unter diesen Worten [...] in die Stube getreten “ (48). Das Fremde und Unheimliche tritt hinein - in seine wörtliche Antinomie - das Heimliche, Vertraute und Bekannte - und dies ohne Warnung, mit einer unerhörten Schnelligkeit und einer unvergleichlich Besitz ergreifenden Aufdringlichkeit.
„[...] ein verirrter Fremder, gütiges Herz, gefüllte Börse, und in einem Kistchen wundersame Arznei. - Ein Zufall? “, fragt sich auch Franz Fühmann und verneint sogleich, denn der Zufall „fügte sich schlecht in solche Geschichten, weil er sich schlecht ins Leben fügt.“[102] Und tatsächlich erfährt man als Leser, allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt, dass der Fremde wohlüberlegte Absichten hegt. Ohne explizite Erlaubnis von Andres erreicht er Einlass und unweigerlich nimmt das Unheil seinen Lauf: Andres kann kein weiteres Wort äussern, der Fremde legt seine Kleider, ein Kistchen und seine Waffen ab und ist bereits ans Bett der erkrankten Ehefrau Andres’, Giorgina, herangetreten - als wüsste er genau, was zu tun ist. Der Fremde hat den ersten Schritt hin zum Vertrauen unternommen, in der Folge nistet er sich ein, bleibt nach einer ersten Rettung Giorginas gleich über Nacht, ohne dass er bis hierhin auch nur seinen Namen preisgeben hätte.
In der eigenen, heimeligen Wohnstube der Bürgermeisterfamilie offenbart sich das Unheimliche in der Erzählung „Das Gelübde“. Bereits kurz nach dem Eintreffen und der Einquartierung der „ hohe [n] jugendlichen Gestalt mit dicht verhülltem Antlitz “ (281) wird der Hausfrau das Ganze immer „ geheimnisvoller “; sie verspürt, als sie die Äbtissin und die verschleierte Dame belauscht, eine „ Beklommenheit “ (282), die sie sprachlos werden lässt. Nach dem Abschied von der Äbtissin beobachtet sie wie der Gast einen der Schleier abnimmt und erblickt „ - “. Das Erschaute ist zu ungeheuerlich um ausgesprochen werden zu können, mit dem Gedankenstrich stocken wir als Leser mit der Hausfrau und erfahren durch das Nachhaken ihres Gatten kaum Genaueres; sich umsehend „ als erblicke sie Gespenster “ bringt sie nur stammelnd hervor: „ die Totenfarbe, ach die grauliche Totenfarbe “ (283).
Spätestens ab hier wird dem Leser, wie in „Ignaz Denner“ parallel mit den literarischen Figuren, klar, dass die verhüllte Dame ein Geheimnis umgibt. Von ihrem Mann wird die Bürgermeisterin nur oberflächlich darüber informiert, dass die Dame auf Geheiss des Gönners Fürst Z. ihr erwartetes Kind heimlich und unbemerkt im Haus der Familie gebären soll. Indes empfinden die Bewohner das „ Verhältnis mit der Fremden “ als „ drückende [s]“ und „ unheimliche [s]“ (287).
Derart nichts ahnend ist die Familie im „Sandmann“ nicht, Nathanael merkt früh an Vaters Schweigen und der Mutter Traurigkeit, dass es wieder ein Abend ist, an dem der Sandmann ins Haus eindringt, wie er aufgrund einer Aussage der Mutter, die nur die Kinder ins Bett schicken will, zu glauben beginnt. Noch nie hat Nathanael ihn erblickt - weshalb er ‚nur’ jedes Mal „ etwas schweren langsamen Tritts die Treppe heraufpoltern “ (8) hört. Und wieder, als er sich vornimmt, die Neugierde nicht mehr aushaltend, sich im Zimmer des Vaters zu verstecken, lauscht er der Haustüre, die sich knarrend öffnet und dann „ ging es, langsamen, schweren, dröhnenden Schrittes nach der Treppe “. Nathanael hastet in den offenen Kleiderschrank des Vaters, denn „ - Näher - immer näher dröhnten die Tritte - es hustete und scharrte und brummte seltsam da draussen. “ (11)
Zu beobachten ist hier erneut, dass das noch ungeschaute Unheimliche nicht menschlich, nicht personal, eher identitäts- und gestaltlos, ein undefinierbares ‚Es’ ist. Der Leser erfährt erst mit den Augen der fiktiven Figur Nathanael, wer der Unbekannte ist. Als dieser ihn erblickt, kommt es zur verhängnisvollen Identifikation, die man auch als Leser geneigt ist, während der Erzählung mehrere Male vorzunehmen: „ der fürchterliche Sandmann ist der alte Advokat Coppelius “ (11). Die Gestalt des möglichen Doppelgängers Coppola hat ebenfalls die Frechheit, direkt in Nathanaels „ Stube “ (7) seiner Wohnung im Studienort G. zu treten.
Durch den, zumindest temporär vom Ich-Erzähler und seinem Grossonkel V. bezogenen Gerichtssaal des Schlosses im „Majorat“ spukt es - und nach Jennings ist dieses ‚Spuken’ einer von ‚nur’ zwei Belegen in den Werken Hoffmanns, wo das Wort ‚Spuk’ im eigentlichen Sinne, als das objektiv von mehreren Beobachtern bezeugte, von Schuld oder Unerfüllung bedingte Umgehen eines Verstorbenen, eines Wiedergängers, verwendet wird und das Phänomen nicht als subjektive Erfahrung, Traum, Illusion, Fantasie oder Projektion abgetan werden kann.[103]
Doch vor diesem Spuk werden wir Zeuge eines andersartigen, eines ‚Callotschen Spuks’: Nachdem der Grossonkel zu Bett gegangen ist, befindet sich der Ich-Erzähler „ Theodor “ (217) allein im Gerichtssaal und beobachtet die mit „ fantastischer Bilderei “ bemalten Wände, die im Licht des Mondes und des Feuers „ in graulicher Wahrheit “ zu leben beginnen und wo die „ in Holz geschnitzte [n] Tier- und Menschenköpfe “ (202) hervorzuspringen scheinen.
Kurz darauf ereignet sich der besagte, tatsächliche Spuk, den der Ich-Erzähler, dessen „ Lebensgeister “ durch „ Punsch “ (202) und die „ Fantasie “ durch das Lesen von Schillers „Geisterseher“ „ erhitzt “ sind, über sich ergehen lassen muss.[104] Bereits zuvor fühlt er ein „ Frösteln, das man bei einer lebhaft dargestellten Gespenstergeschichte empfindet und das man so gern hat “. Im nächsten Moment dürfte ihm klar werden, dass er sich mitten in einer befindet, denn als in der Erzählung Schillers „ Jeronimos blutige Gestalt eintritt “, öffnet sich plötzlich auch die Türe im Gerichtssaal, worauf Theodor vor Schreck das Buch fallen lässt, seiner Einbildung die Schuld gibt und weiter lesen will. Doch „ da geht es leise und langsam mit abgemessenen Tritten quer über den Saal hin, und dazwischen seufzt und ächzt es “.[105] Paradoxerweise glaubt Theodor das Seufzen sei „ Ausdruck des tiefsten menschlichen Leidens “ bei gleichzeitiger Annahme, dass es sich um „ ein armes eingesperrtes Tier “ (203f.) handelt.[106]
Da das durch die eigene Stube schreitende Unheimliche seine Gestalt noch nicht offenbart hat, bleibt es nicht zuordbar, kündigt sich, wie in „Ignaz Denner“ und im „Sandmann“, zwar mit Furcht erregenden Tritten an, ist aber noch gestaltlos und - gemäss der in „Jaques Callot“ von Hoffmann entwickelten, grotesken Schaffensweise - ein menschliches oder tierisches ‚Es’. Die Gestaltlosigkeit zeigt sich als Teil der textuellen, wörtlichen Ebene, wo gleichsam die Ankunft von etwas Monströsem suggeriert wird.
In den noch nicht erwähnten „Nachtstücken“ taucht das Unheimliche nicht mit dieser Gewalt im Heimischen, wohl aber doch im Vertrauten und mit denselben Erscheinungsmerkmalen auf. Die wunderlichen, weniger unheimlichen Ereignisse in der Erzählung „Das steinerne Herz“ spielen auf, zumindest für die Teilnehmer am „ Fest der alten Zeit “ (319), vertrautem Boden, wobei das Unheimliche im Wesentlichen vom „ auf altertümliche groteske Weise “ (314) geschmückten Anwesen des Hofrats Reutlinger, dem „ finstern Hain “ (315) und dem Pavillon mit dem steinernen Herz ausgeht. Denn genau an jenem Ort, der für den Hofrat sehr vertraut sein muss, bedenkt man, dass er dort seinem eigenen Herzen ein Grabmal bauen liess, geschieht das Unsägliche: Des Hofrats „ Schritte “ lenken sich während dem Fest „ unwillkürlich [...] nach dem Wäldchen “. „ Die Tür des Pavillons steht offen - ich erblicke - mich selbst! - mich selbst! - [...] - die Gestalt - ich - ich lag auf dem Boden vor dem Herzen “ (334f.), bringt Reutlinger nur stotternd hervor, als er seinem Freund Exter, der ihn ins Bewusstsein zurückgeholt hat, von der unheimlichen Begegnung mit seinem dreissig Jahre jüngeren ‚Doppelgänger’ berichtet. Im Übrigen ist diese vermeintliche Doppelung durch das zweimalige Nennen von ‚mich selbst’ und ‚ich’ meisterhaft onomatopoetisch realisiert.
Vertraut ist die Allee, in der sich das öde Haus befindet und in dessen Bann Theodor im gleichnamigen „Nachtstück“ gerät. „ Schon oft [hat er] die Alle durchwandelt, als [ihm] eines Tages plötzlich ein Haus ins Auge “ fällt. Man kann sich fragen, obwohl der kundige Hoffmann-Leser natürlich auf derartige Wunderlichkeiten gefasst sein muss, warum Theodor das Haus nicht früher aufgefallen ist, wenn es, wie er beschreibt, auf solch „ wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach “ (162). Trotz der „ prosaischen Aufklärung “ des Theodor bekannten Grafen P., dass es sich nicht etwa um ein verlassenes Geisterhaus handle, sondern um eine Zuckerbäckerei, muss Theodor „ immer vorübergehend nach dem öden Hause hinschauen “ (164). Auch wenn er sich zwischenzeitlich durchaus selbstkritisch sieht und das vermeintlich Wunderbare bezweifelt, befängt ihn das seltsame Haus vom ersten Erblicken an.
„Die Jesuiterkirche in G.“ und „Das Sanctus“ unterscheiden sich insofern von den obigen Ausführungen, als dass das Unheimliche nicht so ausgeprägt in Heimisches eindringt und vorwiegend mit den Figuren und den eingelassenen Binnentexten zusammenhängt, was noch zur Sprache kommen wird.
Unheimliches Spiel mit Zahlen, Zeiten und Zeitpunkten
Obwohl die Haupthandlungszeit der „Nachtstücke“ bezeichnenderweise die Nacht ist, wird dieser Abschnitt zeigen, dass das Unheimliche zu ganz bestimmten Zeiten auftritt, mit bedeutungstragenden Zahlen verbunden ist und sich sogar auf der grammatikalischen Ebene der Texte mit der Zeit Merkwürdiges ereignet.
„ Der Fremde stellte sich zu Michaelis wieder ein und blieb drei Tage “ (57), lesen wir von Ignaz Denner, der zum zweiten Mal Andres und Giorgina besucht.[107] Angekündigt hat der vermeintliche Kaufmann das, als er der Familie bei seinem ersten Unterkommen drei Wünsche abringt. Zu zwei Zeitpunkten im Jahr, zu Ostern und im späten Herbst, um die „ Michaelis-Messe “ (52), will Ignaz bei Andres logieren. Dies sind zwei von insgesamt vier Vorkommen des Michaelis-Feiertages in den „Nachtstücken“. Ein weiteres findet sich in der Erzählung „Das Majorat“, „ in der Michaelisnacht des Jahres 1760 “ (248) verfasste der alte Roderich Freiherr von R. sein verhängnisvolles, die Folgegenerationen ins Unglück stürzende Vermächtnis. In dieser „ stürmischen Herbstnacht des Jahres 1760 “ (242) stürzt der Schlossturm ein, der Freiherr stirbt unter den Trümmern.[108] Das Unheimliche in Gestalt der verschleierten Dame erreicht die Bürgermeisterfamilie in „Das Gelübde“ zur Zeit der Abenddämmerung, „ am Michaelistage “ (281).
Die wiederholte Nennung des Tages und der Befund, dass sich an ihm in allen drei Erzählungen jeweils unheimliche Geschehnisse ereignen, könnten dafür sprechen, dass der Autor Hoffmann den Feier- und Gedenktag des Erzengels Michael (noch heute der 29. September) nicht grundlos einsetzte.
Häufiger noch als die Nennung eines bestimmten Tages treffen wir in den „Nachtstücken“ die Zahl drei und die mit ihr zusammenhängenden Zeitpunkte, Jahres- und Altersangaben und Zeitspannen an. Die Häufung kann nicht unbegründet sein, denn gerade die unheimlichen Ereignisse sind oft mit der Zahl drei und ihren Multiplikationen verwoben.[109] Für „Ignaz Denner“ und „Der Sandmann“ ist von der Forschung die Wichtigkeit solcher Zahlen festgestellt worden:
„ Bereits die Tatsache, dass sie [die Zahl neun] immer wieder vorkommt, verleiht ihr in dieser Wiederholung den Charakter der höheren Weihe. “[110]
Ebenso weist Schmidt, einer der wenigen Interpreten von „Ignaz Denner“, auf eine „auffällig häufige Verwendung der Neunzahl“ hin, die „nicht nur im Volksglauben eine bedeutende Rolle“ spiele.[111]
Nicht wie in üblichen Märchenstrukturen, wo der Held sich von der guten Fee drei Wünsche erfüllen lassen darf, verkörpert Ignaz Denner gewissermassen einen bösen Zauberer, der seinem Opfer drei Wünsche abverlangt: Unterkunft auf Reisen, Aufbewahrung des Schmuck- und Arzneikistchens und die Begleitung Andres’ bis an den Waldrand (Vgl. 52f.).[112] Im nächsten Abschnitt wird diese ambivalente Rolle Denners zwischen menschlicher Freigiebigkeit und teuflischer Gier noch deutlicher umschrieben.
Für drei Tage wünscht der Fremde jeweils aufgenommen zu werden, seine Offenbarung als Räuberhauptmann und Erpresser erfolgt „ im Herbst des dritten Jahres “ (61), soviel Zeit ist in der Erzählung seit seinem erstem Auftauchen und der Rettung Giorginas vergangen. Andres sieht sich genötigt, nicht nur aufgrund der Drohung Denners, diesen auf den Raubzug zu begleiten. Im Wald erscheint darauf die Räuberbande auf des Hauptmanns drei maligen Pfiff hin (Vgl. 62). Zwei Jahre verstreichen nach dem Überfall, Andres glaubt, Ignaz und seine Gesellen hätten die Gegend verlassen. Seine Frau bringt einen zweiten Sohn zur Welt - und just taucht Ignaz Denner gleichsam aus dem Nichts, ums Haus herumschleichend, wieder auf. Andres droht, ihn bei der Obrigkeit zu verraten, er gebe ihm „ drei Tage Zeit “ (70) fortzueilen. Am besagten Zeitpunkt ist Andres schon zur Reise zum Fuldaischen Gericht bereit, als er die Botschaft mit der Erbschaft, die ihn zwingt nach Frankfurt zu gehen, erhält. Die Reise kostet ihn „ sechs Tage “ (72), in der Nacht auf den letzten vollführt Denner die seinerseits lang ersehnte ‚Schlachtung’ von Andres’ Sohn. In der Rückblende, die von der Herkunft Denners und seines Vaters, Doktor Trabacchio, berichtet, verhält sich der „ dreijährige “ Ignaz bereits als sei er „ zwölfjährig “ (89f.). Auf die Räuberbande, die den Vater gleich zum Anführer macht, treffen die beiden „ drei Tagreisen von Neapel “ (95) entfernt.
Die drei Protagonisten im „Sandmann“, Nathanael, Clara und Lothar schreiben sich zu Beginn der Erzählung „ drei Briefe “ (23). Die Dichtung, mit der Nathanael sich jenen bösen Streit mit seinen Vertrauten einhandelt und während dem er Clara zum Automat degradiert, schreibt er in „ drei Tagen “ (28) - und bezahlt dem Coppola „ Tre Zechini - drei Dukat “ (32) für das seine objektive Wahrnehmung endgültig ver-rückende Perspektiv.
Das drei- oder viermalige Klopfen des Doktors mit seinem Stock zu Beginn des „Sanctus“ bedeutet - so weiss es der Kapellmeister - „ ein böser, böser Fall “ (137), als was sich Bettinas Stimmverlust in der Folge auch entpuppt - und, wie schon erwähnt, feiert der Hofrat Reutlinger im „Steinernen Herz“ sein wunderliches Fest „ alle drei Jahre “ (319).
Nur wenige Nennungen der Dreizahl wurden ausgelassen, für alle zitierten zeigt sich eine Koinzidenz zu den unheimlichen Ereignissen der Erzählungen. Walter hat die Druckfassung und das erhaltene Manuskript des „Sandmanns“ hinsichtlich einer belegbaren Intensivierung des Erzählten für den Leser verglichen und beweist mitunter eine These des ersten Kapitels dieser Arbeit: Hoffmann hat die Handschrift wohl in grösster Eile - daher die ihm oft fälschlicherweise attestierte ‚Fieberhitze’ - niedergeschrieben, bezeichnende Stellen dann aber für die Druckfassung mit Verstand und Bedacht auf die Leserwirkung hin geändert. Beispielsweise weist Walter darauf hin, dass in der Druckfassung dort die Zahl drei eingefügt wurde, wo handschriftlich noch die Zwei stand - so geschehen bei der oben genannten Stelle mit dem Preis für das Perspektiv, für das Coppola in der Handschrift ‚nur’ zwei Dukaten verlangt. Die Drei ist eine Zahl, „die dem Phantastischen, dem magisch-mythischen Bereich näher steht als die Zwei“ und ihre Häufung lässt „Nathanaels Auffassung vom Eingreifen einer bösen Zaubermacht immerhin möglich erscheinen“. Weiter führt Walter aus, dass durch die oben zitierten Zeitangaben und die noch folgenden die Erzählung erheblich strukturiert werde und Hoffmann diese Zahlen, „in denen sich auffällig die Drei wiederholt oder die durch drei teilbar sind [...] als Stilmittel bewusst einsetzte“.[113]
Durch drei teilbare Zahlen strukturieren „Ignaz Denner“ in besonderem Masse. Der teuflische Räuberhauptmann versteht es vorzüglich, ohne jede Warnung, wofür er natürlich ein noch zu besprechendes Motiv hat, pünktlich zu einem bestimmten Alter der Kinder der Revierjägerfamilie aufzukreuzen. Als er, wie könnte es anders sein, zum dritten Mal bei Andres erscheint, ist dessen „ wunderschönes Kind [...] gerade neun Monate alt geworden. “ Dieses Alter ist auch der Grund, weshalb es ihn verlangt, das Kind vordergründig aufzunehmen. „ - Gebt mir ihn! - “ (59) lauten seine harschen, sich nicht nur von seinen bisherigen Äusserungen, sondern auch von der Textgestalt durch die Gedankenstriche abhebenden Worte. Der daraufhin „ finster seitwärts “ blickende Denner gibt den Einwänden der Eltern nur widerwillig nach und Giorgina küsst ihren Sohn, „ als sei er aus grosser Gefahr errettet “ (60), was er tatsächlich ist, denn Denner kommt erneut in Andres’ Haus, kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes, der, wie er sich bei Giorgina versichert, „ gerade neun Wochen alt “ (75) ist. Diesmal gelingt es Denner sein grausiges Ritual durchzuführen, dessen Sinn der Leser erst gegen den Schluss erfährt; der „ mit dem Satan im Bündnis “ (90) stehende Vater Denners hat seine Bastardkinder als diese jeweils „ neun Wochen, oder neun Monate alt worden, unter besonderen Zurüstungen und Feierlichkeiten auf unmenschliche Weise geschlachtet “, um deren „ Herzblut “ (92) zu gewinnen. Dieses ist die „ Hauptingredienz “ „ jenes köstlichen wundersamen Liquors “, der unverhohlen seine Wirkung tut, als Ignaz damit zu Beginn der Erzählung die kranke Giorgina vor dem Tod errettet. Idealerweise, so erzählt es Ignaz später dem Andres, soll dazu das Blut von Kindern genommen werden, „ die neun Wochen, neun Monate, oder neun Jahre alt “[114] und freiwillig hergegeben worden sind oder nahe zum „ Laboranten in Beziehung stehen “, worin, nun erfährt es wiederum parallel mit Andres auch erst der Leser, Denners Motivation lag, der Revierjägerfamilie aufzulauern. Giorgina ist seine Tochter; ihrer Mutter gelang es, „ vor Ablauf der neunten Woche “ (100) aus den Fängen Ignaz’ zu fliehen. Somit ergibt sich ein wahrhaft auffälliger Zusammenhang der Zahl neun und dem Teuflischen, den Trabacchios und der Zahl der Schwangerschaftsmonate beziehungsweise des Kindesalters.[115]
„ Kaum schlug die Uhr neun “, schickt die Mutter Nathanael und seine Geschwister ins Bett, weil „ der Sandmann kommt “ (8) und die polternden Schritte Coppelius’ ertönen. Über Jahre müssen sich die Kinder, „ wenn auf den Schlag neun Uhr sich jener Unbekannte im Hause hören liess, schnell entfernen. “ (10) Das letzte Mal als Coppelius das Haus der Familie betritt, kurz vor des Vaters Tod, hörten alle „ als es neune schlug, plötzlich die Haustür in den Angeln knarren und langsame eisenschwere Schritte dröhnten durch den Hausflur die Treppe herauf. “ (14) Die Nennung der konkreten Zeit des für den Vater tödlich endenden Erscheinens des Sandmanns wurde von Hoffmann erst für die Druckfassung hinzugefügt - und fehlt ganz in der handschriftlichen.[116] Neun Uhr abends ist sozusagen der Zeitpunkt des Coppelius, des Unheimlichen.
Er ist aber auch zur Mittagstunde präsent, er isst bei Nathanaels Familie „ zu Mittage “ (11) und sucht als Wetterglashändler Coppola Nathanael „ am 30. Oktober mittags um 12 Uhr “ (7) heim.[117] Nathanaels furchtbarer Tod, zu dem Coppelius/Coppola plötzlich wieder auftaucht, wie um daran teilzuhaben, ereignet sich „ zur Mittagsstunde “ (44).[118] Lohr, der ein ganzes Kapitel seiner Stilanalyse des „Sandmanns“ den Eigenheiten der Zeit in dieser Erzählung widmet, bemerkt dazu:
„ Die Zeitfixierung nimmt Coppelius’ Besuchen den Charakter des Zufälligen und verleiht ihnen etwas Überirdisches [...] Die penible Zeitbezogenheit, die für Nathanael das Sinnbild für die Behaglichkeit eines wohlorganisierten Haushalts geworden ist, wird vom Sandmann benutzt, um eben diese Behaglichkeit mit ihren eigenen Waffen zu zerstören. “[119]
Im Folgenden wird ersichtlich, dass sich nicht nur die unheimliche Erscheinung des Sandmanns am Mittag zeigt. Durch den Wald und um das Haus Andres’ „ wanken “ in seiner Abwesenheit „ zur Mittagszeit wieder allerlei verdächtige Gestalten “ (73). Vollends in den Bann des öden Hauses gerät Theodor mit dem ersten Erblicken des Frauenarms im Fenster, als er „ zur Mittagsstunde in der Alle lustwandelte “ (164), was sich auffällig wiederholt: „ den andern Tag in der Mittagsstunde “ (172) durchwandert er die Allee erneut und glaubt die ganze Gestalt der weiblichen Bewohnerin zu entdecken. Sogar nach dem Besuch beim Doktor wird er „ mittags um 12 Uhr, viel stärker aber nachts um 12 Uhr “ von „ furchtbaren Anfällen “ (179) heimgesucht. Ganz ähnlich ging es dem Obristen in der Begebenheit, die ein „ ältlicher Mann “ in einer Abendgesellschaft, an der Theodor auf Anraten des Arztes teilnimmt, zum Besten gibt. An plötzlichen Lähmungen und Visionen einer ihm bekannten Frau leidend, starb der Obrist eines Tages ohne Vorzeichen an einem „ Nervenschlag “. Ein an ihn adressierter Brief lüftet darauf scheinbar das Geheimnis: Jene Frau ist am selben Tag „ um zwölf Uhr Mittag “ (182f.), zur gleichen Todesstunde, die den Obristen ereilte, verstorben. Allerdings gleicht dies einer neuerlichen Verrätselung, denn eine Erklärung zu dieser Koinzidenz wird an keiner Stelle gegeben.[120]
Da neben der Mittagsstunde auch die Mitternacht eine prototypische Zeit für unheimliche Begebenheiten ist, verwundert es ebenso wenig, dass es im „Sandmann“ beim Tode von Nathanaels Vater „ Mitternacht [ist], als ein entsetzlicher Schlag “ (15) ertönt und der Hausverwalter Daniel im „Majorat“, gemäss der Erzählung des Justitiarius V., um Mitternacht umherwandelt: „ Es war Mitternacht worden [...] und ein Mensch mit leichenblassem entstellten Antlitz in Nachtkleidern [...] trat langsam hinein “ (264f.). In der nächsten Nacht wartet V. im Saal um herauszufinden, was es mit der Nachtwandlerei auf sich hat. Jedoch bricht „ um Mitternacht “ (269) ein Feuer im Zimmer des Hausverwalters Daniel aus. Als in einer Folgenacht weder V. noch der Majoratsherr, ganz auf seinen Reichtum fixiert, nicht „ des Sturms, der um Mitternacht heraufgekommen “ achten, springt plötzlich wieder die Tür des Gerichtssaals auf „ und eine bleiche, gespenstische Gestalt “ wird sichtbar, die „ den Tod im Antlitz hineinschritt. “ (273)
„Das Majorat“ ist die ‚traditionellste’ aller Gespenstergeschichten, die Hoffmann geschrieben hat. Dementsprechend spielt die Zeit der Mitternacht die bekannte Rolle der ‚Geisterstunde’. Für alle „Nachtstücke“ lässt sich aber sagen, dass Mitternacht und Mittag Zeitpunkte sind, die generell mit gespenstischen Phänomenen zusammenhängen:
„ Im Volksglauben ist der Mittag - neben der Mitternacht - die bevorzugte Zeit für Geistererscheinungen (‚Mittagsspuk’); sie begünstigt Illusion und Halluzination. Die Mittagsstunde heisst geradezu ‚schlechte Stunde’. “[121]
Warum sie so genannt werden kann, zeigen die obigen Zitate aus den Erzähltexten überdeutlich. Hingegen muss nicht immer nur ein Spuk für die ‚Unheimlichkeit’ dieser Zeit ausschlaggebend sein, in der „Jesuiterkirche in G.“ läuft der bekannten hoffmannschen Figur des reisenden Enthusiasten, nachdem er die Aufzeichnungen über das Leben des Malers und möglichen Mörders gelesen hat, „ ein leiser Schauer durch die Glieder “, weil er sich vorstellt, gleich „ um Mitternacht mit Berthold allein in der Kirche “ (135) zu sein. Die heidnische Sängerin Zulema der Binnengeschichte in „Das Sanctus“ gerät in die für sie verheerende Wirkung des christlichen Gesangs, als sie „ einst um Mitternacht “ (147) dem Chor in der Kirche lauscht.[122] Ein letztes Mal Zeuge des Unheimlichen das Hermenegilda im „Gelübde“ umgibt, werden ihre Eltern um „ Mitternacht “. Der Mönch, der sie zur Fahrt zum Kloster abholt, hebt noch einmal ihren Schleier, worauf alle, die zugegen sind, „ schneidendes Weh “ durchfährt, ob der „ blasse [n] Totenlarve “ (312), die sie immerzu trägt.
Soviel zu den explizit erwähnten Zeitpunkten der „Nachtstücke“, die mit der Dreizahl und dem Unheimlichen unmittelbar in Verbindung stehen und, indem sie in allen acht Erzählungen der „Nachtstücke“ vorkommen, den gesamten Zyklus mitstrukturieren. Doch das Unheimliche generiert Hoffmann nicht allein aus diesen Zeiten, sondern auch über die grammatikalischen, wo er mit Hilfe von raschen Tempuswechseln gleichsam versucht, die Zeitlichkeit des Geschehens zu untergraben.
Nathanael schildert seine Kindheitserlebnisse mit Coppelius/Coppola in seinem ersten Brief vornehmlich im Imperfekt, wechselt dann, als er den Sandmann erstmals erblickt, plötzlich ins Präsens und spricht beziehungsweise schreibt in unvollständigen, durch den atemlose Hast und Schrecken ausdrückenden Gedankenstrich nur lose verbundenen Sätzen:
„ Das Herz bebte mir vor Angst und Erwartung. - Dicht, dicht vor der Türe ein scharfer Tritt - ein heftiger Schlag auf die Klinke, die Tür springt rasselnd auf! - Mit Gewalt mich ermannend gucke ich behutsam hervor. Der Sandmann steht mitten in der Stube vor meinem Vater, der helle Schein der Lichter brennt ihm ins Gesicht! - Der Sandmann, der fürchterliche Sandmann ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittage isst ! - “ (11)
Hier liegen erneut von Hoffmann bewusst getätigte Änderungen vor; in der handschriftlichen Fassung wird der obige Passus einerseits im Imperfekt und Perfekt geschildert und andererseits die Erscheinung des Sandmanns schneller und in ganzen Sätzen genannt. Mit den vorliegenden „vorhergehenden unheimlichen Geräuschen“ und den Gedankenstrichen entsteht eine verzögernde „Spannungssteigerung“, und zusätzlich wird „durch den Tempuswechsel in der endgültigen Fassung das Geschehen noch stärker als gegenwärtiges suggeriert“.[123] Man spürt als Leser förmlich, wie Nathanael während dem Schreiben ins Stocken gerät ob dem gewaltigen Eindruck, den jenes Erscheinen auf ihn gemacht hat.
Der genannte Tempuswechsel tritt noch einmal auf als Nathanael die Eingebung hat, über das verhängnisvolle Eingreifen Coppelius’ in sein Liebesglück zu schreiben. Wird der Anfang des in Prosa wiedergegebenen Gedichts noch im Imperfekt und Konjunktiv geschildert, geschieht der Wechsel ins Präsens erneut von einem Satz zum andern: „ aber dann und wann war es, als griffe eine schwarze Faust in ihr Leben und risse irgend eine Freude heraus, die ihnen aufgegangen. Endlich, als sie schon am Traualtar stehen, erscheint der entsetzliche Coppelius und berührt Claras holde Augen “ (27). Wiederum kann dies als Vergegenwärtigung und Intensivierung der destruktiven Macht Coppelius’ gesehen werden. Sicherlich kann man einwenden, dass es sich hierbei um das bekannte, ohnehin intensivierend wirkende erzählerische Mittel des historischen Präsens handelt.[124] Gerade im „Sandmann“ erhält die Verwendung dieser vergegenwärtigenden Tempusform aber eine zusätzliche Bedeutungsschicht über Nathanaels Bemerkung, der Sandmann brächte mit seinem Einschreiten überall „ Jammer - Not - zeitliches, ewiges Verderben “ (12) - ein Verderben das gleichsam aus der Zeit gehoben, allgegenwärtig, präsentisch ist.
Seltsam mutet zudem die Zeitangabe zu Anfang des ersten Briefes von Nathanael an: „ Gewiss seid Ihr alle voll Unruhe, dass ich so lange - lange nicht geschrieben. “ Daraufhin erläutert der Student, was ihn vom Schreiben abgehalten hat: „ - Ach wie vermochte ich denn Euch zu schreiben [...] - Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten. “ Offensichtlich bezieht er sich auf den Besuch des Wetterglashändlers Coppola, nur ist dieser erst „ vor ein einigen Tagen “ (7) erschienen, was so lange nicht her sein kann; die Stelle macht den Leser „stutzig“, an Nathanaels „Überblick über die Zeiten“[125] kann etwas nicht stimmen.
Die Tempuswechsel finden sich auch in der Schauererzählung „Das Majorat“. Bei der Evozierung der rauen und öden Szenerie des Schlosses zu R..Sitten zu Beginn des Textes, auf die im Abschnitt zur Raumgestaltung noch genauer eingegangen wird, herrscht etwa über eine halbe Seite das Präsens vor. Es ist, als wolle uns der Erzähler die Gegend und das Schloss besonders eindrücklich, besonders gegenwärtig schildern, denn kaum berichtet er vom Bau des Schlosses, wechselt er ins Imperfekt. Dieses Tempus zieht Theodor durch bis zur Erhebung des Spuks in der ersten Nacht seines Aufenthalts. Die oben angedeutete Stelle, wo er Schillers „Geisterseher“ liest, berichtet er noch im Imperfekt: „ Ich kam zu der mit dem mächtigsten Zauber ergreifenden Erzählung von dem Hochzeitsfest bei dem Grafen von V. “[126] Daraufhin folgt ein Gedankenstrich, der wie ein ‚Zeitenwandler’ das Tempus erneut zu Präsens werden lässt: „ - Gerade wie Jeronimos blutige Gestalt eintritt, springt mit einem gewaltigen Schlage die Tür auf “ (203), das Präsens wird bis auf die Folgeseite, bis zum Verschwinden des spukenden, alten Hausverwalters Daniel beibehalten, und wiederum ist es, als ob der Gedankenstrich die grammatikalische Zeit zurück ins Imperfekt wandelt: „ - dann ist alles still! - In demselben Augenblick vernahm ich, wie der alte Grossonkel im Nebengemach ängstlich seufzte und stöhnte “ (204).
Etwas anders verhält es sich im ersten „Nachtstück“ des zweiten Teils, „Das öde Haus“. Als Leser wissen wir durch das anfängliche Rahmengespräch, dass die folgende Erzählung, quasi zeitgleich mit unserem Lesen, von Theodor seinen Freunden mündlich vorgetragen wird, weshalb man einwerfen könnte, dass es nicht verwundert, wenn er manchmal präsentisches Tempus verwendet. Er tut dies aber, ähnlich den Erzählern der zuvor erwähnten „Nachtstücke“, bei prägnanten, unheimlichen Stationen seiner Erfahrungen; weit den grössten Teil seiner Erlebnisse schildert er im Imperfekt. Nachdem er das öde Haus gewahrt hat, tritt er eines Tages in den nebenstehenden Konditorladen. Sowie ihm der Ladeninhaber von den spukhaften Geräuschen und Gerüchen aus dem Haus nebenan erzählt und dabei den alten Hausverwalter erwähnt, tritt ebendieser in den Laden. Bei der Aufzählung der eigentümlichen äusseren Merkmale desselben spricht Theodor seine Freunde direkt an („ Denkt euch “), weshalb das Tempus des Präsens gerechtfertigt ist. Man kann sich aber auch fragen, warum er gerade hier das Tempus wechselt - und vor allem dabei bleibt, als er weiter beschreibt, was der Alte in der Konditorei tut: „ Denkt euch, dass diese kleine Figur doch [...] kräftig nach dem Ladentisch hinschreitet [...] mit ohnmächtiger klagender Stimme herausweint “ (167). Der Rest der Begebenheit erfolgt dann wieder im Imperfekt: „ Der Konditor suchte alles, was der Alte gefordert, zusammen. “ (168) Ich denke, man darf annehmen, dass Theodor an dieser und den folgenden Stellen seine Erzählung für die Freunde wohl recht lebendig und eindrücklich gestalten möchte, um ihnen das Wunderliche seiner Erlebnisse nahe zu bringen.
Noch zweimal wechselt er vom Imperfekt ins Präsens. Zum einen als er vom Folgetag des Betretens des öden Hauses berichtet: „ Nun gingen, wie geweckt, durch mein Eindringen in das geheimnisvolle Haus, die Abenteuer auf! - Denkt euch, denkt euch, so wie ich den andern Tag in der Mittagsstunde die Allee durchwandere “. Das Präsens wird beibehalten bis der ganze Mittagsspuk mit dem funkelnden Diamanten vorbei ist: „ - O Himmel! gestützt auf den Arm blickt mich wehmütig jenes Antlitz meiner Vision an. - War es möglich in der auf und ab wogenden Masse stehen zu bleiben? “ (172). Zum andern begegnet Theodor bei der Szene der Abendgesellschaft des Grafen P. der ‚Inkarnation’ seines geschauten Mädchenbildes: „ hatte ich einer jungen Dame den Arm geboten [...] Ich führe meine Dame zu dem offnen Platz, der sich uns darbietet, schaue sie nun erst recht an und - erblicke mein Spiegelbild in den getreusten Zügen “ (186).
Wiederum wird das Unglaubliche, das Theodor erblickt, die Verlebendigung seiner Vision, mit den sprachlichen Mitteln eines besonders vergegenwärtigenden Tempus und unter Einsatz der Gedankenstriche, die als ‚Tempuswandler’ und Ausdruck der einsetzenden Sprachlosigkeit, des Grauens der Erzähler gewertet werden können, realisiert.
Besonders eindrücklich unter diesen Gesichtspunkten ist eine Szene aus der Lebensgeschichte des Maler Bertholds in „Die Jesuiterkirche in G.“. Mit unheimlicher Atemlosigkeit, durch die Gedankenstriche verdeutlicht, mit nur noch elliptischen Sätzen, mit eigentümlich infinitivischen Verbformen und vom Imperfekt ins Präsens wechselnd, wird dort die Rettung der Prinzessin aus dem brennenden Palast und aus den Händen eines Häschers geschildert:
„ Er [Berthold] lief schnell durch die aufgesprengten Zimmer [...] - Ein schneidendes Angstgeschrei schallt ihm entgegen - er stürzt durch den Saal. - [...] - Es ist die Prinzessin – es ist Bertholds Ideal! - Bewusstlos vor Entsetzen, springt Berthold hinzu - den Lazzarone bei der Gurgel packen - ihn zu Boden werfen, ihm sein eignes Messer in die Kehle stossen - die Prinzessin in die Arme nehmen - mit ihr fliehen durch die flammenden Säle - die Treppen hinab - fort, fort, durch das dickste Volksgewühl - Alles das ist die Tat eines Moments! “ (131f.)
Die Passage mutet an, als ob der Autor mit den Worten ‚Alles das ist die Tat eines Moments’ und der gedrängtesten Sprache hat andeuten wollen, wie sehr er darum bemüht war, der unweigerlichen Chronologisierung und Linearisierung, die sich durch die Schrift ergibt, zu entgehen und alles versucht hat, um die Gleichzeitigkeit und die mit ihr einhergehende Lebendigkeit der Darstellung heraufzubeschwören.[127]
Zweifelhafte Identitäten
Das Hoffmannsche Repertoire an Schauergestalten in den „Nachtstücken“ ist faszinierend vielfältig - es reicht vom Teufelsbündler, einer geheimnisvoll verschleierten Frau, einem nachtwandelnden und spukenden Schlossdiener über Doppelgänger bis hin zu zuweilen in wahnsinnsähnliche Zustände verfallende Künstler, Sänger- und Gräfinnen. Wendet man das Augenmerk jedoch auf die Charakterisierungen und Attribute, zeigt sich eine auffällig gleich bleibende Wortwahl zur Evozierung ihrer ‚Unheimlichkeit’. In einem ersten Schritt soll der rätselhaften Identität der Abtrünnigen, in einem zweiten ihren Gesichtszügen, Körperbauten, Sprachen und Stimmen und in einem dritten ihrer Kleidung auf den textuellen Grund gegangen werden.
Der „ in der Arzneiwissenschaft nicht unerfahren [e]“, sich vorerst als „ Kaufmann “ ausgebende Ignaz Denner im gleichnamigen „Nachtstück“ nutzt sogleich nach seinem Eindringen ins Heim der Revierjägerfamilie die Möglichkeit in einem guten Licht zu erscheinen, beruhigt Andres bezüglich der Gesundheit seiner Frau und gibt dieser ein mit einem „ dunkelroten Liquor “ beträufeltes Stück Zucker und „ ein paar Löffel “ eines „ köstlichen Rheinweins “. Nur mit diesem schnellen, fachmännisch aussehenden und scheinbar uneigennützigen Handeln kann es Andres vorkommen, „ als sei ein Heiliger herabgestiegen “, obwohl ihn zuvor „ der stechende, falsche Blick des Fremden abgeschreckt “ (49) hatte. Der ‚mildtätige’ Mann (Vgl. 55), in Wahrheit Sohn des Teufelsbündlers Trabacchio (Vgl. 95), der angeblich „ weder Weib, noch Kinder “ (55) hat, scheint tatsächlich mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, denn als Andres ihn zum Waldrand begleiten muss, bannt der wunderliche „ Kaufmann “ einen aus dem Gebüsch heraustretenden Räuber „ wie ein Geisterbeschwörer “ (57). Diese ambivalente Charakterisierung Denners, als zugleich himmlischer Retter und unheimlicher, zuweilen teuflisch anmutender Fremder, zieht sich durch den gesamten Erzähltext. Sie ist bereits in seinem Namen angelegt; Ignaz, eine Variante zum Namen Ignatius, deutet sowohl auf Religiöses (Ignatius von Loyola (1491-1556), Begründer des Jesuiterordens) und Teuflisches (der Name Ignaz könnte etymologisch von lateinisch ‚ignis’, ‚Feuer’, herrühren).[128] Auffällig ist vorerst auch, dass Hoffmann uns zu Beginn der Erzählung Details zum Aussehen Denners verschweigt und keine Informationen über dessen Charakter gibt, Andres hingegen bereits als bescheidener, frommer und gottesfürchtiger Mann dargestellt wird. Beim ersten Erscheinen Denners heisst es bloss: „ da trat ihm [Andres] ein langer, hagerer Mann entgegen, in grauem Mantel, die Reisemütze tief ins Gesicht gerückt. “ (48)[129] Nur allmählich - der Wissensstand Andres’ entspricht immer dem des Lesers - offenbart sich der „ Fremde “ und „ Kaufmann “ (49) als Räuberhauptmann (Vgl. 67), „ schwarze [r] Ignaz “, „ Bösewicht “ (63), „ wie der Satan selbst “ (71) und schliesslich, was ihn umso schrecklicher macht, als „ Vater “ (99) (Giorginas) und „ Grossvater “ (101) (Georgs).
Diese verzögerte Enthüllung der Identität seiner fiktiven Figuren ist eine wesentliche Strategie Hoffmanns bei der Generierung von Spannung und Unheimlichem. Denner gibt gar zu, dass er reicher sei als sein Aussehen vermuten lasse, doch hinter seiner Bemerkung verbirgt sich weit mehr - nur ist Andres und seiner Frau die wahre Tragweite seiner Worte noch nicht bewusst: „ Gestehen will ich Euch, dass ich nicht das bin, was ich scheine. “ (52) Auch wenn Andres dies über das Lächeln und Funkeln in den Augen Ignaz’ ahnt, unterliegt er ob der Sorge um Frau und Kind der Freigiebigkeit des Fremden. Kaum hat dieser seine wahren Identitäten als Räuberhauptmann und Sohn eines Teufelsbündlers offenbart, wird er dem Andres zum verhassten Feind und vermehrt mit negativen Eigenschaften benannt: „ schändlicher Betrüger “, „ verworfener Räuber “, „ frevelicher Bösewicht “ (63), „ der verruchte Ignaz Denner “ (71), „ der verhasste Denner “ (74), „ der abscheuliche Denner “ (78), „ verruchter, teuflischer Bösewicht “, „ verruchten Räuber und Mörder “ (79), „ verdammter Heuchler “ (98), und ganz zum Schluss „ satanischer Bösewicht “ (103).
Es fällt auf, wie Hoffmann zuweilen Adjektive reiht und stereotyp verwendet, mit nur wenigen Zeilen Abstand trifft man auf wörtlich gleiche Charakterisierungen. Ganz ähnlich verhält sich dies bei Denners Vater, dessen Vorgeschichte wir aus Aktenauszügen erfahren. Man hatte ihn in Neapel, seinem früheren Wohnort, verdächtigt - ihn „ für einen Alchymisten “, „ für einen Teufelsbeschwörer “ und einen, der „ mit dem Satan im Bündnis stehe “ gehalten. Im Vater finden sich alle Eigenschaften des Sohnes wieder, nur intensiviert: Er ist ein „ Wunderdoktor “ (90), ein „ satanische [r] Wundermann “ und ein „ verruchte [r] Hexenmeister “ (91), ja ein alter Jäger vermag die Wahrheit gegenüber Andres nicht einmal auszusprechen, über den Doktor sagt er nur: „ der Gott sei bei uns! “ (101) und meint den Teufel selbst. Zur Charakterisierung des Vaters zieht Hoffmann demnach verstärkt religiöse beziehungsweise diabolische Attribute hinzu, entsprechend den offensichtlichen Mächten, die Trabacchio besitzt.[130] „Trabacchio erscheint wie der Satan selbst“, für einmal habe Hoffmanns Fantasie, so Adel, ihn „zum eigentlichen Bösen, mit Teufelspakt, Blasphemie, zerwühltem Grab“ geführt.[131]
Es wird verschwiegen, wie Denners Vater aus dem Feuer der Hinrichtung fliehen konnte, sowie woher und auf welche Weise er plötzlich in der Erzählgegenwart, dem Andres immer dicht auf den Fersen, wieder auftauchen kann. Aus dem Nichts erscheint „ der gespenstische Unhold “ in Andres’ Zelle. Kaum geht Andres nicht auf dessen Verführung, Blut zu seiner Rettung zu trinken, ein, verschwindet Trabacchio spurlos und so schnell er gekommen ist „ im dicken Dampf “ (82). Selbiges passiert, nachdem es dem Gericht in Neapel nicht gelingt, ihn durch Verbrennung hinzurichten: „ aber Trabacchio war und blieb verschwunden “ (95). Nicht anders sein Sohn, verfügt er doch dieselbe Resistenz gegenüber Feuer und dieselbe Fähigkeit sich ‚unsichtbar’ zu machen; beispielsweise als das Haus der Trabacchios in Neapel niederbrennt: „ Nur einen Moment dauerte diese Erscheinung [des jungen Ignaz] , sie verschwand plötzlich in den hochaufschlagenden Flammen. “ (94) Und wieder, am Schluss der Erzählung, nachdem Andres den Ignaz niedergeschossen hat, macht sich der Vater unverfolgbar aus dem Staub: „ Die Gestalt des Doktors war verschwunden. “ (103) Als ob das nicht reichen würde, holt er sich anderntags die Leiche seines Sohnes: „ der Leichnam war verschwunden “ und „ ob das nun von wilden Tieren, oder sonst wie bewirkt, blieb im Zweifel.“ (104) Bittere Ironie - der Leser muss auf beunruhigende Weise vermuten, dass Vater Trabacchio sich seiner Kinder nur zu gerne selbst nach dem Tode noch annimmt.
Wie schon erwähnt, stellt Schmidt die Identität Trabacchios als „Kinderfresser“ ins Zentrum, welcher „gleichzeitig die Position des zu erlösenden Menschen und die des erlösenden Gottes besetzt hält.“ Unter diesen Umständen können Ignaz Denner und sein Vater in der Rolle des Arztes als „Spender“ auftreten, sie „heilen Bedürftige“ mit dem Arcanum, der „Essenz des Opfers“ der eigenen Söhne, weshalb sie im eigentlichen Sinne „Gott und Mensch zugleich“[132] - und Teufel müsste man hinzufügen - verkörpern. Es gilt gerade nicht, was Paul glaubt: Dass „das Menschliche und das Teuflische“ in „Ignaz Denner“ „scharf getrennt“ sind.[133]
Mit Zweifeln behaftet ist auch die Identität des unheimlichen Gastes der Bürgermeisterfamilie zu Beginn der Erzählung „Das Gelübde“. Der Gatte und Bürgermeister kann seiner Frau nur soviel sagen, als dass „ die Dame, welche nicht anders genannt sein wolle, als schlechtweg Cölestine “, in ihrem Haus entbinden und dann von der „ Äbtissin des Zisterzienserklosters in O. “ (284) wieder abgeholt werden solle. Mit der Ankunft ihres Vaters „ Graf Nepomuk von C. “ in Warschau bestätigt sich das umgehende Gerücht, dass die inzwischen ob dem Raub des Neugeborenen durch einen noch unbekannten Offizier verstorbene Dame, in Wahrheit „ die Gräfin Hermenegilda von C. “ (290) gewesen ist.[134] Ihr Vater schildert in einem Rückgriff unumwunden wie es zur Wandlung von Hermenegilda zu Cölestine gekommen ist. Der Offizier Xaver von R., der Neffe ihres Verlobten und in fremden Kriegsdiensten kämpfenden Stanislaus, hat sie, während sie sich in einem schlafwandlerischen Zustand befand, vergewaltigt. Schwanger und vom Vater verstossen, legt sie ihre alte Identität als Hermenegilda ab und nimmt die neue, „ in steter Reue und Trauer “ (311) im Kloster als „ Laienschwester Cölestina “ zu leben, an.[135] Sinnbild dieser neuen ambivalenten Identität mit dem Doppelnamen ist der Schleier, den sie ab dem Begehen des „ grauenvollen Gelübdes “ (312) trägt.
Xaver hingegen offenbart sich früh als eigennütziger Bösewicht, wenige Tage nach seinem Eintreffen auf dem Stammgute der Familie Hermenegildas durchschaut er, dass Hermenegilda ihn zuweilen mit Stanislaus verwechselt und macht sich diese „ Verwirrung “ „ von dem sichern Takt fürs Böse im Innern geleitet “ zunutze. Als er Hermenegilda schliesslich eröffnet, dass die Frucht ihres Leibes die seinige ist, dass er sich in der Nacht, in der Stanislaus starb und sie der Vision desselben erlag, im Pavillon an ihr vergangen habe, wird er ihr zum „ Ungeheuer “; auch für die Fürstin ist er durch diese Tat „ der hämischte Geist der Hölle “ (310). Hermenegilda verhüllt ihr Antlitz, „ dessen Schönheit den Teufel anlockte “ (312).[136]
Ein Jahr nach dem Raub des Kindes und dessen Tod, „ verschwand Graf Xaver spurlos, und man glaubte er habe sich den Tod gegeben. “ (312) Der junge Fürst Boleslaw von Z. meint ihn darauf noch als Mönch gesehen zu haben, doch sicher ist das nicht.
„ Mitunter was weniges der Teufel “ (135) ist auch der Maler Berthold dem reisenden Enthusiasten. Doch ob „ Bertholds grausames wahnsinniges Betragen gegen Weib und Kind “ wirklich zu deren Tod geführt hat, erfährt weder er noch der Leser. In den Aufzeichnungen steht bloss „ er hatte sich seines Weibes und Kindes entledigt “ (134), ob umgebracht oder nur losgeworden, die ambivalente Bedeutung von ‚entledigt’ wird nicht aufgelöst. Niemand weiss demnach ob Berthold nur „ ein wahnsinniger Tor “, nach Meinung des Professors, ist oder ob man ihn, wie der Enthusiast, „ für den ruchlosen Mörder “ (135) von Frau und Kind halten soll. Es scheint zumindest sicher, dass er nicht nur ein „ wunderlicher Mensch “ (116), sondern sich selbst „ sein eigner Dämon - sein Luzifer “ (118) war, weil er das Verhängnis über seinem Leben, vom „ Prometheusfunken “ (113) ergriffen, als scheiternder Künstler, selbst herbeiführte.[137] Von ihm heisst es am Schluss der Erzählung nur: „ Dann verschwand er, und da er nicht das mindeste mitgenommen [...] glauben wir alle, er habe sich freiwillig den Tod gegeben. “ (136)
Eine Gräfin, die, ähnlich Hermenegilda, dem Wahnsinn aus Gründen unerfüllter Liebe anheim fällt, ist im „Öden Haus“ die unheimliche Hauptfigur. Gräfin Angelika von Z. war, so erfahren wir es aus der Binnenerzählung des Doktor K., als der Graf S. um sie warb, „ noch in der vollsten Blüte wunderbarer Schönheit “ (188). Doch dieser erblickt ihre Schwester Gabriele und beginnt darauf um deren Hand zu werben. Angelika gibt mit „ stolzem Hohn “ vor, dass sie dies nicht störe. Indes glaubt man, „ sie schweife einsam im nächsten Walde umher “ (189). Offenbar gerät sie unter den Einfluss einer Zigeunerin, die sei bei der Gefangennahme deren Bande errettet und mit ihr in die Gemächer eilt. Bald darauf reist Angelika allein mit dem Kammerdiener als „ Frau, die der alten roten Zigeunerin ähnlich “ (191) sieht, ab nach ***n, in das öde Haus. Dort verfällt sie „ in furchtbaren Wahnsinn “, hat womöglich den Grafen S. ins ebendieses Haus gelockt, ihn genötigt ihr ein Kind zu zeugen und ihn wohl wortwörtlich zu Tode erschreckt. Dass sie im Wahnsinn plötzlich „ die Züge des Zigeunerweibes anzunehmen scheint “ (192), steigert die „Identitätsdiffusion“, die diese Figur umgibt, zusätzlich.[138] Dem Erzähler Theodor widerfährt bei seinem zweiten Eindringen ins öde Haus ein solcher Spuk, die „ hohe jugendliche Gestalt “, die auf ihn zukommt, wird plötzlich zum „ gräulichen alten Weibe “ (184), der ihn rettende Hausverwalter beschimpft sie sogleich als „ Teufel “, „ der alte Satan “ und „ Hexensatan “ (185).
Neben der offensichtlich wahnsinnigen Gräfin ist aber auch er kein geheurer Zeitgenosse; Für einmal eine hoffmannsche Figur ohne Namen, macht Theodor erstmals seine Bekanntschaft im sich neben dem öden Haus befindenden Konditorladen. Nach Angaben des Konditors wohnen im Haus nur „ zwei lebendige Wesen “, „ ein steinalter menschenfeindlicher Hausverwalter und ein grämlicher lebenssatter Hund “ (die Gräfin rechnet er bemerkenswerterweise nicht dazu, obwohl er, zusammen mit seinem Bruder, mehrmals „ die Stimme eines alten Weibes “ (166) vernommen hat). Der Hausverwalter mit Hund betritt gerade in dem Moment, als der Konditor Theodor die spukhaften Ereignisse schildert, den Laden. Obwohl der Alte öfters dort einkauft, weiss der Konditor nur, dass er „ Kammerdiener des Grafen von S. war, dass er jetzt hier das Haus verwaltet “. Der „ wunderliche Alte “ (169) wird Theodor wegen seines seltsamen Betragens gar „ zum fatalen Hexemeister, zum verdammten Zauberkerl “ (170). Der Leser erfährt - wie Theodor - auch am Schluss der Erzählung nicht mehr über ihn, als dass er im Umgang mit der alten Gräfin aus heutiger Sicht ziemlich unorthodoxe Methoden anwendet - Theodor, ‚in den Klauen’ der Gräfin, erblickt ihn „ eine tüchtige Peitsche über dem Haupte schwingend. “ (185) Doch kommt er dem Wahnsinn der Gräfin auch durch „ harte grausame Misshandlungen “ nicht bei und scheint ihr, als sie ihm vorgibt, „ dass sie Gold zu machen verstehe “, sogar gewogen und hilft ihr „ alles Nötige dazu herbeizuschaffen. “ (193) Damit gehört er, mit der Gräfin, in jene ‚Kategorie’ unheimlicher hoffmannscher Gestalten, die sich an geheimnisvollen, wissenschaftlich-alchimistischen Experimenten versuchen und vornehmlich in den Erzählungen „Das Majorat“ und „Der Sandmann“ eine tragende Rolle spielen.
Der ehemalige Freiherr Roderich von R. beschäftigte sich Gerüchten zufolge mit „ astrologischer Arbeit “, er sei „ geheimer Wissenschaft “, der „ schwarzen Kunst “ (196) erlegen, der er im „ Kabinett “ „ auf der höchsten Spitze des Wartturms “ (195) gefrönt habe. Er ist derjenige, der das Schloss „ zu einem Majoratsbesitztum “ (196) bestimmte, welches sich - zusammen mit seinem „ rauhen, wilden Wesen “ - „ auf die ganze Familie “ (198) vererbte. „ Die unheimliche Sterndeuterei “ (245) scheint ihn immerhin dazu befähigt zu haben, seinen eigenen Tod sowie den Einsturz des Turmes vorauszusagen. So ist er durch die Einsetzung des Majorats hauptschuldig am Niedergang der Familie, lange verborgen aber bleibt die nicht minder verheerende Beteiligung seines Dieners Daniel: „der schürte und schürte an dem Brande “ (277), der zum Mordanschlag führen sollte, sozusagen über Generationen hinweg und entpuppt sich als „ Mörder “ (274), weshalb er - zum Revenant, zum wiedergängerischen Gespenst geworden - in der Gegenwart der Erzählung durch den Gerichtssaal spuken muss. Mit dem erstgebornen Sohn und damit nachfolgenden Majoratsbesitzer Wolfgang geriet Daniel in einen Streit, während dem ihn jener mit den Worten „ Dich, du alter heuchlerischer Schurke, der du mit dem alten Vater das unheimliche Wesen triebst dort oben, der du dich, wie ein Vampir an sein Herz legtest “ (245f.) gescholten hat. Und tatsächlich scheint Daniel genau dies zu sein, denn in der Folge nutzt er, von Rache getrieben, den Bruderzwist zwischen Wolfgang und Roderichs jüngerem Sohn Hubert, um auf den Älteren einen Mordanschlag zu verüben. Seit er Wolfgang von der Pforte zum Turm in die Tiefe stiess, geht er - vorerst als Nachtwandler - nach seinem eigenen Tod - als Gespenst durch den Saal und kratzt, sein Verbrechen anzeigend, an der inzwischen zugemauerten Turmpforte. Er ist der „ Dämon “ (254), der von Wolfgang unwissentlich erfragt wird, derjenige, der Hubert ins Schloss lockte sowie einer von den „ Teufeln “ (258) über Huberts Haupt, der ihn veranlasste auf den Mordplan einzugehen.[139]
Unheimlichen, alchimistischen Versuchen widmen sich während Nathanaels Kindheit auch Coppelius und der Vater, wie Roderich, kosten sie Letzteren das Leben. Die wohl am eindrücklichsten und schauerlichsten geschilderte Figur aller „Nachtstücke“ gibt ihre wahre Identität, auch nach Nathanaels Tod, nicht preis. Im Studentenalter glaubt Nathanael Coppelius sei wieder hinter ihm her, dem Bruder seiner Verlobten Clara, Lothar, schreibt er, dass „ das Entsetzliche, was [ihm] geschah “ ‚nur’ „ ein Wetterglashändler “ (7) sei, der seine Stube betreten habe. Seit seiner Kindheit stellt sich Nathanael die Frage - Ist jener „ Schicksalspopanz “ (27), der „ Advokat Coppelius “ (11), „ der Sandmann “ aus dem Ammenmärchen, der sich der Kinder Augen holt (Vgl. 9) oder ein „ piemontesische [r] Mechanicus “ mit Namen „ Giuseppe Coppola “? (16) - Und sind die drei ein- und dieselbe Person? Oder ist er gar „ Dämon “ (25), „ Satan “ (15), „ ein böses feindliches Prinzip “ und „ teuflische Macht “ (25), die je nach Ansicht der Beteiligten der Erzählung real, in der Aussenwelt (was Nathanael glaubt) oder nur im Inneren, der Gefühls- und Vorstellungswelt (worauf Clara und Lothar bestehen) wirken kann?[140]
Für die besondere ‚Unheimlichkeit’ der Sandmann-Figur spricht gerade, dass ihr, entgegen allen anderen „Nachtstücke“-Figuren, keine Motivation für ihr Tun, keine Herkunft und keine Beziehung zu den übrigen Charakteren zugeschrieben wird. Coppelius/Coppola kommt und geht wie aus dem Nichts, er ist nicht wie ein Ignaz Denner mit einer für den genealogischen Fortbestand und zur Arzneigewinnung wichtigen Nachkommenschaft an eine Tochter gebunden, er begeht kein aus heilloser Leidenschaft anrüchiges Verbrechen wie Xaver (oder keines, das ihm mit Sicherheit zugeschrieben werden kann) und ist ebenfalls nicht wie Angelika und Daniel von Eifersucht und Demütigung getrieben: „von seinem Innenleben erfährt man nichts“.[141]
Damit ist Coppelius eine ‚Mentorgestalt’, wie der hoffmannsche Figurentypus von der Forschung oft benannt wird. Von Matt beobachtet die Identitätslosigkeit an allen diesen „Mentorfiguren“ und meint damit diejenigen, die die meist jungen, männlichen Protagonisten der Erzählungen entweder ins Verderben stürzen - was Coppelius mit Nathanael tut - oder einer höheren Einsicht zuführen - wozu etwa Archivarius Lindhorst Anselmus im „Goldenen Topf“ verhilft. Deren „Identität“ bleibe stets „rätselhaft“, mindestens „schillernd“, weil sie im Grunde aus nichts anderem als der „Funktion innerhalb der Erzählung“ besteht.[142]
Mit einer sehr genauen Berücksichtigung textueller Details findet Falkenberg Hinweise, die auf die von Nathanael angenommene Identität von Coppelius/Coppola hindeuten.[143] Nebst den Beschreibungen seines Äusseren und seiner Sprache, sei, so Falkenberg, vor allem der Gebrauch des Wortes ‚ehrlich’ von Nathanael in Bezug auf Coppelius merkwürdig. Im dritten Brief beteuert er in der Weise inständig, dass es schon fast wieder verdächtig ist, dass Coppelius und Coppola, der mit italienischem Akzent spricht, nicht identisch sein können, denn: „ Coppelius war ein Deutscher, aber wie mich dünkt kein ehrlicher. “ (20) Nach Falkenberg benutze Nathanael hier das Wort ‚ehrlich’ an Stelle von ‚echt’ oder ‚wirklich’, was bedeuten könne, dass „Coppelius was „not truly a German after all.““ Gleichzeitig werfe die Äusserung aber auch die Frage nach Coppelius’ Verlässlichkeit auf, indem sie impliziere, dass „Coppelius was a lying or deceiving German“ und somit die Sicherheit, die sich durch die Worte Nathanaels beim Leser einstellen sollte, geradezu aus dem Weg geräumt würde.[144] ‚Ehrlich’ mit anderer Konnotation verwendet Nathanael nachdem er dem Coppola das Perspektiv abgekauft hat:
„[...] sah er wohl ein [...] dass Coppola ein höchst ehrlicher Mechnanicus und Opticus, keineswegs aber Coppelii verfluchter Doppeltgänger und Revenant sein könne. “ (31f.)[145]
Hier bedeute, wie Falkenberg weiter ausführt, ‚ehrlich’, dass Coppola ‚wahrhaftig’ ein Mechanicus oder Opticus ist, nehme aber durch die oben zitierte, seltsamere Verwendung von ‚ehrlich’ wiederum Fragen nicht nur bezüglich „the honesty of Coppola as a salesman“, sondern auch seiner „earnestness as a person“ mit auf. Somit erscheine die merkwürdige Verwendung des Wortes ‚ehrlich’ je einmal für Coppola und einmal für Coppelius, was die beiden Männer weiter miteinander in Verbindung bringe. Höchst seltsam ist jedenfalls auch der seltene Genitiv des obigen Zitats ‚Coppelii’, statt dessen man eher eine Präpositionalphrase erwarten würde. Falkenberg zeigt aber eindrücklich, wie die Vokalstruktur von ‚Coppelii’ einerseits näher bei ‚Coppola’ liegt, weil so „the names of the two characters both end in vowels.“ Andererseits würde durch das doppelte ‚i’, im Falle es sich bei Coppola und Coppelius um ein- und dieselbe Person handelt, deren „doubling onomatopoetically“ reproduziert.[146] Bestätigen kann diesen Befund Falkenbergs auch die Tatsache, dass der Genitiv ‚Coppelii’ nur einmal und wohl nicht zufällig dort, wo von einem ‚Doppeltgänger’ die Rede ist, vorkommt. Ansonsten lauten die Genitive „ Coppolas “ (30, 33 2x, 34, 44) beziehungsweise „ Coppelius’ “ (16, 20). Allerdings sind dies nur dahingehend auslegbare Hinweise, „hard evidence“ bezüglich der Identität Coppelius’ und Coppolas gibt einem der Text zu keiner Zeit.[147]
Das erste „Nachtstück“ enthält eine weitere, fast noch fürchterlichere Figur: Die vermeintlich lebendige ‚Tochter’ des Professors Spalanzani, das Automat Olimpia. Entgegen der Ahnung des Lesers, dass es sich bei Olimpia wegen des starren Aussehens, auf das der nächste Abschnitt eingehen wird, um eine leblose Nachahmung einer menschlichen Gestalt handelt, lässt es der Erzähltext bis zur Enthüllung im Kampf Coppola gegen Spalanzani genau genommen nicht zu, ihr den Automat-Status unwiderlegbar zuzuweisen. Bezeichnenderweise in dem Moment, als Nathanael am Ende des von Spalanzani veranstalteten Balles Olimpia küsst, die Kälte ihrer Lippen spürt, „ sich von innerem Grausen erfasst “ fühlt und an „ die Legende von der toten Braut “[148] denken muss, geschieht das Ungeheuerliche:
„[...] aber fest hatte ihn Olimpia an sich gedrückt, und in dem Kuss schienen die Lippen zum Leben zu erwarmen. “ (36)
Gleichzeitig zu Nathanaels Wahrnehmung flunkert einem auch der Text, als wäre er selbst ein Automat, über sprachliches Machwerk Olimpias Lebendigkeit vor.[149] Nicht wie an anderen Stellen, wo Nathanael im Zusammensein mit ihr die agierende Person ist, wird sie plötzlich zum Agens des Satzes. Lohr registriert, dass Olimpias Erscheinung beim Ball, selbst wenn sie sich bewegt, völlig statisch beschrieben wird, weil Hoffmann für einmal auf Bewegungsverben verzichtet.[150] Dies ändert sich aber allmählich und suggestiv, bis auch ihr Verben der Bewegung eingeschrieben werden: „ Und damit ist die Verlebendigung der Maschine komplett. “[151]
Ein weiteres textuelles Indiz ihrer Verlebendigung wird unten bei der Erläuterung ihrer Gesichtszüge genannt. Zusätzlich frappierend ist die Wortwahl, mit der beschrieben wird, wie Nathanael Olimpia zum erneuten Tanzen bewegt:
[...]
[1] Leserinnen sind selbstverständlich mitgemeint. Der Einfachheit halber beschränke ich mich im vorliegenden Text jeweils auf eine, die männliche und kürzere Form.
[2] Janssen, 1986, S. 73. Dasselbe Bild ergibt sich bezüglich des Films. Auch hier demonstrieren die zahlreichen neueren Thriller wie bildgewaltig und storytechnisch intelligent das Unheimliche heute in Szene gesetzt werden kann. Ebenso wenig fehlt dabei die literarische Epoche der Romantik: Der kürzlich erschienene Kinofilm „Brothers Grimm“ (2005) zeigt die Gebrüder Grimm als vermeintliche Geister jagende Scharlatane, die unversehens in das Geschehen der uns bekannten und von ihnen gesammelten Volksmärchen hineingeraten.
[3] Vgl. Werber, 2004, S. 27.
[4] Crouch (englisch für ‚Hocke’ oder ‚kauern’) End ist ein realer, nördlich abgelegener Vorort Londons.
[5] Ein ‚Towen’ oder ‚Touen’ bezeichne, so einer der Beamten, in einer alten Druidensprache einen Ort für rituelle Opfer. Die übrigen fremdartigen Wörter lassen sich mit dem bereits im einleitenden Gespräch der beiden Polizisten gefallenen Namen ‚Lovecraft’ verbinden und sind mythisch-monströse Figuren des für das 20. Jahrhundert herausragenden Autors fantastischer Literatur Howard Philips Lovecraft (1890-1937). Stephen King versteht es, sich in seiner Erzählung bezüglich der Gestaltung des Raums und der fremden Wesen sprachlich überaus dicht an Lovecraft anzunähern.
[6] Feldges und Stadler, 1986, S. 265.
[7] Hillebrand, 1999, S. 78 nach einem Wort von Charles Nodier 1832.
[8] Vgl. Hillebrand, 1999, S. 77-81 und Feldges und Stadler, 1986, S. 268-281.
[9] Vgl. Steinecke, 1989, S. 1.
[10] Kaiser, 1990, S. 416.
[11] Vgl. Kaiser, 1990, S. 416-418.
[12] Vgl. Feldges und Stadler, 1986, S. 258f., 262 und 267. Trotzdem wurde Hoffmann immer gelesen, seine Werke neu aufgelegt. Diese „Differenz zwischen Rezeption und Forschung“ hebt sich erst allmählich im Zuge der Reformation der Germanistik zu Beginn der 1970er Jahre auf, als die Trivialliteratur mit zum Untersuchungsgegenstand wurde (Vgl. Janssen, 1986, S. 8 und 10).
[13] Freud, 1947, S. 246.
[14] So zeigt einem der Blick in vorhandene Bibliographien der Hoffmann-Forschung, dass die psychoanalytische Diskussion, vor allem bezüglich des „Sandmanns“, mit fast gleich vielen Texten aufwarten kann wie die übrigen kritischen Ansätze (Vgl. beispielsweise mit Kaiser, 1990, S. 379-391 oder Petzel, 1992, S. 188-210).
[15] Es wird im Verlauf der Arbeit an der ‚alten’, auch von Hoffmann noch verwendeten Schreibweise des Wortes ‚Automat’ mit neutralem Artikel ‚das’ und der Pluralform ‚die Automate’ festgehalten, welche der Sachlichkeit eines Automats ohnehin näher kommt.
[16] „ Mir vorgenommen einmal wenn die gute Zeit da sein wird zu Nutz und Frommen aller Verständigen die ich bei mir sehe ein Automat anzufertigen! - Quod deus bene vertat! “ (Zitiert nach Matt, 1971, S. 175f.).
[17] Momberger, 1986, S. 90.
[18] „ Die Auffassungen, die in den ‚Fantasie- und Nachtstücken’ und in den ‚Serapions-Brüdern’ diskutiert werden, sind nicht nur differenziert, sondern - vor allem, wenn man sie aus dem Kontext herauslöst - des öfteren sogar widersprüchlich. “ (Stegmann, 1976, S. 64).
[19] Vgl. Momberger, 1986, S. 91.
[20] Eine solche Gesprächsform hat „etwas Konstruktivistisches. Hoffmann verzichtet auf die Beschreibung der Erzählsituation, auf Ort, Zeit und Umstände des Gesprächs sowie auf die gestalthafte Konkretisierung der Gesprächspartner. [...] Allein die Argumente zählen.“ (Kanzog, 1976, S. 46).
[21] Die Texte der „Nachtstücke“ werden im Folgenden mit Seitenzahl zitiert nach: Hoffmann, E. T. A.: Nachtstücke. Kaiser, Gerhard R. (Hrsg.). Philipp Reclam. jun.: Stuttgart 1990 (= RUB 154). Textstellen aus anderen Werken Hoffmanns werden mit Band-, Teil- und Seitenzahl wiedergegeben nach: Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in fünfzehn Teilen. Grisebach, Eduard (Hrsg.). Hesse & Becker Verlag: Leipzig 1905 (5 Bde). Die übrigen zeitgenössischen Quellen werden ebenfalls mit Seitenzahl nach den in der Bibliographie gelisteten Ausgaben zitiert. Alle in die Zitate der Primär- und Sekundärliteratur eingelassenen eckigen Klammern für Auslassungen oder Kommentare und Fettdrucke für Hervorhebungen sind, wo nicht anders angegeben, vom Verfasser getätigt.
[22] Hillebrand, 1999, S. 16.
[23] Vgl. beispielsweise Deterding, 1991, insbesondere die S. 13, 18 und 284.
[24] Schmidt, 1999, S. 186f.
[25] Schmidt, 1999, S. 187. Sie begründet dies mit einem einzigen Wort in der obigen Leseranrede aus dem „Sandmann“: „ Kommt dem Verb „sein“ hier eine existentielle Bedeutung zu, oder fungiert es als Hilfsverb zu „erfunden“? “ Im 19. Jahrhundert sei es, auch für Hoffmann, stilistisch üblich gewesen die Hilfsverben ‚sein’ und ‚haben’ auszulassen. Dies lege „zunächst die Deutung nahe, dass „ist“ hier im existenziellen Sinne zu lesen“ sei - was für die Wahrhaftigkeit des Erzählten sprechen würde. Die an die Leseranrede anschliessende „Erörterung der psychischen Auswirkungen des künstlerischen Produktionsprozesses auf den Künstler, die darauf verweist, wie lebendig ihm das Fiktive werden kann“, würde jedoch die zweite Deutung - diejenige der Erfindung - evozieren (Vgl. Schmidt, 1999, S. 187).
[26] Schmidt, 1999, S. 183.
[27] Über das „ werf’ ich euch das skurrile Gleichnis hin “ (159) wird ausserdem klar, dass neben Lelio mindestens ein weiterer, bis anhin nicht genannter Gesprächspartner anwesend sein muss. Spalanzani wird im „Öden Haus“ nur im Rahmengespräch und ohne wertenden Kommentar erwähnt, wohingegen er im „Sandmann“ als unheimlicher, vermessener „ Mechanicus “ (42) auftritt. Der Naturwissenschaftler Lazzaro Spallanzani (1729-99) unternahm Versuche zur künstlichen Fortpflanzung von Tieren (was Hoffmanns Unwillen geweckt haben könnte) und schloss 1794 über das Orientierungsvermögen geblendeter Fledermäuse tatsächlich auf einen sechsten Sinn derselben (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 20,18f. S. 347 und 159,25-27 S. 363f.).
[28] Kaiser, 1990, Anm. 159,30 S. 364.
[29] Über den Namen ,Theodor(os)’ ergibt sich eine der vielen Parallelen zum „Sandmann“, er ist die griechische Entsprechung zum hebräischen ‚Nathanael’ mit der Bedeutung ‚Gottesgabe’. Hoffmann leiht seinen zweiten Vornamen zudem dem Erzähler im „Majorat“ (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 7,2 S. 345).
[30] Deterding, 1999, S. 211. Ebenso erkennt Lieb in diesem „Gewöhnliche[n] und Alltägliche[n]“ den „Auftakt zu poetischen Imaginationen“ (Lieb, 2002, S. 68).
[31] Feldges und Stadler behaupten, Hoffmann habe mit dieser Begrifflichkeit „fast wörtlich die Definition des Unheimlichen von Freud aus dem berühmten Aufsatz von 1919 vorweggenommen.“ (Feldges und Stadler, 1986, S. 52) Dies ist, obwohl Freud in seiner Definition des Unheimlichen von „Altbekannte[m]“ (Freud, 1947, S. 231) spricht, meiner Meinung nach nicht haltbar. Hoffmann beruft sich sicherlich nicht wie Freud auf ein Konzept des Verdrängten, sondern auf dasjenige der Fantasie. Erscheinen die Darstellungen auf den Blättern Callots ‚fremdartig bekannt’, passiert dies, weil man solche Figuren und ihre Gebärden im Grunde auch im Alltag ausmachen kann, der Künstler Callot sie aber mittels der Fantasie ins Fremdartige, Skurrile und Groteske überträgt. Feldges und Stadler erkennen jedoch richtig, dass sich „der dem Autor [Hoffmann] immer wieder, und mit Recht, zugewiesene Zug des Unheimlichen“ bereits im Essay über Callot als Kennzeichen finde (Feldges und Stadler, 1986, S. 52).
[32] Hillebrand, 1999, S. 14f. Für die Fortwirkung der Callotschen Manier und ihre Wichtigkeit für Hoffmanns Kunstschaffen Vgl. die Arbeiten Woodgate[1] und Woodgate[2], 1999 (dort insbesondere die S. 124-126 und 154-156). Sie ist auch allein am Vermerk ‚Vom Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier’ zu erkennen, mit dem die Erstveröffentlichungen der „Elixiere des Teufels“ und der „Nachtstücke“ versehen worden sind (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 1, S. 344f.). „Für letztlich alle seine Texte“ konstitutiv beurteilt Momberger „das Grundprinzip der aus den heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen, das Hoffmann in Jaques Callot entwickelte“ (Momberger, 1986, S. 88).
[33] Iehl, 1998, S. 128.
[34] Vgl. Sorg, 2004, S. 20-22.
[35] Momberger, 1986, S. 89.
[36] Dies ist eine der zahlreichen Stellen, wo Hoffmann die in der Einleitung erwähnten Vorwürfe des Krankseins seiner Texte aufgreift.
[37] Vgl. Momberger, 1986, S. 89f.
[38] Momberger, 1986, S. 91.
[39] Momberger, 1986, S. 91f.
[40] Vgl. Momberger, 1986, S. 90.
[41] Diesen Aufsatz hat Freud mit dem seinigen entschieden abgewertet und rhetorisch verunglimpft. Er gibt an, Jentsch verwende den Terminus der „intellektuellen Unsicherheit“ (Freud, 1947, S. 231) als Auslöser des unheimlichen Gefühls. Jentsch spricht aber vom Gegenteil, von einer intellektuellen Sicherheit, die durch die Bedrohung des Unheimlichen ins Wanken geraten kann (Vgl. Falkenberg, 2005, S. 65). Den „ausgezeichneten Fall“ des Unheimlichen sieht Jentsch zudem im verunsichernden Eindruck der Beseeltheit in der Begegnung mit „Wachsfiguren, kunstvollen Puppen und Automaten“ (Vgl. Freud, 1947, S. 237).
[42] Vgl. Falkenberg, 2005, S. 19-22.
[43] Vgl. Falkenberg, 2005, S. 29f. Wie im nächsten Kapitel ersichtlich werden wird, hätte Falkenberg die Metapher der optischen Täuschung gerade für einen ‚nur so von Optik strotzenden’ Text wie dem „Sandmann“ noch fruchtbarer verwenden können, statt grösstenteils ‚nur’ der Identität von Coppelius und Coppola nachzuspüren und dabei die Figur der Olimpia, die einer optischen Täuschung gleichkommt, zu vernachlässigen.
[44] Momberger, 1986, S. 82.
[45] Momberger, 1986, S. 105.
[46] Vgl. Momberger, 1986, S. 105f. Dies geschieht zu Beginn der 3. Vigilie des „Goldenen Topfes“, die Überschrift gibt vor, es handle sich um die Familiengeschichte des Archivarius, was folgt ist aber eine gänzlich mythische Erzählung. Diese wird plötzlich unterbrochen, der Leser erfährt, dass sie in Dresden in einem Kaffeehaus geschildert wurde. Der erzählende Archivarius behauptet darauf von seinem Bruder, dieser sei unter die Drachen gegangen, hält also mitten in der ‚Realität’ am ‚Mythos’ fest (Vgl. Momberger, 1986, S. 102).
[47] Momberger, 1986, S. 107. Ein Beispiel hierfür ist Tusmann in „Meister Floh“. Dort besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dessen schwarz glänzendem Überrock und dem „latenten Signifikanten / Egel /“, die sich verdichtet bis Tusmann tatsächlich die Eigenschaften des Egels annimmt und sich „in einer neuen phantastischen Einheit“ ringelt wie ein Wurm (Vgl. Momberger, 1986, S. 106f.).
[48] Pollet, 1998, S. 111. Er bezieht sich an dieser Stelle auf Vax, Louis: La séduction de l’étrange. Paris: 21987.
[49] Werber, 2004, S. 32.
[50] Pollet, 1998, S. 112. Der Ausruf Claras (über den kleinen grauen Busch, der auf sie und Nathanael zuzuschreiten scheint) gegen Ende des „Sandmanns“, kann hier als Beispiel dienen. Clara würde dort an dieselbe „Pädagogik der Metapher“ glauben, wie die Mutter Nathanaels, die zu dessen Verhängnis für Coppelius die Metapher des Sandmannes einführt. Der Sinn der Metapher des grauen Busches verflüchtigt sich jedoch im tatsächlichen Auftreten Coppelius’, dem graue, buschichte Augenbrauen sowie graue Kleidung zu eigen sind (Vgl. Pollet, 1998, S. 118 und die S. 54, 58f. und 69 der vorliegenden Arbeit).
[51] Pollet, 1998, S. 111. In diesem Sinne „bricht die phantastische Literatur [nicht jede, sicherlich aber die Hoffmanns] mit allen Codes: dem Code der Wahrscheinlichkeit (das evozierte Ereignis oder Phänomen hat das Alltägliche als Rahmen, der die realistischen Texte umgibt) und dem erzählerischen Code (die sprechende Stimme kann sich ihrer Rolle als Garant der ungewöhnlichen Tatsachen verweigern oder entziehen).“ (Ponnau, 1998, S. 153).
[52] Momberger, 1986, S. 107.
[53] Momberger, 1986, S. 104. Deshalb lässt sich selbst eine so moderne Theorie des literarischen Fantastischen wie die Tvzetan Todorovs nicht gänzlich auf die Texte Hoffmanns anwenden. Todorov nennt zwar ebenfalls die Ambiguität als zentrales Merkmal dieser Art von Literatur, behauptet dann aber, dass diese ständig zwischen den Polen des Unheimlichen und dem Wunderbaren schwingt, bis sich der Leser zum Schluss für eine Seite entscheidet und die Ambiguität somit auflöst. Bei Hoffmanns „Ineinander der beiden Ebenen“ würden diese sich jedoch „in ihrer Heterogenität relativieren“ und „jede Eindeutigkeit des Sinns“ auflösen (Vgl. Momberger, 1986, S. 101f.). Selbiges bei Falkenberg, 2005, S. 34.
[54] Freud, 1947, S. 237. Zu diesem Ergebnis kommt Freud vor allem über den Eintrag im Grimmschen Wörterbuch, wo die eine Bedeutung von ‚heimlich’ als „ es ist mir heimlich, wohl, frei von furcht... “ und „ heimlich ist auch der von gespensterhaften freie ort... “ wiedergeben wird, während eine zweite besagt: „ die bedeutung des versteckten. gefährlichen, die in der vorigen nummer hervortritt, entwickelt sich noch weiter, so dasz heimlich den sinn empfängt, den sonst unheimlich [...] hat “ (Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: 1877, IV/2 S. 874f. zitiert nach Freud, 1947, S. 236f.).
[55] Freud deutet Nathanaels Angst vor Augenraub und Blendung als „Kastrationsangst“ und die Konstellationen Vater-Coppelius beziehungsweise Spalanzani-Coppola als „Spaltungen der Vater-Imago“. Unter diesen Voraussetzungen wäre Olimpia dann „die Materialisation von Nathaniels [sic] femininer Einstellung zu seinem Vater“ (Freud, 1947, S. 243f.). Hingegen bemerkt Freud für das Ende der „Elixiere des Teufels“ durchaus richtig, dass dort die „bisher vorenthaltenen Voraussetzungen der Handlung“ dem Leser zwar „nachgetragen werden“, dies aber keine „Aufklärung“, „sondern eine volle Verwirrung desselben“ schaffen würde (Freud, 1947, S. 246). Beim Schluss des „Sandmanns“ ist er allerdings zu voreilig: Dieser würde es „klar“ machen, „dass der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist“ (Freud, 1947, S. 242). Eine solche Klarheit ist alles andere als gegeben, das Erzählende eine erneute Verrätselung. Vgl. S. 102f.
[56] Köhn, 1966, S. 4.
[57] Vgl. Fühmann, 1980, S. 46f.
[58] Fühmann, 1980, S. 52. Man darf an dieser Stelle nicht ausser Acht lassen, dass Fühmann, so lesenswert und trefflich geschrieben seine Hoffmann-Essays sind, als damaliger Autor der DDR gleichsam seine eigene Lebenserfahrung mit einbezieht: Den gespenstisch gewordenen Alltag in einem übermächtigen Staat. Dies ist besonders ersichtlich an einer Bemerkung zu „Das Majorat“: „Wie da eine ökonomische Kategorie, das Fideikommiss, als Geschichte erzählt wird, als eine Geschichte von Geschichte, wie sich da der Spuk der Vergangenheit mit der Zukunftserwartung von Entsetzlichem überschneidet“ und „die Institution [sich] verselbständigt und [...] Macht [wird] gegenüber lebendigen Menschen.“ (Fühmann, 1980, S. 26) Eine solche Lesart des „Spuk[s] des Ererbten“ widerspiegelt „das ganze Ausmass der Fesselung der DDR-Bürger an ihren Staat.“ (Kohlhof, 1992-93, S. 203).
[59] Wittkopp-Ménardeau, 2004, S. 97.
[60] Um den redenden Türken dreht sich Hoffmanns Fragment „Die Automate“ in den „Serapionsbrüdern“. Die lebendigtote, doch „ wohlgestaltete Figur “ mit „ geschmackvoller türkischer Kleidung “ (III,7,74f.) vermag es, was selbst am Schluss ungeklärt bleibt, orakelgleich auf persönlichste Fragen der Umstehenden zu antworten.
[61] Mayer, 2000, S. 56.
[62] Die Erzählungen Hoffmanns kommen durchaus ohne diese ‚Staffierung’ aus. Orte, Figuren und ihr Charakter werden mehr schemenhaft-funktional bis formelgleich - in verschiedenen Erzähltexten - wiedergegeben, was das nächste Kapitel dieser Arbeit deutlich macht. Hoffmann beherrscht aber auch das Gegenteil. So lebt beispielsweise der Beginn des „Majorats“ enorm von einer Häufung bekannter, staffierender Schauerelemente - und bleibt trotzdem nicht ohne Wirkung! Vgl. S. 63.
[63] Vgl. Miller, 1978, S. 51 und 53. Nach Momberger ist die Verstörung, der Bruch selbst in den Märchen, z.B. am Schluss des „Goldenen Topfes“ noch präsent, wenn der Erzähler zugibt, keine Worte für die Umschreibung von Atlantis zu finden. Es handelt sich nicht um ein ‚herkömmliches’ Märchen, wo das oben von Miller genannte geschlossene System einer zweiten Wirklichkeit vorherrscht, sondern um eines, wie Hoffmann es selbst betitelt, ‚der neuen Zeit’, eines, in dem gar das Bruchstückhafte anwesend ist und die geschlossene, vollkommene Illusion einer ‚höheren’ Welt verhindert wird (Vgl. Momberger, 1986, S. 84). Unter diesen Gesichtspunkten könnte die These der vorliegenden Arbeit des unheimlichen Textkonstrukts selbst für die Hoffmannschen Märchen nutzbar gemacht werden.
[64] Mayer, 2000, S. 60.
[65] Momberger, 1986, S. 141f. Die zitierte „Sandmann“-Passage mit den verschiedenen Anfängen der Geschichte, die der Erzähler durchprobiert hat, weisen den Text klar als „poetische Maschinerie“ aus (Vgl. Momberger, 1986, S. 143).
[66] Momberger, 1986, S. 143.
[67] Momberger, 1986, S. 143. Vgl. mit Gilles Deleuzes Definition: „ Le simulacre est précisément une image démoniaque, dénuée de ressamblance; [...] S’il produit un effet extérieur de ressamblance, c’est comme illusion, et non comme principe interne; il est lui-même construit sur une disparité, il a intériorisé la dissimilitude de ses séries constituantes, la divergences des ses points de vue, si bien qu’il montre plusieurs choses, raconte plusieurs histoires à la fois. “ (Différence et répétition, S. 167 zitiert nach Momberger, 1986, Anm. 30 S. 252) Einschneidend hierzu sind auch Mombergers Ausführungen zum ‚Serapiontischen Prinzip’ Hoffmanns und zu seinem letzten poetologischen Text „Des Vetters Eckfenster“, der im Übrigen von der Forschung oft als Hinwendung zu einer realistischen Schreibweise gewertet wurde. Ganz anders Momberger: Der Blick des todkranken Vetters auf den Marktplatz „ ist nicht der Blick der Romantik, der die Erscheinung, das Sensible, zu durchdringen sucht, um das Intelligible zu fassen. Aber auch nicht der Blick des Realismus, der die Dinge in ihrer Objektivität zu erfassen sucht. [...] Es ist ein Blick, der nach Willkür das Gewimmel durchschneidet, ein Blick, der zunächst frei über das tableau schweift, um sich dann an irgendeinem Detail festzumachen. Jedes Ereignis, jede Person, jede Einzelheit ist diesem Blick gleich viel wert; er sucht nicht die Ordnung des Ganzen, sondern den möglichen Effekt der Teile. [...] Der Blick des Vetters betrachtet das Marktgewühl als eine Ansammlung von Zeichen, aus denen er bestimmte Dinge (Signifikanten gleichsam, die von ihren Signifikaten abgelöst sind) herausnimmt, um sie neu zusammensetzen. [...] Es ist so in der Tat ein Blick der Simulacren schafft: er ist nicht bloss rezeptiv, sondern produktiv, konstruierend. “ (Momberger, 1986, S. 176) Das konstruierte Geschaute, das im Serapiontischen Prinzip Hoffmanns die Grundvoraussetzung zur Dichtung bildet, „das innere Gebilde, das phantasma, ist seinem Wesen nach bereits Zeichen, Schrift; [...] Der Akt des Schreibens und der daraus resultierende Text sind der eigentliche Ort des Simulacrums . “ (Momberger, 1986, S. 175).
[68] Vgl. Momberger, 1986, S. 165.
[69] Momberger, 1986, S. 172.
[70] Pollet, 1998, S. 122.
[71] An dieser Stelle könnte wiederum, aufgrund der Namensverwirrung, auch ‚Franz’ stehen (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 159,30 S. 364).
[72] Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 160,26 S. 364.
[73] Lieb, 2002, S. 62.
[74] Eine solche Moral sei „- aus der Tradition der aufklärerischen Gespenstergeschichte des 18. Jahrhunderts gesehen - nicht ungewöhnlich“. In dieser werde „ein ‚Fall’ [...] vorgetragen in der Absicht, seine Wahrscheinlichkeit in Frage zu stellen oder die Sache als Betrug blosszustellen.“ Der zu Beginn des Kapitels zitierte erste Satz des Rahmengesprächs des „Öden Hauses“ würde jedoch „bereits einen anderen Inhalt der „Moral““ andeuten: „die Erzählung steuert nicht auf die ‚natürliche’ Erklärung seltsamer Erscheinungen zu, die allein beweist, was von Anfang an bewiesen werden soll, sondern sucht die Bedingungen der Erkenntnis und die Kriterien von Wahrheit und Irrtum.“ (Kanzog, 1976, S. 50). Kriterien, denen sich in gleicher Weise der Leser in der Begegnung mit dem Text stellen muss.
[75] Deterding, 1999, S. 214.
[76] Deterding, 1999, S. 214f.
[77] Segebrecht, Wulf: E. T. A. Hoffmanns Auffassung vom Richteramt und Dichterberuf. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 11 (1967), S. 135 zitiert nach Kanzog, 1976, S. 56f.
[78] Hillebrand, 1999, S. 24.
[79] Momberger, 1986, S. 104.
[80] Miller, 1978, S. 48.
[81] Deterding, 1999, S. 293.
[82] Hillebrand, 1999, S. 22.
[83] Hillebrand, 1999, S. 22.
[84] Vitt-Maucher, 1992-93, S. 175.
[85] Der Begriff ‚hoffmannesk’ wird in dieser Arbeit gelegentlich fallen; im Bewusstsein, dass er nicht undifferenziert zu verwenden ist. Kanzog befasst sich in einem Aufsatz mit der Entstehung und dem Gebrauch des Wortes ‚hoffmannesk’ in der Forschung. Dabei stellt er fest, dass der „Angelpunkt“ für eine Definition des „Hoffmanesken“ das „Groteske“ sei, das als „Herausforderung des Lesers, Verzerrungen mit besonderer Aufmerksamkeit wahrzunehmen“ insbesondere von der „Suggestivität“ der Hoffmannschen Figuren ausgehe (Vgl. Kanzog, 1997, S. 8). Weiter führt Kanzog aus, dass sich das ‚Hoffmanneske’ in Zusammenhang mit der frühen, um 1829 einsetzenden, französischen Rezeption von Hoffmanns Eigenart des Fantastischen sowie als Stilbegriff für die seine Motivkomplexe aufnehmenden Opern herausgebildet habe (Vgl. Kanzog, 1997, S. 10-15).
[86] Feldges und Stadler, 1986, S. 52. Als Ausnahme könnte man „Ignaz Denner“ betrachten, den Hoffmann schon 1814 unter dem Titel „Der Revierjäger“ verfasst hatte, später den Titel und das Ende änderte und in die „Nachtstücke“ einfügte. (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 46,1 S. 351). Die Änderung des Titels ist keinesfalls unberechtigt, wie Fühmann sie sieht (Vgl. Fühmann, 1980, S. 117f. und 143), da Hoffmann in der Regel den Hauptgegenstand des Interesses bereits in den Titel rückt (Vgl. Kanzog, 1976, Anm. 39 S. 58). Handschriftlich erhalten geblieben ist zudem eine Erstfassung des „Sandmanns“, datiert mit „d. 16. Novbr. 1815 Nachts 1 Uhr“ (Vgl. Walter, 1984, S. 18).
[87] Kaiser, 1990, S. 400.
[88] Der „Zauberer“ Hoffmann lasse einen auch in den „drolligsten Szenen [...] nicht einen Augenblick vergessen [...], dass er das Reich der Schatten bereist hat, wenn er uns auch in Sicherheit wiegt und uns lachen macht.“ (Wittkopp-Ménardeau, 2004, S. 122). Vgl. zu den Enden von „Das Sanctus“ und „Das Steinerne Herz“ S. 103-105.
[89] Feldges und Stadler, 1986, S. 53.
[90] Vgl. Kaiser, 1990, S. 396.
[91] Feldges und Stadler, 1986, S. 53.
[92] Auch auf Rembrandt und Höllenbreughel bezieht sich Hoffmann explizit. Im Märchen „Der goldene Topf“ bei der Leseranrede der 7. Vigilie (lateinisch für ‚Nachtwachen’) wird das Ritual der alten Rauerin mit dem „ Anblick [eines] Rembrandtschen oder Höllenbreughelschen Gemäldes “ (I,1,218) verglichen.
[93] Vgl. Punter, 1996, S. 29f.
[94] Vgl. Kaiser, 1990, S. 397.
[95] Vgl. Kaiser, 1990, S. 399f.
[96] Feldges und Stadler, 1986, S. 54.
[97] Vgl. Kaiser, 1990, S. 398f.
[98] Feldges und Stadler, 1986, S. 54.
[99] Vgl. Charue-Ferrucci, 1998, S. 163. Sie bezieht sich auf: Vax, Louis: La séduction de l’étrange. Etude sur la littérature fantastique. Paris: 1987.
[100] Punter, 1996, S. 18. Mindestens für Hoffmanns „Elixiere des Teufels“ steht fest, dass er sich von einer englischen gothic novel, Matthew Gregory Lewis’ „The Monk“ (1796), inspirieren liess, da diese gar Handlungsträger in Hoffmanns Roman wird. Aurelie berichtet in ihrem Bekenntnisbrief, wie sie das aus dem Englischen übersetzte Buch, „ Der Mönch “ fand, las und ob der unheimlichen Parallelen zu ihren jüngsten Erlebnissen erschauerte: „ Es war mir, als könne jenes Buch mir manchen Aufschluss geben [...] die wunderbare Geschichte riss mich hin [...] da ergriff mich namenloses Entsetzen “ (I,2,192). Kremer weist aber darauf hin, dass „Die Elixiere des Teufels“ in ihrem „hohe[n] Mass an psychologischer und semiotischer Komplexität [...] die Vorlage des Schauerromans überschreiten“ (Kremer, 2003, S. 143).
[101] Die Feinfühligkeit von Tieren gegenüber dem ‚Bösen’ ist ein oft verwendetes Motiv in unheimlichen Erzählungen und Filmen. Vgl. beispielsweise mit den Möwen und Raben in „Das Majorat“, S. 63 dieser Arbeit, und Heinrich von Kleists „Bettelweib von Locarno“ (1810), wo mit Hilfe des Hundes, der vor dem Geist der Bettlerin zurückweicht, ‚bewiesen’ wird, dass es sich beim Spuk nicht um eine psychische Einbildung der Marquise und des Marchese handeln kann.
[102] Fühmann, 1980, S. 122.
[103] Vgl. Jennings, 1984, S. 60. Der zweite Beleg findet sich in der Erzählung „Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde“.
[104] Vgl. für die Funktion solch intertextueller Verweise S. 90-100. Friedrich Schiller mit seinem „Geisterseher“ (1787-89) gilt für Punter neben Heinrich Zschokke als herausragender Autor einer Tradition von Schauerliteratur in Deutschland, die, selbst von der englischen Bewegung der gothic novel beeinflusst, rückwirkend die englische Schauerliteratur nach 1790 geprägt hätte (Vgl. Punter, 1996, S. 30, 56 und 58). Nehring bestätigt, dass man „in England gern den Einfluss der deutschen Literatur für das Grelle und Grauenhafte“ geltend mache, man aber nicht ausser Acht lassen dürfe, dass sich der „Sinn für das Spannende, das Schauerliche, das Unheimliche“ in der deutschen Romantik seit ihren Anfängen über die Transzendierung und Poetisierung von Alltäglichem ergeben habe und deshalb nicht „zwischen dem Romantischen und dem Schauerlichen“ getrennt werden könne (Vgl. Nehring, 1992-93, S. 39). Wie im ersten Kapitel und oben für die „Elixiere des Teufels“ erwähnt, beginnt Hoffmann aber das aus der Romantik bekannte Unheimliche und Fantastische bereits neuen Formen zuzuführen.
Ebenso verneint es Freund, dass man in Deutschland von einer ‚Tradition’ der Schauerliteratur sprechen könne. Das zur Zeit der Romantik vermehrte Aufkommen fantastischer Literatur sieht er im Zusammenhang mit der Hochkonjunktur der Novelle um 1800. Die Gattung der Novelle mit ihrem konstitutiven Element einer unerhörten Begebenheit sei geradezu prädestiniert, die „Dialektik von Realem und Wunderbarem“ des Fantastischen in sich aufzunehmen (Vgl. Freund, 1978, S. 9f.).
[105] Hier findet sich einer von weiteren Anklängen an Heinrich von Kleists Erzählungen in den „Nachtstücken“ - im Falle des obigen Zitats an „Das Bettelweib von Locarno“, wo es heisst: „ es war, als ob ein Mensch [...] quer über das Zimmer ging, und hinter dem Ofen, unter Geseufz und Geröchel niedersank. “ (II,197).
[106] Ähnlich paradox verhält es sich mit einem Tier im „Öden Haus“. Als der Hausverwalter seinen Hund im Konditorladen tritt, bricht dieser „ in ein menschliches Weinen “ (168) aus.
[107] Die Angabe „ Vor längst verflossner Zeit “ (46) zu Beginn der Erzählung täuscht über den Fakt hinweg, dass „das Räuberwesen [...] zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland durchaus noch verbreitet“ war (Kaiser, 1990, Anm. 46,1 S. 351). Dem wäre hinzuzufügen, dass die in „Ignaz Denner“ - wie in allen „Nachtstücken“ - häufig auftretenden alchimistischen Versuche und Phänomene des Magnetismus eine Art ‚Tagesaktualität’ besassen. Das Unheimliche der fiktiven Geschehnisse befand sich für den zeitgenössischen Leser also noch in nächster Nähe.
[108] Das Jahr 1760 wird in den „Nachtstücken“ mehrmals erwähnt: In „Das steinerne Herz“ sollen sich die Gäste des Festes des Hofrats, das „ alle drei Jahre am Tage Mariä Geburt “ (8. September) stattfindet, „ nach der Mode des Jahres 1760 “ kleiden, sich „ in das Kostüm des Jahres 1760 werfen “ (319). Das Jahr 1760 müsste somit, dem Namen des Festes nach, die ‚alte Zeit’ sein. Leider lässt sich heute nicht mehr eruieren, inwiefern dieses Jahr für Hoffmann von Bedeutung war. „ Am Tage Mariä Geburt “ fügt der Neffe zudem dem Grabmal mit dem steinernen Herzen die Schlussworte der „Nachtstücke“ „ Es ruht! “ (340) hinzu.
[109] Vgl. hierzu beispielsweise mit Heinrich von Kleists „Bettelweib von Locarno“, wo sich der Spuk genau dreimal, immer unter Beisein eines neuen Zeugen, erhebt oder mit Hoffmanns „Spukgeschichte“ im zweiten Band der „Serapionsbrüder“, wo die Gestalt der weissen Frau jeweils um neun Uhr abends erscheint. Als weiteres Beispiel kann hier durchaus das fast zum Pflichtrepertoire eines jeden in einem Hotel spielenden Thrillers oder Horrorfilms gehörende Zeichen der beim Schliessen der Tür von einer Sechs zur Neun fallenden Zimmernummer angeführt werden, welches meist auf einen bevorstehenden Mord oder Ähnliches hindeutet.
[110] Lohr, 2000, Anm. 150 S. 190.
[111] Schmidt, 1983, S 20.
[112] Zusätzlich möchte Denner, dass, im Falle er nach drei Jahren nicht wieder erschienen sei, das Kistchen an Andres’ und Giorginas Sohn vererben sowie dass dieser bei seiner Firmung den Beinamen Ignatius erhält. Sehr merkwürdig und auffällig ist seine Wortwahl nach der Nennung des zweiten Wunsches: „ Seht, das ist der zweite Dienst den ich von Euch fordere. “ (53) Die Wendung ‚seht’ erinnert sofort an die prophetische Sprache der Bibel, was den Räuberhauptmann schon zu Beginn der Erzählung in die Nähe des Religiösen rückt. Für weitere Anklänge an biblische Sprache Vgl. S. 51. Imada beobachtet zudem, wie sich die Verben innerhalb der Formulierung der Wünsche Denners allmählich von ‚ersuchen’ über ‚fordern’ hin zu ‚verlangen’ auf wörtlicher Ebene steigern (Vgl. Imada, 1997, S. 49).
[113] Vgl. Walter, 1984, S. 22.
[114] Mit der dreimaligen Reihung der Neun lässt sich zudem die Zahl 999 assoziieren, die, als Umkehrung von 666, ebenso in Verbindung mit dem Teufel oder dem Antichristen verwendet wird. In Hoffmanns Erzählung „Der Magnetiseur“ aus den „Fantasiestücken“ erreicht die Titelgestalt ihre Opfer jeweils am 9.9. um 9 Uhr abends. (Vgl. Rohrwasser, 1992, S. 33 und Anm. 4 S. 43).
[115] Schmidt bezieht sich mitunter auf Sigmund Freud, der im Zusammenhang mit einer Teufelsneurose (!) im 17. Jahrhundert anmerkt, dass die Neunzahl bei neurotischen Schwangerschaftsfantasien oft auf die Zahl der Schwangerschaftsmonate hindeute. Die Schwangerschaft, die in „Ignaz Denner“ fantasiert werde, sei aber „nichts anderes als die imaginierte Selbstzeugung der Laboranten“. In den Trabacchios sieht Schmidt eine Neuverwertung des mythischen Motivs des ‚Kinderfressers’, der sich das Produkt der von ihm „verursachten Schwangerschaft wieder einverleibt“, um gleichzeitig den Prozess der Schwangerschaft selbst umzukehren, „so dass sie in Form eines Rückstosses schliesslich ihre produktive Kraft als Verjüngung entfaltet.“ (Vgl. Schmidt, 1983, S 20).
[116] Vgl. Walter, 1984, S. 22.
[117] Die Funktion dieser in den „Nachtstücken“ einzigartig präzisen Zeitangabe kann nur darin liegen, den Realitätscharakter des eingetretenen Unheils zu bekräftigen. Zusätzlich grenzt Lohr mit Hilfe derselben die „Krise“ Nathanaels, die Dauer vom ersten Besuch des Coppelius/Coppola in seiner Studierstube bis zu seinem Tod, auf neun Monate erzählte Zeit ein: „ Sie beginnt am 30. Oktober mittags um 12 Uhr, und sie endet im Spätsommer des darauffolgenden Jahres. “ (Lohr, 2000, Anm. 150 S. 190).
[118] Was an dieser Mittagsstunde allerdings seltsam anmutet Vgl. S. 69.
[119] Lohr, 2000, S. 180.
[120] Solche Koinzidenzen treten in Hoffmanns Erzählungen meist im Zusammenhang mit Phänomenen des Magnetismus auf, werden aber nie gänzlich geklärt. Vgl. z.B. mit „Der Magnetiseur“, worin ein Major von ähnlichen, sich immer zur alljährlichen Tages- und Nachtgleiche ereignenden und 24 Stunden dauernden Anfällen geplagt wird.
[121] Hohoff, Ulrich: E. T. A. Hoffmann - Der Sandmann - Textkritik, Edition, Kommentar. Berlin, New York: 1988, S. 236 zitiert nach Lohr, 2000, S. 181.
[122] Gerade hier nimmt sich die Zeit der Mitternacht höchst zweideutig aus: Als Zeitpunkt der „Mitternachts-Hora“, die „den Wechsel zu einem neuen Tag symbolisiert“ und als Zeit des Feierns von Christi Geburt, wird die Mitternacht, wo Hoffmann in anderen Erzählungen „Gespenstererscheinungen platziert“, im „Sanctus“ mit dem Verhängnis für Zulema zu einer für ein „Nachtstück“ idealen dunklen Zeit: „ Damit wird der Leser einmal mehr im Unklaren gelassen, welche Deutung die richtige ist: dass das Christliche Licht in die Welt bringen wird, oder der Weg frei ist für „Nächtliches“, wobei letzteres auch die Wirkung von Musik inkludiert, denn diese wurde nicht nur als Himmelssprache, sondern, dank ihrer Wirkung auf das empfindsame Gemüt, auch als verderbliche dämonische Macht erfahren. “ (Vgl. Starzinger, 2004, S. 73f.).
[123] Walter, 1984, S. 19. Weiter noch geht hier Lohr, der die „Vermengung von Zeitebenen“ bei gleichzeitigem Wertlegen auf „präzise Zeitangaben“ Nathanaels, sogar als Indiz für pathologische „Störungen des Zeitempfindens“ wertet und denselben deshalb auch als „zeitkrank“ bezeichnet (Vgl. Lohr, 2000, S. 169 und 179).
[124] Vgl. Schroeder, 2001, S. 25.
[125] Lohr, 2000, S. 169.
[126] In Schillers Erzählung hat der Graf die gleiche Initiale wie in der vorliegenden der Justitiarius: V.
[127] Für eine weitere Deutung dieser gedrängten Sprache Vgl. S. 72 und 86f.
[128] Der Nachname bezieht sich möglicherweise auf den deutschen Maler Balthasar Denner (1685-1749) (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 46,1 S. 351).
[129] Dem kundigen Hoffmann-Leser kann der ‚graue Mantel’ allerdings allein Indiz für eine unheimliche Person sein. Vgl. hierzu S. 58f.
[130] Seltsam in dieser Hinsicht ist auch die Altersangabe zu Denners Vater, laut Eingeborenen von Neapel ist er „ an die achtzig Jahre alt “, dies aber „ vor langen Jahren “ (88f.). Dieses Faktum unterstreicht die übernatürlich anmutende Wiederkehr Trabacchios in die Erzählgegenwart, in der er übermenschlichen Alters sein müsste.
[131] Adel, 1972, S. 117.
[132] Schmidt, 1983, S. 23.
[133] Zudem behauptet Paul, dass „kein Zug von Giorginas Wesen“ an ihre Herkunft erinnere (Vgl. Paul, 1998, S. 144f.). Er übersieht dabei ihre „ lebhaften blitzenden Augen “ (47) und ihr schwarzes Haar (Vgl. 57), die sie in die Nähe des Aussehens von Denner rücken. Vgl. S. 50. Selbst Andres erscheint mit „solch leitmotivischer Insistenz“ als fromm, dass man geneigt ist - wie Fühmann es mit seiner Interpretation tut - die Worte Denners, „ du [...] gottesfürchtiger Narr “ (66), gegenüber Andres zu bejahen und auch diesen als zweifelhafte Figur, die bis ins Verderben hinein ihren Herren gehorcht, zu beurteilen (Vgl. Kaiser, 1990, S. 404 und Fühmann, 1980, S. 142f. sowie S. 101 der vorliegenden Arbeit).
[134] Rohde, der sich mit dem Polenbild Hoffmanns in „Das Gelübde“ befasst, erachtet den Namen der Protagonistin als sprechend. So könne Hermenegilda, als weibliche Form von Hermenegild, auf den gleichnamigen Heiligen verweisen, den Sohn eines Westgotenkönigs, der, dem arianischen Glauben abschwörend, eine Christin heiratete und dafür vom eigenen Vater hingerichtet wurde. Ähnlich wendet sich Hermenegilda von der Vaterlandsliebe ab und stirbt, als sie Trost im christlichen Glauben sucht (Vgl. Rohde, 2001, S. 39). Was Rohde ausser Acht lässt, ist der Klostername Cölestine, der mit der Bedeutung „die Himmlische“, „dem Himmel geweihte“ (Kaiser, 1990, Anm. 284,7 S. 371) für ihre Unschuld steht. Es zeigt sich hier jedenfalls, dass Hoffmann seinen Figuren zuweilen Namen verleiht, die eng mit der Handlung der Erzählungen verwoben sind.
[135] Hierin gleicht sie einer weiteren verschleierten Figur der „Nachtstücke“. Im „Sanctus“ wird die heidnische Sängerin Zulema als Gefangene gezwungen, im Kloster zu leben und erhält einen christlichen Namen, Julia, der sie die alte Identität vergessen machen soll. Der Name Zulema trägt zudem intertextuelle Bedeutung. Vgl. S. 94.
[136] Dies - wie die gesamte Erzählung - erinnert stark an Heinrich von Kleists „Marquise von O...“ (1808), die Hoffmann ziemlich sicher als Inspiration gedient hat. Die Marquise fällt bei einem, allerdings realen, Ansturm von Soldaten in Ohnmacht und wird nach dem schändlichen Vergehen durch Graf F. schwanger. Sie bezeichnet diesen gegen den Schluss ebenfalls als „ Teufel “ (II,143).
[137] Berthold ist von daher einer der typischen ‚Helden’ Hoffmanns, denen er es „stets zur Aufgabe macht, zwischen Idealbild und realer Frau zu differenzieren, und zwar so, dass ästhetisches Streben mit dem Idealbild verknüpft wird, aber die Erfüllung dieses Ideals nur in der Kunst und nicht in der Realität liegt“ (Vgl. Schmidt, 1999, 186). Berthold macht prinzipiell denselben Fehler wie Nathanael im „Sandmann“. Er glaubt in Prinzessin Angiola sein Idealbild der heiligen Katharina erkannt zu haben und dieses in Angiola real besitzen zu können. Für Nathanael wird die Maschine Olimpia zur idealen Frau, die er begehrt, während er Clara vergisst. M. E. haben auch die beiden Theodore des „Öden Hauses“ beziehungsweise des „Majorats“ unter diesem ‚Prozess’ zu leiden, können ihr Unheil aber abwenden.
[138] Vgl. Lieb, 2002, S. 67. Die Erzählung „Das öde Haus“ birgt nach Lieb weitere solche ‚Identitätsdiffusionen’, die mit den Namen der Figuren zusammenhängen. Da dies zur Lesersuggestion beiträgt, wird in Kapitel 4, S. 80f. darauf eingegangen.
[139] Man darf aber nicht vergessen, dass ihn Wolfgang behandelt hat „ wie einen räudigen Hund “ (277). Somit lässt Hoffmann „den mörderischen Affekt Daniels aus einer schweren Demütigung des Dieners entspringen“ (Kaiser, 1990, S. 411) und macht Daniel damit zu einer nicht vollends negativen Figur.
[140] Rohrwasser macht zudem auf die „schamananischen Züge der Coppelius-Figur“ aufmerksam: „ In Schamananen-Riten finden sich viele Versatzstücke der Hoffmannschen Zauberer-Figur: Auseinandernehmen und Zusammensetzen des Körpers, Ausstechen der Augen, durchdringender Blick, die Eule als Schamanentier, die auf dem Weltenbaum ausgebrüteten und geätzten Schamanenkinder, die suggestive Beeinflussung der Opfer, das Eindringen in den Kopf, die magische Zahl neun, die Schmiede, der Schamane als Meister des Feuers etc. “ (Rohrwasser, 1992, Anm. 10 S. 43).
[141] Lohr, 2000, S. 136. Wie Denners Vater kann Coppelius spurlos verschwinden: „ Coppelius liess sich nicht mehr sehen, es hiess, er habe die Stadt verlassen. “ (14) Als man ihn verurteilen will, „ war er aber spurlos vom Orte verschwunden. “ (15) und „ Coppola war auch verschwunden. - “ (43). Hoffmann arbeitet oft mit Gerüchten in seinen Texten. Dieses ‚es hiess’ kann aber für keine Wahrheit bürgen. Wer sagt es? Inwiefern hat das Gesagte Gültigkeit? Unter dem Deckmantel der Informationsvermittlung entstehen nur neue Informationslücken, die weitere Rätsel und ‚Unheimlichkeiten’ schaffen.
[142] Vgl. Matt, 1971, Anm. 3 S. 168. Oft bedienen sich diese Mentorfiguren der oben genannten Idealbilder einer Frau. Ist die Mentorfigur böswillig, nimmt sie ein Automat, ein Trugbild oder ein gemaltes, sich gespenstisch belebendes Gemälde einer Frauengestalt um die Protagonisten in die Irre zu führen.
[143] Dass der Name ‚Coppola’ aus dem italienischen Wort ‚coppo’ für ‚Augenhöhle’ folgt und sich auf diese Weise besonders mit der Motivik des Augenraubs und mit dem Optischen, um das sich der ganze Text dreht, verwebt, ist hinlänglich bekannt. Kaiser weist zudem auf ‚coppella’, ‚Schmelztiegel’, hin, was die Bedeutungsschicht der alchimistischen Versuche mit ins Blickfeld nimmt (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 11,14 S. 345).
[144] Vgl. Falkenberg, 2005, S. 106.
[145] Nach Falkenberg ist hier „no reason to assume that Coppelius has died“ und dieser deshalb im eigentlichen Sinne des Wortes kein Revenant sein kann. Die Wortwahl bestätige aber für den Leser wiederum, dass Nathanael seinen oberflächlich verworfenen Verdacht in Wahrheit noch hege, dass „Coppelius has indeed returned, disguised as Coppola.“ Ausserdem würde sich die Überzeugungskraft des zitierten Satzes von Nathanael, die Bestimmtheit, die ‚sah wohl ein’ impliziere, durch die Unsicherheit (den Konjunktiv) in ‚sein könne’ letztlich verflüchtigen (Vgl. Falkenberg, 2005, S. 103f.).
[146] Vgl. Falkenberg, 2005, S. 106f.
[147] Vgl. Falkenberg, 2005, S. 107.
[148] Ein intertextueller Verweis auf Goethes Ballade „Die Braut von Korinth“ (1798) (Vgl. Kaiser, 1990, Anm. 36,21f. S. 349).
[149] Die Erzählperspektive ist derart nah bei Nathanael, dass er selbst Erzähler dieses sein könnte. Da kein wertender Kommentar eines klarer ausgewiesenen auktorialen Erzählers gegeben wird, bleibt für den Leser nur die Unsicherheit, ob sich die obige Szene wirklich so begeben hat oder ob in die Perspektive Nathanaels, die trügen kann, gewechselt wurde.
[150] Sie erscheint, es heisst nicht etwa, dass sie ‚auf-tritt’, ‚auf-taucht’, ‚in Erscheinung tritt’ oder derlei (Vgl. Lohr, 2000, S. 108).
[151] Schroeder, 2001, S. 31.
- Arbeit zitieren
- Master of Arts UZH Thomas Meyer (Autor:in), 2006, Das Grauen im konstruierten Erzähltext: Zu E.T.A Hoffmanns „Nachtstücken“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199578
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