Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Roland Barthes´ Mythenkonzeption nach „Mythen des Alltags“
2.1. Der Mythos als Rede – der Mythos als semiologisches System
2.2. Mythenrezeption nach Roland Barthes
3. Analyse
3.1. Einleitende Vorbemerkungen zu „LTI“
3.2. Auswahl der Beispiele
3.3. Analyse: Von Klemperer zu Barthes
3.4. Victor Klemperer als Mythologe nach Roland Barthes?
4. Fazit und Ausblick
5. Literaturverzeichnis
6. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Ziel dieser Arbeit ist es, zwei sprachwissenschaftliche Arbeiten aufeinander zu beziehen, für die schon bei einer rein formalen Betrachtung eine Reihe von Parallelen und Gemeinsamkeiten festgestellt werden können. Sie wurden beide in der unmittelbaren Nachkriegszeit veröffentlicht: Victor Klemperers „LTI. Notizbuch eines Philologen“ (im Folgenden nur: „LTI“) erschien 1947, die Einzelanalysen Roland Barthes´ in der späteren Zusammenstellung „Mythen des Alltags“ in den Jahren von 1952 bis 1956. Die Gesamtausgabe von 1956 enthält zudem einen zusätzlichen Abschnitt mit theoretischen Betrachtungen (Neumann 2009, S. 98). Eine weitere augenfällige Gemeinsamkeit liegt in der äußeren Form. Obgleich sowohl Barthes als auch Klemperer Überlegungen allgemeiner Natur zu Sprache und ihrer Wirkung anstellen, scheint ihr Ausgangspunkt doch in Beobachtungen zu liegen, die dem Alltag, im besonderen aus ihrem eigenen Leben, entnommen sind. Ergebnis ist zunächst eine Sammlung von Alltagsmythen durch Barthes und die äußerlich lexikographisch anmutende Analyse der Sprache im Nationalsozialismus[1] durch Klemperer. Das Ergebnis erscheint in beiden Fällen nicht als streng wissenschaftliche Abhandlung sondern ein schon aufgrund des zum Teil sehr persönlichen Stils im engeren Sinn literarisch zu nennendes Werk. Offenkundig ist bereits ohne tiefergehende Analyse, dass beide Werke als ideologie- und sprachkritisch betrachtet werden können, und dass für beide Autoren Sprach- immer auch Ideologiekritik zu sein scheint.
Da beide gewissermaßen hinter die Kulisse der Sprache oder des Zeichens im allgemeinen blicken wollen[2], erscheint es reizvoll, mögliche tieferliegende Gemeinsamkeiten beider Werke freizulegen. Erschöpfend und unter allen Perspektiven kann dies im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Daher soll hier in einfacher Operatonalisierung Klemperers Vorgehen gewissermaßen durch die Brille Barthes´ betrachtet werden.
Im zweiten Teil der „Mythen des Alltags“, entwirft Barthes eine Mythenkonzeption auf semiologischer Grundlage, die zugleich als Methodik zur Analyse von Mythen, wie Barthes sie versteht, verwendet werden kann. Ob es sich bei den durch Klemperer betrachteten Sprachbeispielen um mit einem Mythos aufgeladene Zeichen handelt, ist eine der Fragen, die im Zuge dieser Analyse beantwortet werden sollen. Wesentlich für das Vorgehen ist dabei, dass Klemperers Beobachtungen nicht einfach nur als bloße Textbelege für sprachliche Beispiele herangezogen werden, um sie sodann mit Barthes´ Methodik zu analysieren, sondern, dass der Versuch unternommen wird, Klemperers Vorgehen und seine Schlussfolgerungen Barthes’ Mythenkonzeption gegenüberzustellen und sie sodann weiterhin selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Neben der Frage, ob Klemperer als Mythologe bezeichnet werden kann, wie Barthes ihn beschreibt[3], soll dazu auch der Versuch unternommen werden zu prüfen, inwieweit die von Klemperer diagnostizierte „Lingua Tertii Imperii“, also die „Sprache des Dritten Reiches“, ein durch ihn selbst konstruierter „künstlicher Mythos“ (Barthes 1957/2010, S. 285), Teil „einer dritten semiologischen Kette“ (ebd., S. 286) ist.
Nach einer kurzen, dem Fokus der Arbeit angemessenen Darstellung der Mythenkonzeption Roland Barthes´, wird das Vorgehen Klemperers erläutert, bereits mit Blick auf die zuvor aufgeführten theoretischen Konstrukte. Einige aussagekräftige Beispiele werden nachfolgend zur Überprüfung der Hypothese herangezogen, Klemperers Untersuchung der Sprache im Dritten Reich sei eine mythologische Analyse, wie Roland Barthes sie in „Mythen des Alltags“ zu formulieren versucht. Dabei ist schon vorab darauf hinzuweisen, dass es in diesem Abschnitt nicht darum geht, eine mögliche durchgängig wirksame Methodik Klemperers herauszudestillieren und mit der Barthes´ zu vergleichen. Dies wäre gewiss reizvoll, sprengt jedoch den Rahmen dieser Arbeit bei weitem. Abschließend sollen die Ergebnisse der hier vorgenommenen Analyse zusammengefasst und offen gebliebene oder problematische Aspekte kurz thematisiert werden.
2. Roland Barthes´ Mythenkonzeption nach „Mythen des Alltags“
2.1. Der Mythos als Rede – der Mythos als semiologisches System
Maik Neumann zeigte, dass die in „Mythen des Alltags“ erarbeitete Konzeption einer Mythologie auch aus Sicht Roland Barthes´ selbst keinesfalls als abschließend angesehen werden darf, und die darin entwickelte Terminologie noch einen „unscharfen Charakter“ aufweist (Neumann 2009, S. 98). Nichtsdestotrotz verweisen Autoren linguistischer Mythenanalysen, sofern sie auf Barthes´ Konzepte zurückgreifen, offenbar primär auf die in „Mythen des Alltags“ angestellten Überlegungen und verwenden für ihre Analysen die entsprechenden Begriffe (so z.B. Mader 2008, S. 174 ff. oder Frank 1996, S. 101 ff.). Dieser Hinweis soll verdeutlichen, dass das Konzept, wie es in „Mythen des Alltags“ formuliert ist, als Analysegrundlage verwendet werden kann, da offenkundig ein angemessener Resonanzraum in der wissenschaftlichen Bearbeitung von Mythen vorhanden ist.
Die Mythenkonzeption Roland Barthes´ verweist auf die strukturale Semiologie. Indem Barthes postuliert, „der Mythos ist eine Rede“ (Barthes 1957/2010, S. 251), hebt er den Zeichencharakter des Mythos hervor, der sich seinerseits eines bereits vorhandenen Zeichens bemächtigt (ebd., S. 253). Unter Verweis auf Saussure charakterisiert er dieses Zeichen als „Korrelation“ (ebd., S. 256) zweier Terme, des Signifikanten oder dem Bedeutenden, sowie dem Signifikat also dem Bedeuteten. Barthes´ Mythenkonzeption geht nun über dieses klassische semiologische Modell hinaus, wenn die objektsprachliche Ebene verlassen wird. Das sprachliche Zeichen wird zum Signifikanten eines „sekundären semiologischen System[s]“ (ebd., S. 258), das wiederum durch die Korrelation eben dieses Signifikanten und einem weiteren Signifikat gekennzeichnet ist. Die Korrelation dieser beiden Terme bildet den Mythos selbst. Barthes verortet ihn in im Gegensatz zum ersten objektsprachlichen Zeichensystem in der Metasprache (ebd., S. 259). Weiterhin ordnet Barthes den einzelnen Elementen dieser Metasprache Bezeichnungen zu, die auf ihre jeweilige Funktion verweisen und sie von den Bezeichnungen für die Terme im objektsprachlichen Zeichensystem abgrenzen sollen. Der Einfachheit halber wurde diese Zuordnung im nachfolgenden Schema, das an Barthes´ Vorschlag zur Visualisierung angelehnt ist, vorgenommen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nähere Erläuterung bedarf vielleicht noch die Unterscheidung zwischen Sinn und Form. Vom Sinn spricht Barthes, wenn der Fokus auf der objektsprachlichen Ebene liegt, von der Form, wenn das Bedeutende des Mythos gemeint ist (ebd., S. 261). Die Wahl dieser Bezeichnungen ist keinesfalls arbiträr, sondern verweist bereits auf die jeweiligen Funktionen und Eigenschaften der einzelnen Terme. So verweist der Übergang vom Sinn zur Form darauf, dass ein vormals mit Bedeutung aufgeladenes Zeichen seinen Inhalt verliert, es „bleibt nur noch Buchstabe“ (ebd., S. 262), ohne allerdings den Sinn gänzlich zu verdrängen. Damit grenzt Barthes ihn vom Symbol ab: die Präsenz des sprachlichen Zeichens ist „domestiziert, abgedrängt, gleichsam durchsichtig geworden; sie weicht ein wenig zurück“ (ebd., S. 263). Somit ist die Bedeutung „nie vollständig arbiträr, sie ist stets partiell motiviert“ (ebd., S. 273). Der Begriff okkupiert die Form und „ist zugleich geschichtlich und intentional, er ist das Motiv, das den Mythos hervorwuchern lässt“ (ebd., 263 f.). Die Entleerung des Sinns hebt sich auf, in dem der Begriff der Form neuen Inhalt einflößt und damit den Sinn deformiert (ebd., S. 269). Der Sinn hat letztlich die Funktion, die Bedeutung, die im wesentlichen durch ihre Intentionalität gekennzeichnet ist, zu verschleiern (ebd., S. 271). Der Mythos „verwandelt Geschichte in Natur“, indem er den Zusammenhang zwischen Zeichen (Form) und Begriff als natürlich erscheinen lässt. „Was die mythische Rede in Gang setzt ist vollkommen klar, erstarrt jedoch sofort zu etwas Natürlichem; es wird nicht als Motiv, sondern als Ursache gelesen“ (ebd., S. 278). Dies führt weiterhin zu einem „Verlust der Historizität der Dinge“, verloren geht „die Erinnerung daran, dass sie [die Dinge] hergestellt worden sind“: „Der Mythos ist eine entpolitisierte Rede“ (ebd., S. 295).
[...]
[1] Im Folgenden soll der Untersuchungsgegenstand Klemperers „Sprache im Nationalsozialismus genannt werden, auch wenn Klemperer schon durch die Wahl des Titels seines Buches eher von einer „Sprache des Nationalsozialismus“ sprechen würde. Erstere, hier gewählte Variante ist aus analytischer Sicht die neutralere und entspricht eher dem Stand der wissenschaftlichen Erforschung der Sprache in Deutschland zwischen 1933 und 1945, wie beispielsweise Kristine Fischer-Hupe zeigt (Fischer-Hupe 2001, S. 191 ff.).
[2] Auch Klemperer, der vorwiegend Sprache im engeren Sinne betrachtet, befasst sich mit nonverbalen Zeichen und Symbolen – so z.B. in den Kapiteln „Kohlenklau“ (Klemperer 1975/2005, S. 111), oder „Der Stern“ (ebd., S. 213).
[3] So z.B. im Abschnitt „Lektüre und Entzifferung des Mythos“: „Diese Einstellungsweise ist die eines Mythologen: Er entziffert den Mythos, er erkennt ihn als Deformation.“ (Barthes 1957/2010, S. 276)