Die 90er Jahre gelten als das Jahrzehnt der Neurowissenschaft. Aus der Dichte wissenschaftlicher Interdisziplinarität, intensiver wissenschaftlicher Kooperation und Kommunikation innerhalb dieser Wissenschaftsgemeinschaft resultiert eine thematische Vielfalt herausragende Publikationen, die Gründung neurowissenschaftlicher Fachzeitschriften und Institute und schließlich die Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit. Durch visionäre Ableitungen werden erkenntnis-theoretische Grenzen sprengende Paradigmen versprochen, wie beispielsweise die Grenze von der neurowissenschaftlichen Erforschung vom Bewusstsein zur Erforschung der Seele. Vor dem Hintergrund (tier-)experimentelle Untersuchen von künstlichen Lernsituationen wurden allerdings auch schulpädagogisch relevante Erkenntnisse erbracht, die bereits in reformpädagogischen Unterrichtskonzepten und –Modellen existieren. Bestätigt wurden schulpädagogische Selbstver-ständlichkeiten mit einer neurowissenschaftlichen Dignität. In der Öffentlichkeit entwickelt sich die Annahme, dass die schulpädagogische Praxis innovativer Reformen bedarf. Ob das Innovati-onspotenzial der Neurowissenschaft in der Vergangenheit tatsächlich grundlegende Erkenntnisse für die schulpädagogische Praxis erbracht hat, wie beispielweise Medien und damit verbunden die pädagogische Ratgeberliteratur mit Rekurs auf die Hirnforschung es nahe legen, möchte ich in meinem Essay auf der Grundlage erziehungswissenschaftlicher Rezeptionen und Erbnissen der erziehungswissenschaftlichen Verwendungsforschung thematisieren und schließlich auf sinnvolle erziehungswissenschaftliche Implikationen verweisen und schließlich auf gegenwärtige For-schungsstrategien, welche für die traditionell bedingte Inkommensurabilität von Neuro- und Er-ziehungswissenschaft zur Verbesserung der pädagogischen Praxis bahnbrechend werden könnten.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Pädagogische Ratgeberliteratur - Relevanz für das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Erziehungswissenschaft
- Die Problematik von Reduktion und Generalisierung
- Plausible Ratschläge durch wissenschaftliche Fehlinterpretationen
- Exkurs zum Einfluss der Entstehungsgeschichte der EW auf das "Theorie-Praxis-Verhältnis"
- Implikationen aus der erziehungswissenschaftlichen Verwendungsforschung
- Neurowissenschaftliche Korrelate - "Weniger ist mehr!"
- Rekurs zur pädagogischen Ratgeberliteratur - Fehlschlüsse "hirngerechten Lernens"
- Potenziale trans- und interdisziplinärer Forschung
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieser Essay analysiert die kritische Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der pädagogischen Ratgeberliteratur und deren Implikationen für die Erziehungswissenschaft. Er untersucht die Problematik von Reduktion und Generalisierung in Ratgebern und beleuchtet, wie wissenschaftliche Fehlinterpretationen zu Neuromythen führen können. Der Essay verweist auf das Potenzial der erziehungswissenschaftlichen Verwendungsforschung, um die Relevanz und Wirkmechanismen von Ratgebern für die pädagogische Praxis zu bestimmen. Schließlich werden trans- und interdisziplinäre Forschungsstrategien aufgezeigt, die zur Verbesserung des Dialogs zwischen Neuro- und Erziehungswissenschaft beitragen könnten.
- Die Problematik von Reduktion und Generalisierung in der pädagogischen Ratgeberliteratur
- Der Einfluss von Neuromythen auf die pädagogische Praxis
- Das Potenzial der erziehungswissenschaftlichen Verwendungsforschung
- Die Notwendigkeit trans- und interdisziplinärer Forschung
- Die Bedeutung des Theorie-Praxis-Verhältnisses in der Erziehungswissenschaft
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Relevanz der Neurowissenschaft für die Erziehungswissenschaft dar und beleuchtet die mediale Aufmerksamkeit, die dieser Disziplin zuteil wird. Es wird die Frage aufgeworfen, ob die Neurowissenschaft tatsächlich grundlegende Erkenntnisse für die pädagogische Praxis erbracht hat und welche Implikationen sich für die Erziehungswissenschaft ergeben.
Das Kapitel "Pädagogische Ratgeberliteratur - Relevanz für das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Erziehungswissenschaft" analysiert die Problematik von Reduktion und Generalisierung in pädagogischen Ratgebern. Es wird deutlich, dass diese Ratgeber oft wissenschaftliche Erkenntnisse falsch interpretieren und vereinfachte Lösungen für komplexe pädagogische Probleme anbieten. Die Autoren stützen sich dabei auf Erfahrungsberichte von Testpersonen und suggerieren, dass ihre Methoden auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Der Essay zeigt auf, wie diese Fehlinterpretationen zu Neuromythen führen können.
Der Exkurs zum Einfluss der Entstehungsgeschichte der Erziehungswissenschaft auf das "Theorie-Praxis-Verhältnis" beleuchtet die verschiedenen Auffassungen von Erziehungswissenschaft und ihrem Forschungsgegenstand. Es werden die traditionellen, dichotomiefördernden und kompromittierenden Ansätze zur Beziehung zwischen Theorie und Praxis in der Erziehungswissenschaft dargestellt. Der Essay argumentiert, dass ein Methodenpluralismus und die Berücksichtigung historischer, struktureller und wissenschaftstheoretischer Grundlagen wichtig sind, um das Theorie-Praxis-Problem in der Erziehungswissenschaft zu lösen.
Das Kapitel "Implikationen aus der erziehungswissenschaftlichen Verwendungsforschung" beleuchtet die Relevanz der Verwendungsforschung für die pädagogische Praxis. Es wird deutlich, dass die Verwendungsforschung sich mit dem Phänomen pädagogischer Ratgeberliteratur auseinandersetzen muss und deren Relevanz und Wirkmechanismen für die pädagogische Praxis bestimmen sollte. Der Essay argumentiert, dass die Erziehungswissenschaft die Rezeption von Ratgebern durch Pädagogen untersuchen sollte und die Öffentlichkeit über den Stellenwert der Erziehungswissenschaft informieren muss.
Im Kapitel "Neurowissenschaftliche Korrelate - "Weniger ist mehr!" wird die Annahme widerlegt, dass "hirngerechtes" Lernen zu einer stärkeren Aktivierung des Gehirns führt. Es wird gezeigt, dass intelligente Menschen ihr Gehirn weniger stark nutzen, um ein Problem zu lösen, und dass unser Gehirn im energetischen Kontext ein ökonomisches Organ ist. Der Essay argumentiert, dass die Fehlinterpretation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in der pädagogischen Ratgeberliteratur zu falschen Schlussfolgerungen führt.
Das Kapitel "Rekurs zur pädagogischen Ratgeberliteratur - Fehlschlüsse "hirngerechten Lernens"" kritisiert die Argumentationsstärke von "hirngerechtem Lernen", die auf der Aufteilung des Gehirns in eine rechte und linke Hälfte basiert. Es wird gezeigt, dass die Überlastung der linken Hirnhälfte nicht die Ursache für Lernschwächen ist und dass die Integration von Konzepten der Edu-Kinestetik wissenschaftlich defizitär ist.
Das Kapitel "Potenziale trans- und interdisziplinärer Forschung" beleuchtet die Notwendigkeit von trans- und interdisziplinärer Forschung, um wissenschaftliche Fortschritte zu erzielen. Der Essay argumentiert, dass die Vernetzung von Forschung über alle Fachgrenzen hinweg zu einem höheren Vernetzungsgrad führen kann und dass die Erziehungswissenschaft von der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen profitieren kann.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die pädagogische Ratgeberliteratur, Neurowissenschaft, Erziehungswissenschaft, Theorie-Praxis-Verhältnis, Neuromythen, erziehungswissenschaftliche Verwendungsforschung, trans- und interdisziplinäre Forschung, Hirnforschung, Bildungswissenschaft, schulpädagogische Praxis, Lernforschung, und didaktische Konzepte.
- Arbeit zitieren
- Peter A. Zielinski (Autor:in), 2012, Erziehungswissenschaft und Hirnforschung - Eine hypothetische Praxis?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201994