Behinderte in einem System der Ungleichheit


Vordiplomarbeit, 2002

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung

2 Definition
2.1 Behinderung definiert im Schwerbehindertengesetz
2.2 Definition der Behinderung in der Gesellschaft
2.3 Behinderung aus sozialwissenschaftlicher Sicht
2.3.1 Schädigung
2.3.2 Stigmatisierung

3 Gesellschaft Behindert
3.1 „Man ist nicht behindert, man wird behindert“
3.2 Die Norm bestimmt
3.3 Defizithypothese
3.4 Folgen im Gesellschaftssystem
3.5 Armut als verstärkender Faktor
3.6 Ausgrenzung der Behinderten aufgrund wirtschaftlicher Interessen

4 Personengebundene Veränderungen
4.1 Verleumdung – Ungewissheit - Aggression
4.2 Neuorganisation

5 Lebensweltwandlungen
5.1.1 Lebensgeschichte
5.1.2 Das Selbstkonzept
5.2 Strukturelle Veränderungen
5.2.1 Angehörige und Berufswelt
5.3 Soziale Veränderungen
5.3.1 Identität
5.3.2 Freizeit
5.3.3 Stabilisierung
5.3.4 Begegnung
5.3.5 Partizipation
5.4 Zusammenfassung

6 Schlusswort

Vorwort

Behindert? – Damit habe ich nichts zu tun. Auch für mich galt dieser Ausspruch.

Ich hatte noch nie in meinem Leben Kontakt zu geistig oder körperlich behinderten Menschen. Sie waren nicht ausgeblendet - aber bewusst waren sie mir tatsächlich nicht. Oft kann man sich damit herausreden, daß es wohl zu schwierig sei, in kurzer Zeit die Sachverhalte und Umstände eines behinderten Menschen zu ergründen und nachzuvollziehen.

Man tritt höflich zur Seite, öffnet Türen, erhebt sich mühselig von Sitzplätzen und wirft scheue Blicke den behinderten Mitmenschen nach.

Aber Kontakte irgendeiner Art kommen wohl sehr selten oder gar nicht zustande. Ausstellungen wie „Der [im]perfekte Mensch“ in Dresden werden oft als skurrile Kunstwerke wahrgenommen. So wird ein anzustrebender Austausch zwischen den Nichtbehinderten und Behinderten kaum angeregt. Es scheint, als ob zwei Welten nebeneinander existieren würden.

Doch mir drängt sich die Frage auf, warum?

1 Einleitung

In Deutschland leben 6,6 Mill. körperlich behinderte Menschen[1]. Dies ist ein Anteil von rund 8% der Bevölkerung. Jedoch besteht zwischen Behinderten und Nichtbehinderten eine Kluft, welche an Brisanz nicht verliert. Nichtbehinderte wissen meist nicht, wie sie sich angemessen verhalten sollen und meiden daher Kontakte; manche fühlen sich bereits durch den Anblick eines körperbehinderten Menschen gestört und provoziert. Es hilft kaum, wenn sie daran erinnert werden, dass sie selbst plötzlich als Folge einer Erkrankung, eines Verkehrs- oder Arbeitsunfalls für den Rest ihres Lebens schwer behindert sein können.

Für Nichtbehinderte ist es nicht nachvollziehbar, welche Veränderungen im Leben durch eine plötzliche Behinderung auftreten und erfolgreich bewältigt werden müssen. Denn in diesen Prozessen, welche durch den kürzlich behindert gewordenen Menschen zu leisten sind, kann man dem Problem der Behinderung in der Gesellschaft näher kommen und Ansatzpunkte für Veränderungen finden. Dies würde bedeuten, dass es möglich wird das Problem der Ausgrenzung durch eine „Andersartigkeit“ aufzudecken oder zu prüfen. Diese Prozesse möchte ich ansprechen und beispielhaft untersuchen. Unter Berücksichtigung anderer Fachgebiete, wie z.B. Psychologie und Recht, werden wissenschaftliche Ansatzpunkte und Zugänge für die Grundannahme der Behinderung offengelegt. Als Kern sollte die Veränderung der Lebensweltbedingungen einer Person dienen, welche erst kürzlich behindert geworden ist. Diese Person habe ich im Laufe meiner Arbeit häufig besucht und konnte so theoretische Wissensgrundlagen überprüfen. Da dieses Thema sehr subjektiv empfunden wird, muss davon Abstand genommen werden, diese Aussagen zu generalisieren. Sie sind Auszüge einer Lebensgeschichte, welche im Jahr 2000 begonnen hat und bis heute nicht abgeschlossen ist. Oft bewegt man sich dabei auf zwiespältigem Territorium, denn Subjektivität und Emotionalität sind nicht zu verachtende Faktoren.

2 Definition

Behinderung wird im allgemein daran erkannt, dass irgendetwas als fehlerhaft oder defekt erscheint: im Körperbau, in den Bewegungsabläufen, in der Wahrnehmung, im Verhalten... Ein solcher Begriff von Behinderung, der an dem äußerem Bild eines Individuum festgemacht wird, gehört zunächst in die Kategorie des Alltagswissens. Eine objektive Diagnose fällt in die Zuständigkeit der Medizin. Hier gelten indessen grundsätzlich keine anderen Maßstäbe. Scheinbar subjektive Eindrücke sollen nach wissenschaftlichen Kriterien überprüft und so in gesicherte und sozialrechtlich handhabbare Erkenntnisse überführt werden. (siehe §3 SchwbG) Behinderung wird als Schädigung, ein Unvermögen, ein Nicht-Können verstanden. Diese Interpretation berücksichtigt eine rein medizinische Sichtweise, man betrachtet pathologische Faktoren, körperliche und geistige Beeinträchtigungen.
Eine eindeutige Definition ist, so Speck, unrealistisch, es besteht die Gefahr der Verkürzung oder gar der Stigmatisierung. Behinderung ist an

sich schon ein komplexer Begriff, der aus verschiedenen Teilbegriffen resultiert:

- aus einer organischen Schädigung
- aus individuellen Persönlichkeitsfaktoren und
- aus sozialen Bedingungen und Einwirkungen

Erst das Zusammenwirken aller drei Faktoren ergibt das Phänomen Behinderung. (Speck, 1993, S. 40)

2.1 Behinderung definiert im Schwerbehindertengesetz

Die gesetzliche Grundlage für die Definition der Behinderung von Menschen, liefert das Schwerbehindertengesetz. Es definiert im § 3 Abs. I SchwbG Behinderung wie folgt:

Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist die Auswirkung

einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung,

die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten.

Diese eindeutige Definition lässt wenig Spielräume der Interpretation dieses Gesetzestextes zu. Daher ist Behinderung klar charakterisiert und erlaubt eine Einteilung der betroffenen Menschen in diese Kategorie und den damit verbundenen Hilfeleistungen.

2.2 Definition der Behinderung in der Gesellschaft

Wie definiert aber die Gesellschaft Behinderung? Es ist anzunehmen, dass hier eine Abweichung von der neutralen Fassung des Gesetzestextes stattfindet. Gründe für diese könnten sein, dass persönliche Erfahrungen eingebracht werden die das Verhalten gegenüber behinderten Menschen wesentlich beeinflussen. Gesellschaftssysteme unterliegen Wandlungen und diese ermöglichen oder verbieten Umgangsformen. Möglich ist dies indem Normen und Werte aufgestellt werden. Sie kontrollieren das Verhalten der Gesellschaftsindividuen maßgeblich.

Behinderung wird als ein Zustand dauernder defizienter Abweichung von der Norm erlebt. Im Gegensatz zur Krankheit wird von einem entgültigem Defekt ausgegangen, der von der Medizin nicht „repariert“ werden kann. Durch den Ausschluss des Krankheitsbegriffes ist Behinderung in der Gesellschaft negativ definiert, und die fließenden Grenzen zwischen chronischer Krankheit und Behinderung erschweren eine eindeutigere Definition. (Haemer, A., 1994, S.19)

Haemer fragt aber nach, ob diese anscheinend medizinische Definition wirklich ihren Ursprung in der Naturwissenschaft hat. Er vermutet eher soziale Kriterien. Hintergrund solcher Wertimplikationen sind, ausgesprochene oder unausgesprochen, Leitbilder wie Gesundheit und Evolution, die als mehr oder weniger naturwissenschaftlich geprägte Vorstellungen auf ihre Tragweite hin näher anzusehen sind.

2.3 Behinderung aus sozialwissenschaftlicher Sicht

In dieser Sichtweise werden die Alltagssituationen und sozialen Konsequenzen berücksichtigt. Denn Behinderung ist ein individuell-qualitatives Problem, welches nicht nur durch die medizinische und rechtliche Sichtweise abzugrenzen ist, unf oft sehr unabhängig voneinander erfolgt. Die sozialwissenschaftliche Sicht richtet sich primär auf die Schädigung und dessen gekoppelte soziale Stigmatisierung. (vgl. Mühlfeld, 1989, S.10) Es wird deutlich, dass Behinderung keine rein körperliche oder geistige Beeinträchtigung ist. Das gesellschaftliche Umfeld hat eine wichtige Bedeutung. Hier könnten Barrieren abgebaut werden, um Menschen mit individuellen Problemen die Bewältigung des Alltags und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern.

Nimmt man noch einmal Bezug zu Haemer, ist der Ausgangspunkt für die medizinische Praxis immer ein subjektives Verständnis von Krankheit und Behinderung, welches geschichtlich bzw. gesellschaftlich bedingt wird. Seidler schreibt folgendermaßen: „ Vermutlich gibt es Krankheit (wie Behinderung) niemals anders als in konkreten sozialen Zusammenhängen (Seidler, E., 1975, S.48ff)

2.3.1 Schädigung

Eine Schädigung wird ebenso wie in der Medizin auf „Abweichung von der Norm“ festgelegt und nach Dauerhaftigkeit unterschieden. Jedoch werden die seelischen und sozial konstituierten Normabweichungen hinzugezogen, welche auf der medizinisch und psychisch feststellbaren Ursachen beruhen.

2.3.2 Stigmatisierung

Aufgrund physischer, psychischer und oder sozialen Merkmalen werden Menschen bewertet. Weicht eine Person von sozialen Vorstellungen ab, wird sie negativ belastet und mit dieser Eigenschaft behaftet.

Erfolgt diese Bewertung aufgrund einer Behinderung, dann kann diese nachhaltige Auswirkungen auf den Betroffenen haben. Jedoch sind diese Definitionen von der Gesellschaftsform abhängig und unterliegen ständigen Wandlungen.

3 Gesellschaft Behindert

3.1 „Man ist nicht behindert, man wird behindert“

Dieser Ausspruch ist weit bekannt. Doch wieso trifft dieser zu? Das Recht und die Medizin erklärt Behinderung eindeutig. Grund für diese Aussage ist die schon erwähnte Stigmatisierung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Identität des Betroffenen derart verändert, dass von den sozialen Normierungen abweichende Verhaltensweisen vermehrt auftreten oder sich manifestieren. Eine normale Folgereaktion auf die Zuschreibung der Abweichung, d.h. die Fremdtypisierung anders zu sein, wird auf das eigene Selbstbild übernommen (Bohle, 1984, 6f.), so dass dieser Status festgelegt und verstärkt wird. Weitere Prozesse dieses Vorganges sind die soziale Ausgrenzung und die darauffolgende Selbstausgrenzung.

[...]


[1] Lt. Datenreport v. 1999

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Behinderte in einem System der Ungleichheit
Hochschule
Ernst-Abbe-Hochschule Jena, ehem. Fachhochschule Jena  (Fachbereich Sozialwesen)
Veranstaltung
Behindert in einem System der Ungleichheit?
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
23
Katalognummer
V19960
ISBN (eBook)
9783638239783
ISBN (Buch)
9783638646338
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Behinderte, System, Ungleichheit, Behindert, System, Ungleichheit
Arbeit zitieren
Dipl. Sozialpädagoge Tobias Nachtrab (Autor:in), 2002, Behinderte in einem System der Ungleichheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19960

Kommentare

  • Gast am 8.7.2004

    Kritischer Blick.

    Diese Arbeit wirft einen kritischen Blick auf die Problematik der Behinderung durch Gesellschaft.

Blick ins Buch
Titel: Behinderte in einem System der Ungleichheit



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