Grafeneck als Beispiel für Euthanasie im NS-Staat


Proyecto/Trabajo fin de carrera, 2011

62 Páginas, Calificación: 1,5


Extracto


1. Einleitung

Die historische Bedeutung des auf der Schwäbischen Alb im Kreis Münsingen gelegenen Barockschlosses Grafeneck geht durch die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1941 weit über eine regionale, auf Südwestdeutschland begrenzte, Ebene hinaus. Das zur ersten Euthanasieanstalt mithilfe von Gaskammern umfunktionierte Samariterstift erlangte über die Grenzen Deutschlands hinaus traurige Berühmtheit als der Ort, an dem am 18. Januar 1940 die gezielte Ermordung von geistig behinderten und psychisch kranken Menschen im Rahmen der Euthanasie- Aktion im Dritten Reich ihren Anfang nahm.

In Deutschland wurden direkte medizinische Tötungen mit dem fortschreitenden neunzehnten Jahrhundert und unter dem wachsenden „Einfluss[...] des ’wissenschaftlichen Rassismus’ in intellektuellen Kreisen“1 in einem immer breiter werdenden Spektrum diskutiert. Für die Entwicklung und die zumindest im Diskurs etablierte Rolle des “Gnadentods“ geistig behinderter Menschen war die Unterstreichung und die hervorgehobene Gewichtung der „Integrität des organischen Volkskörpers“2, also die Definition des Volks als ein rassisch- kulturelles Kollektiv, dessen Fortbestand es auch unter biologischen Aspekten zu sichern galt, elementar. Dem Gedanken, dass die Gruppe einen Organismus darstelle, dessen Leben zu beschützen sei und dessen Tod vermieden werden müsse, zeigte sich schon der Theoretiker Adolf Jost, welcher 1895 einen Aufruf zur medizinischen Tötung mit dem Namen „Das Recht auf den Tod“ veröffentlichte3, zugeneigt. Jost vertritt die These, dass die Entscheidung über den Tod eines Individuums letzten Endes dem Staat zustehe. So verweist er in seiner Argumentation auf kriegerische Konflikte, in denen das Individuum ebenfalls zum Wohle des Staates geopfert werde. Neben dem für ihn unumstrittenen Recht des Staates zu töten, argumentiert er mit der Gesundheit eines Staats, welche nur durch Selektion zu gewährleisten sei: Der Staat habe der

„Eigentümer des Todes“ zu sein und müsse töten, um den sozialen Organismus am Leben halten zu können4.

Seit der Machtübertragung an Adolf Hitler war diese Rassenideologie die mächtigste Triebfeder politischen Denkens und Handelns.

Die medizinische Gleichschaltung machte das selektierende Vorgehen der Euthanasie erst möglich5. Für die Organisation und die Umsetzung dieser Idee kooperierten Politiker aus höchsten Kreisen, Beamte Wissenschaftler, Psychologen und Mediziner auf allen Ebenen des Staats; ein breites Spektrum von Helfern wurde mit einem „Geheimplan“6 aus allerhöchsten Parteikreisen verbunden. Die den Nationalsozialisten eigene „Mischung aus Idealismus und Terror“7 konkretisierte das Prinzip des Gnadentods lebensunwerten Lebens und konnte die Tötung von Kindern und Erwachsenen genehmigen.

Um die Erbgesundheit der arischen Volksgemeinschaft zu stützen und diese somit zu optimieren, bedienten sich die Nationalsozialisten Mitteln wie der Zwangssterilisierung und der euphemistisch als „Euthanasie“ titulierten Ermordung als unheilbar oder erbkrank befundener Patienten psychiatrischer Einrichtungen. Die biopolitische Entwicklungsdiktatur ruhte auf zwei tragenden Pfeilern: der Erbgesundheits- und der Rassenpolitik8. Diese beiden eigenständigen Politikfelder bildeten das leitende Prinzip nationalsozialistischer Politik, welches sich in allen anderen Politikbereichen widerspiegelte. Die Erbgesundheits- und die Rassenpolitik schufen das Fundament einer biologisch homogenen, übergeordneten Volksgemeinschaft, deren Fortschritt und Fortbestehen mithilfe von Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung niedriger gestellten Lebens gesichert werden sollte.

Die wichtigste, der NS- Rassenideologie und Erbgesundheitspolitik zugrunde liegende Schrift ist „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“9, das 1920 veröffentlichte Werk der Juristen Karl Binding und Alfred Hoche, ihres Zeichens Professoren für Psychiatrie an der Universität Freiburg. In Bindings und Hoches Schrift machen die Autoren „aus der Vorstellung des ’lebensunwerten Lebens’ ein juristisches und medizinisches Konzept“10 und beschreiben die Vernichtung dessen als Heiltätigkeit, als therapeutisches Ziel.

Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Option des „Gnadentods“, wie auch die von Binding/ Hoche ausgeführten großen wirtschaftlichen Verluste, welche die „geistig Toten“11, die große Zahl behinderter Menschen für Deutschland bedeuteten, verstärkt diskutiert. Schon in den Schulen wurden die Kinder mit den ’Problemen’, die den Staat aufgrund seiner behinderten Bürger belasteten, auf indoktrinierende Weise konfrontiert. So ließ ein Mathematikbuch die Schüler die Anzahl der Regierungskredite berechnen, welche einem jungen Paar „mit dem Geld erteilt werden könnten, das die Fürsorge für die ’Krüppel, die Kriminellen und die Geisteskranken’“12 ausgeben muss. Auch die öffentlichen und in medizinischen Fachkreisen angeheizten Debatten über Sterilisationen tendierten immer mehr zu der Vermutung hin, dass „ radikalere Maßnahmen nötig seien“13. Der Grundsatz, dass die Beseitigung „lebensunwerten Lebens“ als legitime Aufgabe des Staates anzusehen sei, manifestierte sich mehr und mehr als Grundsatz in der Volksauffassung. Die im Reich verbreiteten Heil- und Pflegeanstalten für geistig und körperlich behinderte Menschen manifestierten sich zu wichtigen Zentren für die Entwicklung des Euthanasiebewusstseins14. Seit dem Jahr 1934 wurden das medizinische wie auch das Pflegepersonal dazu ermuntert, die ihnen anvertrauten Patienten zu vernachlässigen; die finanziellen Mittel wurden gekürzt und staatliche Gesundheitsinspektionen erfolgten nur noch der Form halber oder entfielen vollkommen15.

All dies ist als eine Vorstufe der von oberster Stelle, namentlich durch die Kanzlei des Führers der NSDAP in Berlin, initiierten und organisierten Euthanasie im Rahmen der T4- Aktion zu werten, welche auf dem Gelände des Schwäbischen Barockschlosses Grafeneck ihren Anfang nahm.

Grafeneck, auf dessen Gebiet am 18. Januar 1940 die systematische, von staatlicher Seite angeordnete und mit Hilfe staatlicher Organe vollstreckte Vernichtung von Menschen durch medizinisch verbrämten Massenmord begann, umschrieben durch den verschleiernden Begriff der „Euthanasie“, dem „schönen Tod“, oder wie Hitler es in seiner Ermächtigung vom Oktober 1939 ausdrückte, den „Gnadentod“16 und auf dessen Gelände zwischen Januar und Dezember 1940 10.65417 Menschen den Tod fanden, besitzt als Symbol für die systematische Ermordung behinderter Menschen im Nationalsozialismus eine herausragende Bedeutung für die Geschichte Deutschlands, speziell des deutschen Südwestens.

Im Oktober 1939 wurde die bestehende Behinderteneinrichtung vom Württembergischen Innenministerium "für Zwecke des Reichs" beschlagnahmt und ab Januar 1940 zum ersten Ort der industriellen Ermordung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland umfunktioniert. Mit der gleichzeitigen Erfassung aller jüdischen Patienten in den psychiatrischen Einrichtungen Württembergs und Badens und ihrer Ermordung in Grafeneck, sowie der späteren Übernahme der Technologie und des Personals der Gasmordanstalten begann hier ein Weg, der in die Ermordung der deutschen und europäischen Juden mündete: Die Spuren der Täter führen von Grafeneck in die Vernichtungslager im Osten: Belzec, Treblinka, Sobibór und Auschwitz-Birkenau18.

Die vorliegende Arbeit stellt die Bedeutung, den Stellenwert und die Einbettung Grafenecks in die Geschichte Deutschlands während der Zeit des Nationalsozialismus dar.

Der erste Teil der Arbeit setzt sich mit der Vorgeschichte Grafenecks und dem historischen Kontext der NS- Euthanasie auseinander. Angefangen mit einer Erläuterung des Beginns der Euthanasie- Aktion im Dritten Reich werden die ersten Planungsschritte der Verantwortlichen analysiert und der Beginn der Euthanasie in Pommern und Westpreußen, bis hin zur Brandenburger Probevergasung skizziert. Nach der analytischen Betrachtung der rechtlichen Grundlage der Euthanasie, Hitlers Euthanasieermächtigung vom 1. September 1939, schließt der einleitende Teil ab. Im Hauptteil der Arbeit setzt sich die Autorin mit der Tötungsanstalt Grafeneck, der zentralen Tötungsstelle Südwestdeutschlands, auseinander. Nach der Darlegung der Aktion „T4“ sowie des Aufbaus und der Organisation der Euthanasie im Reich folgt ein kurzer Exkurs in die Historie Grafenecks, begleitet von der Beschreibung der Umwandlung des Barockschlosses in eine NS- Tötungsanstalt.

Im Weiteren werden die Täter Grafenecks, die Ärztekommission und deren Mitarbeiter aufgezeigt und näher untersucht.

Nach der Beschreibung des Transports der aus Baden und Württemberg stammenden Opfer in die Tötungsanstalt Grafeneck und einer kurzen Erläuterung der Funktion der Zwischenlager für den Transport der “Patienten“, geht die Arbeit auf den Alltag in der Tötungsanstalt Grafeneck ein und beschäftigt sich mit der Erfassung und der Auswahl der Opfer, sowie dem Aufbau und Betrieb der Tötungsanlage.

Auch die Darstellung der auf dem Schlossgelände vollzogenen Morde gegenüber der der Öffentlichkeit, wie auch sogenannte „Fehler im System“ der Mord- Vertuschung werden erläuternd dargelegt.

Im letzten Teil des Kernstücks dieser Arbeit werden die Reaktionen und der Widerstand seitens der Angehörigen der Opfer, der Bevölkerung und der Öffentlichkeit im Reich, aber auch die Bedenken von kirchlicher Seite und seitens der Mitarbeiter Grafenecks aufgezeigt.

Grafeneck als Beispiel für die Praxis der Euthanasie im Dritten Reich wurde aufgrund seiner Bedeutung für die südwestdeutsche Zeitgeschichte und wegen des lokalen und regionalen Bezugs als Thema dieser wissenschaftlichen Arbeit gewählt.

1.1. Literaturdiskussion

Bevor sich diese Arbeit mit dem Thema, angefangen beim Kontext und der Vorgeschichte der Heil- und Pflegeanstalt Grafeneck auseinandersetzt, soll eine Diskussion der verwendeten Literatur zum Einen Klarheit über die verwendeten Quellen und Sekundärwerke schaffen und zum Anderen mithilfe einer Kategorisierung der Werke, die dem Literaturverzeichnis zugrunde liegende Auswahl erläutern. Hierbei wird jedoch nur die relevante Literatur vollständig aufgenommen, die irrelevante Literatur findet in diesem Abschnitt der Arbeit keine Erwähnung.

Der Beschäftigung mit dem eigentlichen Thema Grafeneck und der Analyse der Geschehnisse der Jahre 1939 bis 1941 vorangehend, musste ich mir einen generellen Überblick über das Thema Euthanasie und dessen Hintergründe, den geschichtlichen Kontext und das Zustandekommen der Aktion T4 verschaffen, um mich in die Thematik einzuarbeiten. Die Hauptüberblickswerke und Quellen zur Euthanasie und deren Organisation stellen in dieser Arbeit die Werke von Götz Aly19, Ernst Klee20 und die Veröffentlichung der Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg21 dar, welche allesamt nach dem Ende des Dritten Reichs verfasst worden sind und die Hintergründe, die historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten sowie einen Einblick in die Denkstrukturen der Täter (aus heutiger Sicht) vermitteln. Während der Journalist Klee und die Landeszentrale für politische Bildung einen übergreifenden Einblick in die Materie gewährleisten, geht Aly besonders auf die Organisatoren der Euthanasie und die “Strippenzieher“ der T4 ein.

Des Weiteren war das Werk Karl Bindings und Alfred Hoches22, welches 1920 und somit vor der Idee der nationalsozialistischen Euthanasieplanung veröffentlicht wurde, eines der Hauptwerke bezüglich des Einstiegs in die Thematik. Diese Schrift wurde wegen ihrer Bedeutung für die Organisatoren der Euthanasie und das in dieser Zeit herrschende Verständnis um die Beziehung zu psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen, also zu „lebensunwertem Leben“, gewählt.

Nachdem ich mich mithilfe der oben genannten Werke in die Thematik einlesen konnte und einen ersten Überblick über die Ereignisse und die Strukturen der Euthanasieaktion gewonnen habe, folgte die Beschäftigung mit dem eigentlichen Analysegegenstand der vorliegenden Arbeit, der Heil- und Pflegeanstalt Grafeneck und deren Rolle während der Jahre 1939 bis 1941. Besonders hilfreich, um sich dezidiert über Grafeneck informieren zu können, waren die Akten des Ludwigsburger Staatsarchivs23, die Werk von Thomas Stöckle24, Gernot Römer25 und Karl Morlok26. Alle drei Autoren führen auf verständliche und zugleich wissenschaftliche Weise an die Thematik heran und vermitteln vor allem die regionalen Bezüge, die Mitwirkung des Stuttgarter und des Karlsruher Beamtentums wie auch die Abläufe der Organisation und der Kommunikation zwischen allen Ebenen der Täter gut nachvollziehbar und klar strukturiert.

Des Weiteren war bei der Entstehung der vorliegenden Arbeit ein dezidierter Einblick in das Wesen und die Positionierung der Medizin und Bürokratie im NS-Staat relevant, welcher gut durch die Werke von Ernst Klee27, Robert J. Lifton28, Philippe Aziz29 und Alexander Mitscherlich/ Fred Mielke30 gewährleistet wurde. Alle vier Werke sind gut strukturiert und nachvollziehbar geordnet, vor allem jedoch Lifton und Klee sind als Lektüre durch ihre Klarheit und ihre Tiefe in Struktur, Information und Faktendarlegung uneingeschränkt zu empfehlen.

Für die Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen der Euthanasieaktion und der Judenverfolgung bis hin zur Endlösung und dem Holocaust war ein weiteres Werk des Autors Götz Aly31 eine verständlich und klar strukturierte Analysehilfe. Auch Henry Friedlanders32 Schrift über den Weg hin zum Genozid ist ein zu empfehlendes Werk, will man sich die Beziehung und die Verknüpfungen zwischen der Euthanasie und den Konzentrationslagern im Dritten Reich verdeutlichen.

Beschäftigt man sich mit den Reaktionen der Bevölkerung auf die Euthanasiepraxis, mit dem Verhalten von Kirche und Gesellschaft, beziehungsweise deren Widerstand gegen die Morde, sind vor allem Kurt Nowaks33 Schrift über die Euthanasie und die Kirche, wie auch der Brief der NS- Frauenschaftsführerin Else von Löwis34 nicht nur hervorhebend zu nennen, sondern auch als weisend zu unterstreichen.

Als letzte, relevante Werke sind die Schriften zum Gedenken an die Opfer Grafenecks und die Opfer weiterer Euthanasieanstalten zu nennen. Als Überblickswerk bietet sich eine Veröffentlichung der Landeszentrale für politische Bildung Berlin35 an, welche sich generell mit dem Gedenken an historischen Orten beschäftigt. Speziell auf die Gedenkstätte Grafeneck zugeschnitten ist eine Veröffentlichung der Samariterstiftung Grafeneck36, welche die Gedenkstätte Grafeneck vorstellt und nützliche Informationen zur heutigen Pflegeeinrichtung bietet.

Insgesamt wurde die hier vorgestellte Literatur vor allem nach Kriterien wie der Faktendarlegung, der genauen Strukturierung der Geschehnisse und der dezidierten Beleuchtung der Abläufe ausgewählt.

I Vorgeschichte/ Kontext

2. Beginn der Euthanasie

Die Idee der Euthanasie und die während der Herrschaft der Nationalsozialisten durchgeführten Tötungen behinderter Menschen besitzen eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte. Ausgehend von sozialdarwinistischen Vorstellungen, wurden Ideen der Rassenhygiene und der Eugenik, also der gezielten Tötung erbkranker Menschen, propagiert und dem Staat die Obliegenheit der Steuerung und Verstärkung der natürlichen Auslese zugewiesen. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden diese Gedanken aufgegriffen und mit der Forderung verbunden, die Träger sogenannter "erblicher Minderwertigkeit" an der Fortpflanzung zu hindern. Die gesetzliche Grundlage dieser Zwangssterilisation wurde durch das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"37 vom 14. Juli 1933 geschaffen, welches die Sterilisation von Männern und Frauen, die an Schwachsinn, Schizophrenie, Epilepsie, Taub- und Blindheit sowie an angeborenen körperlichen Missbildungen litten, ermöglichte. Die Zwangssterilisation eskalierte jedoch schon bald in der Forderung nach der "Vernichtung lebensunwerten Lebens"38 und der Planung und Durchführung der sogenannten „Aktion T4“, der von staatlicher Hand geplanten und durchgeführten Euthanasie, der bis zum 24. August des Jahres 1941 mindestens 80.000 geistig behinderte Menschen zum Opfer gefallen sind39.

2.1. Erste Planung

Die ersten Planungen des von staatlicher Seite systematisch organisierten und ausgeführten Mordes an behinderten und psychisch kranken Menschen lassen sich auf die frühen 1930er Jahre datieren.

Bereits 1935 war Reichsärzteführer Wagner auf dem Reichsparteitag an Hitler herangetreten, um von diesem eine Ermächtigung zur “Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zu erlangen, was Hitler zu diesem Zeitpunkt allerdings noch mit der Begründung ablehnte, dass er diese „Euthanasie- Frage aufgreifen und durchführen“40 werde, wenn es Krieg geben sollte, da „die Befreiung des Volkes von der Last der Geisteskranken“41 im Krieg möglich sei und der Wert des Menschen, wenn sich eine Nation im Krieg befindet, „ohnehin minder schwer wiegt“42, so die Aussagen von Hitlers Leibarzt und einem der Hauptakteure der NS- Euthanasie, Karl Brandt, während des Nürnberger Ärzteprozesses 1947.

Um die geplante Euthanasie- Aktion ungestört von möglichem Protest oder Widerstand durchführen sowie diese vor dem Volk rechtfertigen zu können, wurde schon früh mit der propagandistischen Vorbereitung der Euthanasie und der Indoktrination des Volkes begonnen. So wurden beispielsweise in der Heilanstalt Emmendingen im Januar 1938 psychisch und geistig Kranke einer Klasse von 42 Abiturienten der Freiburger Ludendorffschule, die zuvor „Rassenunterricht“ bekommen hatten, vorgeführt43. Die Indoktrination von staatlicher Seite scheint ihren Zweck erfüllt zu haben: Nach diesem Zusammentreffen hatten die Abiturienten die Aufgabe, einen Aufsatz zum Thema „Besuch einer Heil- und Pflegeanstalt“44 zu verfassen. Keine einziger der 42 Abiturienten vergaß in seinem Werk als eines der Hauptargumente für eine zukünftige Euthanasie die „Entlastung der Staatskassen“45 anzuführen und die zuvor besuchten Patienten mit Tieren zu vergleichen. So ist die Rede von „Menschenruinen mit tierischem Instinkt“46, welche „kein[em] Vergleich mit dem Tier“47 standhalten könnten. 35 von 42 Schülern äußerten überdies den Wunsch, dass „ bald unser Volk ganz befreit sein wird von derartig üblen Anhängseln“48.

Schon im folgenden Jahr wurde ein erster und exemplarischer Fall der Kindereuthanasie, von staatlicher Seite organisiert durch die in Berlin angesiedelte „Kanzlei des Führers der NSDAP“ (KdF), speziell durch deren Leiter, SS- Standartenführer Phillip Bouhler, bekannt: 1939 ging im Hauptamt II der KdF, das formal für die Planung und die Organisation der Euthanasie zuständig war49 und dessen Leitung Oberdienstleiter Viktor Brack (seit 1923 Mitglied der SA) inne hatte, ein Gesuch ein, das nach dem Krieg als „Fall Knauer“ dargestellt wurde: Der Vater eines in der Universitätsklinik Leipzig frisch auf die Welt gekommenen Kindes wendet sich schriftlich an Hitler, mit dem Gesuch, sein Kind aufgrund der Tatsache, dass dieses „blind, minderbemittelt und verstümmelt“50 geboren wurde, mit staatlicher Genehmigung töten zu lassen. Karl Brandt, in dessen Aufgabenbereich das Gesuch des Kindsvaters fiel, äußerte sich zu diesem Fall als Angeklagter des Nürnberger Ärzteprozesses wie folgt:

„Für den Fall, daß sie [die Schilderungen des Kindsvaters] richtig sind, sollte ich in seinem Namen den Ärzten mitteilen, daß sie eine Euthanasie durchführen können... Es wurde mir weiter aufgetragen zu sagen, daß, wenn diese Ärzte selbst durch diese Maßnahme in irgendein juristisches Verfahren verwickelt würden, im Auftrage Hitlers dafür Sorge getragen würde, daß dieses niedergeschlagen werde.“51

Brandt teilte mit, dass die Ärzte des Kindes die Ansicht vertreten würden, dass „es keine Rechtfertigung dafür gäbe, [so ein erbkrankes Kind] am Leben zu erhalten“52. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die während des Nürnberger Ärzteprozesses protokollierte Aussage Dr. Hans Hefelmanns, des Leiters des Amts IIb der KdF, der Hitlers Ermächtigung zur Kinder- Euthanasie wie folgt beschrieben hat:

„Der Fall Knauer führte dazu, daß Hitler Brandt und Bouhler ermächtigte, in Fällen ähnlicher Art analog dem Falle Kind Knauer zu verfahren. Ob diese Ermächtigung schriftlich oder mündlich erteilt worden ist, kann ich nicht sagen. Brandt hat uns jedenfalls eine schriftliche Ermächtigung nicht gezeigt. Diese Ermächtigung muss erteilt worden sein, als Brandt Hitler über die Erledigung des Falles Knauer berichtete. Daß diese Ermächtigung in dieser Form erteilt worden ist, hat mir Brandt persönlich gesagt. Hitler hatte gleichzeitig angeordnet, daß alle Gesuche dieser Art, die etwa an das Reichsinnenministerium oder an die Präsidialkanzlei gerichtet werden würden, in alleiniger Zuständigkeit der „KdF“ zu bearbeiten wären.“53 „ Als mir (...) Professor Brandt den Auftrag erteilte, ein beratendes Gremium zusammenzustellen, musste diese Zusammenstellung unter dem Gesichtspunkt, daß es sich um eine Geheime Reichssache handelte, erfolgen. Die Folge war, daß nur solche Ärzte usw. ausgewählt wurden, von denen bekannt war, oder bekannt wurde, daß sie „positiv“ eingestellt waren. Ein weiterer Grund für die Auswahl nach diesem Gesichtspunkt war auch die Tatsache, dass Hitler befohlen hatte, daß seine Dienststelle, d.h. also die „KdF,“ nach außen hin als die diese Dinge bearbeitende Behörde nicht in Erschienung treten dürfe.“54

Nach seiner Rückkehr nach Berlin wurde Brandt von Hitler, welcher nicht öffentlich mit diesem Fall und Vorgehen in Verbindung gebracht werden wollte55, ermächtigt, „bei ähnlich gelagerten Fällen in derselben Weise vorzugehen: Das hieß, das Programm mithilfe des hochrangigen Reichsführers Philipp Bouhler (...) auszuarbeiten“56. Der “Testfall“ Knauer war der „Angelpunkt für die beiden Tötungsprogramme - das für Kinder und das für Erwachsene“57, welche zwar getrennt voneinander ausgeführt wurden, personell und strukturell aber zahlreiche Schnittstellen aufwiesen.

Der Beraterstab, der mit der Vorbereitung der systematischen Kindereuthanasie betraut war, arbeitete schnell und effizient. Schon im Mai 1939 waren die Beratungen abgeschlossen. Um zu verhindern, dass die Kanzlei des Führers von der Öffentlichkeit als Auftraggeber der Kindertötungen erkannt oder überhaupt mit diesen in Verbindung gebracht werden konnte, wurde ein möglichst unverfänglicher, wissenschaftlicher Name zur Tarnung des gesamten Unternehmens wie auch seiner Strippenzieher erfunden. Man einigte sich darauf, das Tötungsunternehmen unter dem Firmenschild „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ arbeiten zu lassen58.

Nachdem die Planung, Organisation und Bemäntelung der Vorgänge erfolgreich abgeschlossen worden war, wurde am 18. August 1939 ein Runderlass des Reichsministers des Inneren bekanntgegeben, welcher den Kreis der betroffenen Kinder festlegte (so wurden beispielsweise Mongolismus, Lähmungen oder Missbildungen als Grund für eine Kindestötung festgesetzt) und auch die Art und Weise bestimmte, wie die Opfer zu erfassen seien.59

Professor Werner Catel, ein führendes Mitglied in dem die Kinder- Euthanasie vorbereitenden Gremium, versuchte sein Tun nachträglich zu rechtfertigen, indem er 1965 seine Überzeugung zu Protokoll gab, dass das Wimmern und Schreien der betroffenen Kinder, die er zu „untermenschlichen Wesen“ herabstilisierte, lediglich „reflektorischen Vorgängen“ zuzuordnen sei, „vergleichbar etwa mit dem Auftreten von Schwanzwedeln bei gehirnlosen Hunden oder von Schnurren bei gehirnlosen Katzen, wenn ihr Fell gestreichelt wird.“60

Zeitgleich mit der Kindereuthanasie widmete man sich in der Kanzlei des Führers ab Juli des Jahres 193961 der Planung einer Euthanasie- Aktion, welche erwachsene Menschen betreffen sollte. Die Ausweitung des Programms von Kindern auf Erwachsene „bedeutete, daß die medizinischen Tötungen zur offiziellen und allgemeingültigen politischen Linie“62 gemacht wurden - eine Politik, welche Hitler in seinem ’Führererlass’ vom Oktober 1939 manifestiert hatte. Der Staatssekretär und Leiter des Gesundheitswesens im Reichsministerium, Leonardo Conti, wie auch der Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, und der Stabsleiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, wurden ein paar Monate zuvor, vermutlich im Juli63, zu Hitler gerufen, welcher ihnen, so erinnert sich Lammers zurück, seine Ansichten in Bezug auf das geplante Programm darlegte und Conti mit der Durchführung der Euthanasie an Erwachsenen betraute64:

„Er führte aus, daß er es für richtig halte, daß das lebensunwerte Leben schwer Geisteskranker beseitigt werde durch Eingriffe, die den Tod herbeiführten (...) Er führte auch aus, daß damit eine gewisse Ersparnis an Krankenhäusern, Ärzten und Pflegepersonal herbeigeführt werden würde“65.

Philipp Bouhler, so Werner Heyde,

„sprach davon, dass Hitler sich mit dem Problem schon seit vielen Jahren, schon seit der Zeit des Sterilisierungsgesetzes immer wieder beschäftigt habe, und daß schon eine Menge Vorarbeit in seinem Auftrage geleistet worden sei.“66

Von dieser Anweisung Hitlers gegenüber Conti erfuhr Viktor Brack, welcher daraufhin Bouhler und Brandt informierte. „Ein nachträglich nur schwer zu entwirrendes Ränkespiel setzt[e] ein, das damit endet, daß Conti bald ausgebootet“67 wurde. Lifton stellt in seinem Werk zur Ärzteschaft im Dritten Reich68 die Aufgabenverteilung bezüglich der Leitung und Organisation der Erwachseneneuthanasie als ausdrückliche Entscheidung Hitlers für seinem Vertrauten und Leibarzt, Dr. Karl Brandt, wie auch seinem engen Mitarbeiter und Kanzleichef, Philipp Bouhler, dar, womit Hitler bewusst die „Parteidisziplin (...) gegenüber einem Staatsapparat, der immer noch einige Anforderungen an rechtliche Verfahren und fiskalische Berechnungen stellte“69. Unumstritten jedoch ist, ob das Duo Karl Brandt und Philipp Bouhler ab diesem Zeitpunkt auch die Oberherrschaft über die Erwachsenen-Euthanasie innehatte.

Am 17. Februar 1939 wurde die Kinder-Pflegeanstalt Hartheim bei Linz von der NSDAP enteignet, in weiterer Folge gab man einen Erlass zur Erfassung der Pflegeanstalten heraus. Währenddessen wurde in Polen nicht einmal die Ermächtigung Hitlers zur Euthanasie abgewartet.

[...]


1 Lifton, S.46.

2 ebd.

3 ebd.

4 ebd.

5 ebd., S.45.

6 Lifton, S.45.

7 ebd.

8 Baader/ Schultz, S.8.

9 siehe Literaturangaben.

10 Lifton, S.47.

11 ebd., S.49.

12 ebd.

13 Lifton, S.49.

14 vgl. ebd..

15 vgl. ebd.

16 Klee, Dokumente, S.85.

17 Morlok, S.75.

18 vgl. Lifton, S.90.

19 Aly, Götz (Hrsg.): Aktion T4 1939- 1945. Die „Euthanasie- Zentrale“ in der Tiergartenstraße 4. 2. Auflage, Berlin 1989.

20 Klee, Ernst (Hrsg.): Dokumente zur „Euthanasie“. 6. Auflage, Frankfurt am Main 2006 und „Euthanasie“ im NS- Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. 12. Auflage, Frankfurt am Main 2005.

21 Landeszentrale für politische Bildung: „Euthanasie“ im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940. Stuttgart 2000.

22 Binding, Karl und Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1920.

23 Staatsarchiv Ludwigsburg E 191 Bü 6861

24 Stöckle, Thomas: Grafeneck 1940. Die Euthanasie- Verbrechen in Südwestdeutschland. 2. Auflage, Tübingen 2005.

25 Römer, Gerno,: Die grauen Busse in Schwaben. Wie das Dritte Reich mit Geisteskranken und Schwangeren umging. Augsburg 1986.

26 Morlok, Karl: Wo bringt ihr uns hin? Geheime Reichssache Grafeneck. 2. Auflage, Stuttgart 1990.

27 Klee, Ernst: Was sie taten - Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord. 12. Auflage, Frankfurt am Main 2004

28 Lifton, Robert J.: Ärzte im Dritten Reich. Stuttgart 1988.

29 Aziz, Philippe: Doctors of Death. Band IV. Genf 1976.

30 Mitscherlich, Alexander und Mielke, Fred: (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente der Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt am Main 1989

31 Aly, Götz: „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt am Main 1995.

32 Friedlander, Henry: Der Weg zum NS-Genozid, Berlin 1997.

33 Nowak, Kurt: “Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und der „Euthanasie“Aktion. Göttingen 1980.

34 Löwis, Else von: Ein Protestbrief gegen die "Euthanasie" im Jahre 1940 Kommentiert von Dr. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen. In: Aus Schönbuch und Gäu. Beilage des Böblinger Boten 11/1964

35 Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin, Gedenken und Lernen an historischen Orten. Berlin 1999.

36 Samariterstiftung (Hrsg.): 75 Jahre Samariterstift Grafeneck Ort des Lebens. Nürtingen 2005.

37 Klee, Dokumente, S. 43.

38 Staatsarchiv Ludwigsburg, Reichsgesetzblatt von 1933

39 Morlok, S.75.

40 Mitscherlich / Mielke, S. 183f.

41 ebd.

42 ebd.

43 Klee, ’Euthanasie’ im NS-Staat, S.76.

44 ebd.

45 ebd.

46 ebd.

47 ebd.

48 ebd.

49 Klee, ’Euthanasie’ im NS-Staat, S.78.

50 ebd.

51 Dörner, S.87.

52 zitiert nach Lifton, S.53.

53 Nowak, S.19

54 ebd.

55 siehe Lifton, S.54.

56 ebd.

57 ebd.

58 vgl. Klee, Euthanasie im NS- Staat, S.80.

59 siehe hierzu: ebd., S.80/81.

60 Baader, S.46.

61 vgl. Klee, ’Euthanasie’ im NS-Staat, S.83.

62 Lifton S.70.

63 vgl. Klee, ’Euthanasie’ im NS-Staat, S.83.

64 ebd.

65 zitiert nach Lifton, S.70.

66 siehe Klee, ’Euthanasie’ im NS- Staat, S.84.

67 ebd., S.83.

68 siehe Literaturangaben.

69 Lifton, S.72.

Final del extracto de 62 páginas

Detalles

Título
Grafeneck als Beispiel für Euthanasie im NS-Staat
Universidad
University of Tubingen
Calificación
1,5
Autor
Año
2011
Páginas
62
No. de catálogo
V200700
ISBN (Ebook)
9783656307723
ISBN (Libro)
9783656310785
Tamaño de fichero
769 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Euthanasie, Grafeneck, T4, Ergesundheit, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, eugenik
Citar trabajo
Magdalena Ruoffner (Autor), 2011, Grafeneck als Beispiel für Euthanasie im NS-Staat, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200700

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