Sonatensatzformen in frühen atonalen Kompositionen der Wiener Schule


Magisterarbeit, 2012

92 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Themenstellung

2. Sonatensatzform als dialektischer Prozess im Kontext atonaler Musik
2.1. Kurze Bestimmung einer möglichen Perspektive auf den Begriff der Sonatensatzform
2.2. Ästhetische Konventionen atonaler Musik und ihre Widersprüche zur Sonatensatzform
2.3. Traditionsbruch und traditionelle Formen
2.4. Atonalität und harmonisch konstruierte Form
2.5. Wiederholungsverbot und Reprisenform
2.6. Expressionistische Kürze und groß angelegte Form

3. Schönbergs II. Streichquartett op. 10, 4. Satz, „Entrückung“ (1907/1908)
3.1. Form-Analyse - Überblick
3.2. Atonale Sonatensatzform als Erzählung zweier Themen
3.3. Schönbergs Quartettsatz - Sonatensatzform ohne Reprise

4. Alban Bergs Streichquartett op. 3, 1. Satz (1910) - Form-Analyse
4.1. Überblick
4.2. Motivbausteine
4.3. Strukturprinzipien
4.4. Formbildung durch Kombination von Motivbausteinen und Strukturprinzipien
4.5. Sonstiges musikalisches Material in Bergs Streichquartett
4.6. Die tonale Disposition der Motivbausteine und Strukturprinzipien
4.7. Sonatensatzform ohne Reprise und Sonatensatzform ohne Durchführung - Unterschiedliche Verfahrensweisen bei Berg und Schönberg
4.8. Die Sonatensatzform in Bergs Streichquartett op. 3 vor dem Hintergrund der Durchdringung von Form und Inhalt in der Musik

5. Weitere Beispiele früher atonaler Sonatensatzformen
5.1. Anton Webern, op. 5 Nr. 1
5.2. Arnold Schönberg, op. 11 Nr. 1
5.3. Arnold Schönberg, op. 11 Nr. 3

6. Abschließende Betrachtung

7. Anhang
7.1. Graphik 1
7.2. Graphik 2
7.3. Bibliografie

1. Themenstellung

Das radikal neue Konzept atonalen Komponierens, wie es in den Werken der Wiener Schule ab etwa 1908 umgesetzt wurde, bedingte rasch ein Formproblem. In der späteren Darstellung durch Arnold Schönberg und seine Schüler wird dieses Formproblem beschrieben als eine Schwierigkeit, welche in erster Linie die Dimensionen der musikalischen Form betraf: „Durch den Verzicht auf die traditionellen Mittel der Gliederung [...] war das Aufbauen größerer Formen zunächst unmöglich geworden.“[1] Doch wie Simon Obert überzeugend darlegen konnte, deckt sich die Darstellung Schönberg, der Ausweg aus dem Formproblem sei der Rückzug auf das Gebiet von Kompositionen aphoristischer Kürze gewesen, nicht mit den musikhistorischen Tatsachen: gerade in der ersten Phase atonalen Komponierens sind Stücke durchaus ansehnlicher Dimensionen nicht selten zu finden.[2] Dem Konzept musikalischer Kürze steht also in den Jahren nach 1908 durchaus auch das Konzept musikalischer Länge gegenüber.

Es fällt auf, dass sich unter den frühen atonalen Kompositionen, welche sich nicht in die Kategorie dezidiert kurzer Stücke fassen lassen, einige Stücke befinden, deren Form sich als Sonatensatzform beschreiben lässt. Das Vorkommen einer so traditionsgebundenen und mit zahlreichen Assoziationen aufgeladenen Form wie der Sonatensatzform muss zunächst irritieren im Kontext einer Musik, die sich beinah ideologisch alle traditionellen kompositorischen Verfahrensweisen zu verweigern schien; eine Haltung, die Markus Böggemann so griffig als „Projekt Traditionsbruch“[3] bezeichnete. Anhand ausgewählter Beispiele sollen in der vorliegenden Arbeit die Zusammenhänge und Widersprüche zwischen freier Atonalität und Sonatensatzform näher beleuchtet werden.

Dabei geht es bewusst nicht um eine Rehabilitierung der Sonatensatzform, im Sinne eines Nachweises, dass die musikhistorische Bedeutung dieser Form so groß sei, dass der kompositorische Vorsatz des Traditionsbruchs ihr nicht standhalten könne. Die Sonatensatzform ist letztlich nur zu begreifen als ein Aspekt von vielen, der sich in der musikhistorischen Realität querständig zum Vorhaben des Traditionsbruchs zeigt. So ließe sich das Konzept musikalischer Länge auch an anderen Formkonzepten im Rahmen atonaler Musik untersuchen. Doch bietet gerade die Sonatensatzform auf Grund ihrer festen Kanonisierung eine breite Grundlage für die hier vorgenommenen Untersuchungen.

Zunächst gilt es dabei zu verstehen, welcher Art die angenommenen Widersprüche zwischen der Verwendung von Sonatensatzformen und atonaler Musik genau sind, und wodurch sie entstehen. Zu diesem Zweck sollen zumindest in Ansätzen die wesentlichen Charakteristika des Begriffes Sonatensatzform herausgearbeitet werden, sowie die ästhetischen und kompositionstechnischen Hintergründe atonalen Komponierens untersucht werden, sofern sie im Zusammenhang mit der Verwendung von Sonatenhauptsatzformen von Bedeutung sein können.

Als die beiden wesentlichen Beispiele dienen im Rahmen dieser Arbeit zwei Sätze aus frühen atonalen Streichquartetten: zum einen der vierte Satz „Entrückung“ aus Arnold Schönbergs II. Streichquartett op. 10, zum anderen der erste Satz aus Alban Bergs Streichquartett op. 3. Wie zu zeigen sein wird, lassen sich beide Sätze als Sonatensatzformen interpretieren. An diesen beiden und einigen kursorisch zusammengefassten weiteren Beispielen sollen verschiedene Fragen untersucht werden: Wie wird die Sonatensatzform unter den Vorzeichen atonalen Komponierens jeweils umgesetzt? Wie wird mit den zuvor untersuchten Widersprüchen zwischen traditioneller Formgestaltung und atonaler Musik umgegangen? Unter welchen Voraussetzungen und Einschränkungen kann überhaupt von Sonatensatzformen im herkömmlichen Sinne im Kontext atonaler Kompositionen gesprochen werden? Wie sind diese Formen innerhalb des von Markus Böggemann so benannten „Projekts Traditionsbruch“ und seiner Suche nach neuen kompositorischen Verfahren zu bewerten?

Dabei erklärt sich auch die im Titel der vorliegenden Arbeit bewusst gewählt Pluralform des Wortes Sonatensatzform: wie zu zeigen sein wird, kennt nicht nur der Begriff Sonatensatzform eine Vielzahl möglicher Deutungen und Auslegungen; genau so vielfältig sind auch die Möglichkeiten kompositorischer Annäherung an die Form. Die Komponisten der Wiener Schule fanden für diejenigen ihrer Werke, die sich mit der Sonatensatzform auseinandersetzen jeweils individuelle, dem einzelnen Werk unablösbare Strategien für den Umgang mit den Widersprüchen zwischen dem traditionellen Formkonzept und den Prämissen atonalen Komponierens. Zu zeigen, wie diese Widersprüche und die zu ihrer Überwindung in Anwendung kommenden Strategien beschaffen sind, soll Gegenstand dieser Arbeit sein.

Dem Widerspruch zwischen atonaler Musik und der Verwendung von Sonatensatzformen in atonalen Komposition, beziehungsweise überhaupt dem Befund der Existenz atonaler Sonatensatzform wurde bisher in der Literatur überraschend wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Was die Verwendung traditioneller Formschemata im Rahmen der Zwölftonmusik angeht, so ist die Kritik an diesem Widerspruch schon seit den fünfziger Jahren, namentlich seit Pierre Boulez‘ bekannter Polemik „Schönberg ist tot“, selbstverständlicher Bestandteil des Redens über Zwölftonmusik. Hingegen wird über Sonatensatzformen in freier Atonalität kaum gesprochen: selbst eine dem Thema explizit gewidmete Veröffentlichung wie Klaus Schweizers „Die Sonatensatzform im Schaffen Alban Bergs“ behandelt nahezu ausschließlich dodekaphone Kompositionen oder aber spätromantisch tonale Frühwerke; mit der Ausnahme einer knappen Behandlung von Bergs Streichquartett op. 3.[4]

Dies mag seine Gründe zum einen in der seit Adorno geläufigen Auffassung haben, die frühe atonale Musik habe als Musik des radikalen Traditionsbruchs keinerlei Anbindung an traditionelle Formen. Diese Prämisse scheint bis zum heutigen Tag noch häufig als nur schwach reflektierte Grundannahme den Blick auf traditionelle Aspekte atonalen Komponierens zu erschweren.

Zum anderen kann, ähnlich wie in Pierre Boulez‘ eben erwähnter Schmährede, die Feststellung traditionellen Formdenkens in dezidiert Neuer Musik rasch zum Angriffspunkt für eine überkommen konservative Kritik an eben dieser Neuen Musik werden, nämlich, dass sie ihre Berechtigung nur aus der Anbindung an das Alte schöpfe, und von sich aus formal wie inhaltlich nicht lebensfähig sei.

Eine solche Perspektive einzunehmen kann kaum sinnvoll sein für eine primär analytisch ausgerichtete Betrachtung atonaler Sonatensatzformen. Vielmehr gilt es, hier aufzuzeigen, was mögliche Gründe der Komponisten für die bewusste Zusammenführung zweier so widersprüchlicher Phänomene sein können.

2. Sonatensatzform als dialektischer Prozess im Kontext atonaler Musik

Um sinnvoll über das Vorkommen von Sonatensatzformen im Kontext atonaler Musik sprechen zu können, erscheint es zweckmäßig, die für diesen Zusammenhang relevanten Auffassungen des Begriffs „Sonatensatzform“ kurz zu beleuchten. Ein wirklich umfassender historischer Überblick über die Geschichte des Begriffs würde den Rahmen dieser Arbeit überstrapazieren, ebenso wie eine lückenlose Definition, zumal ersteres eine Bedingung für das Gelingen von letzterem darstellt, und umgekehrt. Daher soll lediglich versucht werden, den Begriff auf wenige signifikante Formmerkmale herunterzubrechen, um dann deren Relevanz im Zusammenhang mit atonaler Musik und ihren ästhetischen Konventionen zu beleuchten.

2.1. Kurze Bestimmung einer möglichen Perspektive auf den Begriff der Sonatensatzform

Der Begriff der Sonatenhauptsatzform gehört zu den wichtigsten, zugleich aber auch zu den am schwersten genau zu fassenden Formbegriffen der Musikgeschichte überhaupt. Der Versuch einer exakten Definition der mit dem Begriff zu bezeichnenden Formen wird zusätzlich erschwert durch die wechselvolle Geschichte des Begriffs und die zahlreichen ästhetischen und musikgeschichtlichen Konnotationen, welche sich an ihn anlagern.

Als genau begrenzter Formbegriff taucht das Wort Sonatensatzform zum ersten Mal um das Jahr 1840 bei Adolf Bernhard Marx auf.[5] Marx definiert, in enger Anlehnung an die Klaviersonaten Beethovens bereits wesentliche Stationen des Formverlaufs der Sonatensatzform, die heute noch zu den im allgemeinen Verständnis maßgeblichen Charakteristika der Sonatensatzform gehören: Exposition, bestehend aus Haupt- und Seitensatz, Durchführung und Reprise. Diesen Formteilen sind nach Marx jeweils bestimmte harmonische Funktionen zu eigen, namentlich eine Bewegung von Tonika (Hauptsatz) zu Dominante (Seitensatz), und über eine längere modulierende Strecke (Durchführung) schließlich die Rückkehr zur Tonika (Reprise), mit dem besonderen Effekt der Transposition des Seitensatzes in die Tonika bei seinem Wiederauftreten in der Reprise.

„Doch während Marx‘ Formschema sich im Kontext seiner Formenlehre als Idealtypus im Sinne Max Webers auffassen lässt - abgezogen von Beethovens Klaviersonaten - , hat sich im weiteren Verlauf des 19. und im 20. Jh. die Vorstellung durchgesetzt, daß ein solches Schema die orthodoxe Sonatenform repräsentiere, d. h. arbeitstechnisch den Ausgangspunkt und ästhetisch das Ziel der Komposition darstelle.“[6]

Bereits hier zeigt sich also ein grundsätzliches Problem der Begriffsgeschichte der Sonatensatzform: was zunächst induktiv aus vorhandenen kompositorischen Einzelfällen als beschreibende Idee vereinheitlichend abgeleitet wurde, wurde im Laufe der Zeit zur a priori anzunehmenden Kompositionsvorschrift. Dadurch beginnen Begriff und kompositorische Wirklichkeit letztlich graduell auseinander zu treiben: „Daß die Beethoven-Sonaten ebenso oft vom Sonatenschema abweichen wie die Fugen die Fugen des ,Wohltemperierten Klaviers‘ vom Fugenschema, daß also gerade die Repertoires, von denen die Regeln der Sonate und der Fuge abstrahiert worden sind, Häufungen von Ausnahmen darstellen, ist ein Paradox, das längst zu einem Gemeinplatz geworden ist, durch den sich niemand mehr irritiert fühlt: ein Paradox, dessen Auflösung überflüssig erscheint, weil die immer noch herrschende, Originalitätsästhetik einen Zustand rechtfertigt, in dem nicht nur die Werke von den Normen abweichen, sondern auch die Normen unabhängig von den Werken ein abstraktes Schattendasein fristen.“[7]

Durch die Verschiebung des Begriffs der Sonatensatzform vom beschreibenden Terminus hin zum kanonisch vorschreibenden Terminus ergeben sich zwei Schwierigkeiten: zum einen müssen durch die Verabsolutierung des Marxschen Formschemas zahlreiche Kompositionen, die vor der Festlegung des Begriffs entstanden, durch das Raster der Betrachtung fallen, sofern sie nicht vollständig allen Details der „Formvorschrift“ genügen, beziehungsweise es muss der Begriff der Sonatensatzform immer weiter aufgeweicht und ausgedehnt werden, um auch solche von der Idealform abweichenden Fälle berücksichtigen zu können.

Die andere, im Zusammenhang dieser Arbeit relevantere Schwierigkeit betrifft dagegen Kompositionen, die nach der Festigung des allgemein anerkannten Sonatenformbegriffs entstanden: Wer als Komponist des ausgehenden 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts sich mit der Sonatensatzform auseinandersetzen wollte, musste sich über die Erwartungshaltungen an das Formschema bewusst sein. Daher stellt sich bei Kompositionen dieser Zeit umso dringlicher die Frage, ob bei eventuellen Abweichungen von der Idealform diese überhaupt noch „gemeint“ ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt maßgeblich davon ab, wie die Formvorstellung der Sonatensatzform im historischen Kontext der jeweiligen Komposition ausgesehen haben mag.

Den Begriff immer so weit auszudehnen, dass er jede Komposition umfassen kann, die einzelne Merkmale der Sonatensatzform aufweist, andere jedoch nicht, kann auf die Dauer nicht hilfreich sein, da der Begriff damit seine definierende Kraft verliert. Sinnvoller erscheint es daher, die überzeitlichen Hauptmerkmale der Formvorstellung einer Sonatensatzform auszumachen, und den Begriff eher über diese Kriterien zu erschließen als über das Festhalten an einem detaillierten Formverlauf. Das Ziel einer solchen Betrachtung wäre dann weniger die Erfassung der einzelnen formalen Bestandteile einer Sonatensatzform, sondern „die Charakterisierung des ,sonata style‘ als Summe derjenigen Faktoren, welche die sonatenformspezifische Artikulation im Sinne eines ,dramatischen‘ oder ,psychologischen‘ Vorgangs bewirken.“[8] Dahinter steht die Vorstellung einer bestimmten gedanklich-ästhetischen Komponierhaltung, die zu den Bedingungen der Sonatensatzform gehört, und die sich an bestimmten äußeren Merkmalen dieser Form festmachen lässt, welche dann wiederum gewissermaßen die Minimalanforderungen darstellen, die eine Form erfüllen muss, um als Sonatensatzform oder zumindest als Anspielung auf eine solche gelten zu können.

Vereinfacht gesagt besteht eine auf das „Notwendigste“ reduzierte Sonatensatzform aus den drei Bestandteilen Exposition, Durchführung und Reprise. Von diesen drei Begriffen sind die beiden erstgenannten die ältesten.[9]

Dabei verweist bereits die Bezeichnung „Exposition“ bereits ihrer Etymologie nach auf einen zentralen Faktor des gedanklichen Hintergrunds der Sonatensatzform, nämlich auf deren „dramentheoretische Auffassung.“[10] Greifbar wird in der Analogie zum klassischen Drama die Vorstellung, dass in der Sonatensatzform ein Konflikt ausgetragen und aufgelöst wird, bei dem die beiden Themen des Hauptsatzes als Protagonist und Antagonist fungieren. In diesem Sinne dient die Exposition der Sonatensatzform wie die des klassischen Dramas zur Vorstellung der Charaktere und ihres Konfliktpotentials. Die Vorstellung eines grundsätzlichen Gegensatzes, einer Dialektik, welche den Verlauf der Form überhaupt erst motiviert, ist schon früh im Denken und Reden über die Sonatensatzform verankert: Wie Marx‘ gesamte Theorie der Sonatensatzform findet auch diese Vorstellung vom grundlegenden Themen-Konflikt ihren argumentativen Urgrund in Beethovens Klaviersonaten, namentlich in einem „von Schindler überlieferten Ausspruch Beethovens von den ,zwei Principien‘, die als Gegensätze einem Satz bzw. einer Sonate zugrunde lägen.“[11] Sie gehört mithin also zu den basalen Prinzipien der Formvorstellung.

Eine weitere wichtige Basis unserer Vorstellung einer Sonatensatzform findet sich in dem Begriff Reprise. James Webster verweist in seinem Artikel „Sonata Form“ im „New Grove Dictionary of Music and Musicians“ auf die Funktion des Beginns der Reprise als Alleinstellungsmerkmal der Sonatensatzform: „The central structural event, distinguishing sonata form from all others that begin with an exposition, is the simultaneous return of the main theme and the tonic key in the middle of the second part.“[12]

Interessanterweise erscheint dieser für unsere heutige Auffassung von der Sonatensatzform so wichtige Begriff der Reprise erst verhältnismäßig spät in der entsprechenden musiktheoretischen Terminologie, nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts.[13] Der Begriff wird also genau zu der Zeit für den theoretischen Überbau der Sonatensatzform relevant, die auch in den Betrachtungen der vorliegenden Arbeit die größte Rolle spielt, nämlich als Zeit des Beginns des atonalen Komponierens. Doch noch die siebte Auflage von Hugo Riemanns Musiklexikon aus dem Jahr 1909 versteht unter dem Begriff Reprise lediglich eine allgemeine Bezeichnung für Wiederholungen und Wiederholunsgzeichen. Riemann vermerkt dazu: „Eine besondere Bedeutung hat die [Reprise] im Sonatensatz, wo sie den ersten Teil (die Aufstellung der Themen) vom zweiten (Durchführung und abschließende Wiederkehr der Themen) scheidet.“[14] Für Riemann hatte also der Begriff noch nicht seine in dieser Zeit erst aufkommende Bedeutung als Bezeichnung eben jener „abschließenden Wiederkehr der Themen.“

Markus Bandur verweist in seinem Artikel zur Sonatenform auf zwei wichtige Implikationen des Begriffs Reprise. Zum einen nennt er ihn einen „Ausdruck einer architektonisch-symmetrischen Auffassung von Form“[15], zum anderen gibt er die Einschränkung zu bedenken, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Reprise „auch beschränkend nur de[r] Einsatz des Hauptthemas in der Tonika zu Beginn dieses Teils“[16] bezeichnet werden konnte. Dieselbe Einschränkung macht James Webster noch 2001: „It is useful to distinguish between ,recapitulation‘, in the sense of the entire third section of a sonata-form movement or any large part thereof [...], and the return of a given idea or passage, for which ,reprise‘ can be employed.“[17]

Beide Implikationen können für die Suche nach Grundlagen der Sonatensatzform im Zusammenhang mit atonaler Musik von Bedeutung sein: die „architektonisch-symmetrische Auffassung von Form“ fällt letztlich zusammen mit der bereits angesprochenen Verwurzelung des Sonatenformdenkens in der klassischen Dramentheorie. Der Verlauf einer Sonatensatzform wäre demnach durch die folgenden drei Stationen als symmetrischer Bau zu beschreiben: Aufbau eines Konflikts, Austragung des Konflikts, und schließlich die Auflösung des Konflikts. „Hence, when the return [i. e. die Reprise, Anm. d. Verf.] finally arrives, it functions as a relaxation of tension or as a triumph over difficulties.“[18] Dieser Perspektive entspräche auch die schon bei Adolf Bernhard Marx geleistete „Charakterisierung des dreiteiligen Schemas als Folge von Ruhe, Bewegung und Ruhe“[19].

Dieser exakt symmetrische Bau allerdings steht und fällt mir der Gestaltung der Reprise. Exakte Symmetrie der Form ist nur dann gewährleistet, wenn die Reprise tatsächlich eine möglich getreue Wiederholung der Exposition darstellt. Eine exakt wörtliche Wiederholung der Exposition allerdings kann in der Reprise der Sache nach ohnehin nicht geschehen, da ihr „dramentheoretischer“ Zweck ja die Auflösung des Konflikts zwischen erstem und zweitem Thema, beziehungsweise zwischen Haupt- und Seitensatz darstellt. Diese Auflösung vollzieht sich in der herkömmlichen Theorie der Sonatensatzform durch die Aufhebung des in der Exposition noch bestehenden Tonartenkontrasts beider Themen. Schon insofern ist eine exakte Symmetrie der Form letztlich ein Widerspruch zu deren konflikt-zentrierter Dynamik.

Für die Kompositionen atonaler Musik, die sich als Sonatensatzformen beschreiben lassen, ist aber - wie an beispielhaften Analysen noch zu zeigen sein wird - besonders die bereits angesprochene mögliche Beschränkung des Reprisenbegriffs auf die Wiederkehr des ersten Themas zu Beginn des dritten Teils der Sonatensatzform von Bedeutung. Versteht man nämlich die Bedingung einer Reprise nur durch das erneute Aufgreifen des Themas bereits als erfüllt, und den zu Grunde liegenden Konflikt durch die Reduzierung auf den Protagonisten dieses Konflikts als aufgelöst, so entfällt die Notwendigkeit eines in Ausdehnung und Ablauf mit der Exposition gleichgestellten Formteils Reprise. Dadurch wiederum kann die Form als ganzes asymmetrisch und offen werden, mithin also vom klassischen, statischen Ideal weg und einer moderneren, dynamischeren Auffassung musikalischer Form zugeführt werden.

Dialektisch mit der konfliktlösenden Wirkung der Reprise verschränkt ist wiederum die Durchführung. „Without the reprise, the development has little point; the larger and more complicated the development, the more satisfying is the reprise.“[20] Die Frage nach der genauen Gestaltung der Reprise in ihrem Verhältnis zur Exposition hängt also eng zusammen mit der Frage nach der Gestaltung der Durchführung. Je symmetrischer der Bau des Formganzen gestaltet wird, d. h. je näher die Reprise an der Exposition entlang komponiert wird, umso weniger Gewicht fällt auf die Durchführung, umso mehr tendiert der Bau des Ganzen zur Geschlossenheit und zur Statik. Je mehr sich aber die Reprise von der Exposition abhebt, und beispielsweise in verkürzter Form auf ihren Effekt der Konfliktlösung nach der Durchführung reduziert wird, umso mehr Gewicht entfällt auf die Durchführung, und somit allgemein auf die entwickelnde, prozessuale Kraft der Form. Die Form im Ganzen wird dann asymmetrischer, aber auch offener und dynamischer.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Vorstellung von einer Sonatensatzform von folgenden wichtigen Parametern geprägt wird: die Austragung eines musikalischen Konflikts oder Kontrasts, die symmetrische (statische) oder asymmetrische (prozessuale) Dreiteiligkeit der Gesamtanlage und schließlich das Vorhandensein einer Reprise. Ästhetisch verbunden mit diesen inhaltlichen Anforderungen ist die Vorstellung einer gewissen musikalischen, formalen und inhaltlichen Größe des Anspruchs. Sonatensatzform ist eine Möglichkeit zur Erzeugung langer Formen, die wiederum die Möglichkeit bieten, große Erzählungen zu leisten und große Bedeutungen zu transportieren. Auf Grund der Geschichte der Sonatensatzform wird diese Möglichkeit beinahe zur Verpflichtung: die Sonatensatzform steht also gewissermaßen symbolisch für höchsten musikalischen Anspruch, für die Vermittlung einer wie auch immer gearteten Botschaft, die über der Musik steht.

2.2. Ästhetische Konventionen atonaler Musik und ihre Widersprüche zur Sonatensatzform

Es lassen sich vier wesentliche Aspekte bestimmen, an denen atonale Musik mit den ihr eigenen ästhetischen Konventionen in Widersprüche zur Verwendung von Sonatensatzformen gerät. Am augenscheinlichsten ist zunächst der Widerspruch zwischen dem selbstgegebenen Gebot des Traditionsbruchs der Wiener Schule einerseits und der langen Traditionsgeschichte der Sonatensatzform andererseits. Des Weiteren scheint der Wegfall funktionsharmonischer Mittel den Gebrauch einer durch harmonische Verläufe charakterisierten Form zu erschweren oder unmöglich zu machen. Schließlich steht der Gebrauch einer Reprisenform im Widerspruch zu der Vermeidung von Wiederholungsformen im Allgemeinen innerhalb atonaler Musik. Und als letzten der vier Aspekte gilt es den Widerspruch zwischen der erforderlichen Länge einer Sonatensatzform und dem ästhetischen Gebot der Kürze in atonaler Musik zu untersuchen.

2.2.1. Traditionsbruch und traditionelle Formen

Schon die Herkunft des Begriffs „atonale Musik“ verrät deren immanenten inhaltlichen Zusammenhang mit traditioneller tonaler Musik. Die Bezeichnung „Atonalität“ erschien zuerst im Zusammenhang mit der Musik der Komponisten der Zweiten Wiener Schule, und wurde von deren Gegnern im Sinne einer Polemik gebraucht.[21] Gemeint war also nicht ein technischer Terminus, der tatsächlich das Wesen der Tonbeziehungen in der so bezeichneten Musik zu erfassen versuchte, sondern vielmehr ein despektierlich negierender Ausdruck, der in erster Linie das Ziel hatte, der Musik der Wiener Schule und anderer die bestimmenden Qualitäten abzusprechen, die man gemeinhin mit hochwertiger Musik verband. Schon in dieser Herkunft des Begriffs zeigt sich also ex negativo der unauflösliche Zusammenhang zwischen Musiktradition und atonaler Musik als Musik des Traditionsbruchs.

Dennoch ist dieser Traditionsbruch nur zum Teil ein so glatter und endgültiger Bruch, wie ihn die Gegner der atonalen Musik darzustellen suchten. In der Selbstwahrnehmung der Komponisten der Neuen Musik finden sich häufig auch Hinweise auf ein Gefühl kontinuierlicher Entwicklung, also auf ein graduelles Abschaffen überkommener Traditionen, mehr denn auf einen radikalen Bruch. Elmar Budde zitiert in seinem Artikel „Atonalität“ in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ einen Aufsatz Bela Bartóks, in welchem dieser schreibt: „Dennoch scheint es nicht richtig zu sein, wenn das tonale Prinzip als absoluter Gegensatz des atonalen Prinzips aufgefaßt wird. Das letztere ist vielmehr die Konsequenz einer allmählich aus dem tonalen entstandenen Entwicklung, welche durchaus graduell vor sich geht und keinerlei Lücken oder gewaltsame Sprünge aufweist.“[22] Budde bemerkt weiterhin zu diesem Zitat: „Tonalität und Atonalität sind also nicht, wie Bartók darlegt, zwei gegensätzliche Prinzipe, vielmehr geht das Prinzip der Atonalität aus der Tonalität hervor; d. h., atonale Musik ist in ihrer Besonderheit immer auf die Tradition der tonalen Musik bezogen. Wenn man von dieser spätestens seit den 1920er Jahren sich abzeichnenden Bestimmung der Bezeichnung Atonalität ausgeht, dann kann mit Atonalität nur jene Musik sinnvoll bezeichnet werden, die sich bewußt in Beziehung setzt zur traditionellen tonalen Musik, sei es im Sinne einer Weiterentwicklung oder sei es im Sinne einer Negation.“[23]

Dass Arnold Schönberg selbst sich grundsätzlich als Verfechter von Neuerungen in der Kunst verstand, dürfte unbestritten sein. Sein Diktum „Kunst heißt Neue Kunst“[24] hat durchaus programmatischen Charakter für seine Musik wie die seines Umkreises. Dennoch ist für Schönberg, und in diesem Zusammenhang auch für die gesamte Wiener Schule, auch eine große Verehrung für „Klassiker“ vergangener Epochen feststellbar, und für den Glauben an eine kontinuierliche Entwicklung hin zu der eigenen, Neuen Kunst. So weist Schönberg 1923 in einem Brief an Werner Reinhart mit einer einiger Emphase darauf hin, er wünsche verstanden zu werden als „ein natürlicher Fortsetzer richtig verstandener, guter, alter, Tradition!“[25]

In Bezug auf formale Gestaltung und Formenlehre hat dieser doppelte Bezug der Wiener Schule auf die Tradition der Musikgeschichte - Traditionsbruch einerseits und organische Weiterentwicklung andererseits - folgende Konsequenzen: Zum einen findet sich beispielsweise in den Schriften Schönbergs oft die ursprünglich von Franz Liszt in antiformalistischem Bemühen geprägte Formulierung von der Notwendigkeit, neuen Wein in neue Schläuche zu füllen.[26] Doch zum Anderen geht diese Verweigerung traditioneller Formbildung oft einher mit dem Bekenntnis, dass das der jeweiligen Form zu Grunde liegende Formdenken einen stil- und epochenübergreifenden Charakter hat, also dem musikalischen Schaffen überzeitlich als Basis dient. „Das von Liszt in die Musiktheorie eingeführte Bild wird nunmehr [bei Schönberg, Anm. d. Verf.] semantisch umgekehrt verwandt, um nicht Schemata, sondern Prinzipien der Formgebung zu benennen: Diese können - im Sinne des Konzepts eines überzeitlichen künstlerischen Gedankens [...] - nicht veralten. Formen hingegen sind bei Schönberg als adäquate Darstellungsformen des Gedankens der jeweiligen Problemstellung angemessen flexibel zu behandeln. Dies schließt jedoch die Verwendung alter Formen in neuer Musik [...] nicht aus [...]“.[27]

Folgende Feststellung kann gemacht werden: Das Bild atonaler expressionistischer Musik als Musik des Projekts Traditionsbruch und die Feststellung von Sonatensatzformen in atonalen Kompositionen stehen zunächst im Widerspruch zueinander. Dieser Widerspruch hat auf den ersten Blick zwei mögliche Auflösungen. Überspitzt ausgedrückt sind diese Möglichkeiten: Entweder stellt das Bild vom Projekt Traditionsbruch eine Illusion dar, oder aber die Interpretation atonaler Stücke als Sonatensatzform ist eine Fehlinterpretation.

Die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene Deutung früher atonaler Stücke als Sonatensatzformen basierte wesentlich auf der Prämisse, dass sich diese Form nicht zwingend im traditionellen Sinne über harmonische oder thematische Zusammenhänge manifestieren muss, sondern dass dies auch über den allgemeineren Zugang eines dialektisch-prozessual ausgetragenen Kontrasts geschehen kann. Angesichts eines bis zum Beginn atonalen Komponierens offenbar anders ausgerichteten Verständnisses Sonatensatzform muss diese Prämisse vielleicht einer grundlegenden Skepsis ausgesetzt werden. Unter welchen Bedingungen kann man wirklich mit Fug und Recht vom Vorhandensein einer Sonatensatzform sprechen?

Die Vielfältigkeit dieser Form über die Jahrhunderte hinweg, bewahrte ihr stets eine gewisse ambivalente Offenheit: Offenheit einerseits für die Durchdringung mit verschiedenen kompositorischen Verfahren, die verhinderten, dass aus der häufig gebrauchten Form ein Stereotyp werden konnte; Offenheit andererseits für die verschiedensten Ansatzpunkte der Interpretation, die es ermöglichten, in den zahlreichen vom Idealtypus abweichenden Umsetzungen trotzdem die Sonatensatzform quasi als Idee zu erkennen. Im Wissen um die große Bedeutung des Formtyps für die Musik des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts, und somit allgemein für Musikgeschichte, kann man nur allzu leicht der Gefahr erliegen, jede dialektische, auf Dualismen zwischen Themen und harmonischen Bezügen basierende Form als Sonatensatzform zu „erkennen“, zumal die Form in der zeitgenössischen Theorie nie so klar definiert wurde, dass man mit einem klar definierten Auftreten in der kompositorischen Praxis rechnen könnte. Wenn nun aber die Vielzahl der unter dem Begriff Sonatensatzform subsummierten Formen möglicherweise nur unter dem Begriff subsummiert wurde, weil eben eine solche Vielzahl seiner Vertreter bekannt ist, wird die Gefahr eines Zirkelschlusses offenbar.

Es gilt also, vorsichtig zu sein, und nicht den gleichen Zirkelschluss auf die Musik „nach dem Traditionsbruch“ anzuwenden, und zwar weder positiv noch negativ: weder sollte a priori davon ausgegangen werden, dass sich in einem dem Traditionsbruch verpflichteten Kompositionsumfeld sicher keine traditionellen Formen finden werden, noch sollte man auf der Suche nach den Lösungen für die Formprobleme der Zeit jede bekannt erscheinende kompositorische Maßnahme als Relikt traditioneller Formen im Allgemeinen oder der Sonatensatzform im Speziellen betrachten. Vor dem Hintergrund einer radikal Neuen Musik, die dennoch immer auf der Überlieferung aufbauen muss, da sie keine andere Grundlage kennt, sind solche Befunde tatsächlich nichts als „disparate Traditionsreste.“[28]

Wo allerdings in atonaler Musik deutlich, unmissverständlich artikulierte Sonatensatzformen Verwendung finden, ist dies bewusst geschehen, auch sicher im Bewusstsein der Komponisten um die Traditionalität dieser Form. „Gerade weil die Atonalität von sich aus keine Formimplikationen mit sich führt - wie sie in der Tonalität ja bereits eine kadenzierende Akkordfolge darstellt -, ist davon auszugehen, dass die Komponisten der Wiener Schule die Form [...] ihrer Stücke äußerst absichtsvoll und bewusst komponiert haben, ja, komponieren mussten.“[29] Dies würde bedeuten, dass es sich bei früher atonaler Musik noch keineswegs per se um Musik des radikalen Traditionsbruchs handelte, sondern eher um eine Musik der Erprobung der neuen Möglichkeiten des atonalen Komponierens; Erprobung eben auch der möglichen Kombinationen alter Formen und neuer Kompositionstechniken. In Bezugnahme auf Schönbergs 4. Satz „Entrückung“ schrieb Friedhelm Krummacher: „Einsichtig wird indes, daß es Schönberg bei aller Freiheit darum ging, ein Stück latenter Ordnung zu wahren.“[30] Gerade in der Frühzeit der atonalen Musik ist es natürlich durchaus denkbar, solche Versuche „latenter Ordnung“ an traditionelle Formen zu ketten, die dann wiederum nicht als Anspielungen oder Kommentare auf ein irgendwie geartetes Verhältnis der Neuen Musik zur Tradition wären, sondern lediglich bemühte Hilfsmittel, die den Rahmen vorgaben, in dem sich die beginnende Neue Musik zu entfalten beginnen konnte.

„Die Neue Musik um 1910 entwickelte sich jedoch teilweise ohne den rebellierenden Gestus, der in anderen Kunstgattungen waltete. [...] Die Rückbindung an die handwerklichen Traditionen des Tonsatzes war groß.“[31] Für eine solche, weniger radikale Auffassung frühen atonalen Komponierens sprechen auch einige Selbstaussagen aus dem Umfeld Schönbergs, die nahelegen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Komponisten der atonalen Musik sich durchaus nicht, oder nicht ausschließlich, als Revolutionäre und Umstürzler betrachteten, sondern auch bemüht waren, sich in der Tradition europäischer Musikgeschichte zu sehen, und an diese anzuknüpfen. „Schönberg, Berg, Webern haben sich in ihren Werken, denen die Bezeichnung atonal unzweideutig anhaftet, bewußt in einen Traditionszusammenhang zur traditionellen Musik gestellt, oder anders gesagt, sie haben das sogenannte Neue ihrer Werke immer als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung begriffen, die nur aus der Tradition das 19. Jahrhunderts zu verstehen ist [...].“[32]

2.2.2. Atonalität und harmonisch konstruierte Form

Die Problematisierung des Zusammenhangs zwischen Sonatensatzform und Atonalität hängt entscheidend davon ab, ob man das Konzept Sonatensatzform als in erster Linie funktionsharmonisch gegliederte Form begreift, oder eher als Kontrastform zweier thematischer Komplexe.

„Die fortschreitende Auflösung der Tonalität musste die Sonate, deren Form sich primär aus dem Tonartenkontrast konstituiert, besonders treffen.“[33] Dieses Verständnis der Sonatensatzform als einer primär aus dem Tonartenkontrast, und dem auf die Tonarten bezogenen Themenkontrast, konstituierten Form scheint in unserer modernen Auffassung der Form das weitaus verbreitetere zu sein, wie sie von Carl Dahlhaus pointiert dargestellt wird: „Themen erscheinen als Markierungen von Tonarten, nicht Tonarten als bloße Fundamente von Themen.“[34] Aus diesem Blickwinkel heraus verwundert es auch nicht, dass das Vorhandensein von Sonatensatzformen in atonaler Musik oft vernachlässigt wird. James Webster beispielsweise konstatiert den Gebrauch von Sonatensatzformen lediglich für das Repertoire der Zwölftonmusik und die damit verbundene Rückkehr zu längeren Formen, ignoriert aber völlig ihren Gebrauch in vordodekaphoner atonaler Musik.[35] Doch hat diese Perspektive auch hier zweifellos mit Websters Sichtweise auf die Sonatensatzform als primär funktionsharmonisch getriebener Form zu tun: „Insofar as tonality is the essential force governing sonata form, then 12-note ,sonata form‘ is necessarily different in practice. [...] The form is an abstract norm of coherence. [...] If sonata form is implied, it is hardly audible in any traditional sense.“[36]

Weniger radikal äußert sich Riemanns Musiklexikon in der Auflage von 1967. Dort stellt Hans Heinrich Eggebrecht im Artikel „Sonatensatzform“ fest: „In der Wiener Schule nach 1900 (Schönberg, Webern, Berg) wurde, sobald das tonale Bezugssystem der Tonsetzung (und damit der Formgebung) aufgegeben war, die Sonatensatzform von der thematisch-motivischen Entwicklung her neu gedacht: indem von der ,tonalen‘ Sonate die spezifisch kompositorische Komponente abstrahiert wurde, wurde doch zugleich ihr Aufbau als latentes Gerüst übernommen.. Die Verwirklichung der Sonatensatzform ergibt sich hier auf Grund rhythmisch-gestischer Korrespondenzen, der Charaktere der ,Themen‘, der Art der Verbindung zwischen ihnen und der kombinatorischen Durchführung des Reihenmaterials.“[37] Zwar erkennt Eggebrecht die Existenz atonaler Sonatensatzformen an, doch scheint auch seine Perspektive auf deren Realisierung eher die einer eher ungenauen Anlehnung an das ungefähre Gerüst der Form zu sein. Zudem gibt seine Erwähnung der „Durchführung des Reihenmaterials“ einen Hinweis darauf, dass in seiner Sicht auf die Wiener Schule an dieser Stelle freie Atonalität und Zwölftonmethode in eins gefasst werden, was natürlich einer exakten Beschreibung des Vorkommens genau realisierter Sonatensatzformen gerade in früher atonaler Musik nicht zu Gute kommt.

Eine andere Position beschreiben hingegen Aussagen wie die folgende von H. Fladt: „Sonatendenken nun ist im frühen 20. Jahrhundert integraler Bestandteil des Formbewusstseins. [...] Wird der Formtypus Sonatensatz eliminiert, so sind doch Züge von sonatenhaftem, dialektisch-prozessualen Denken in neuen Konzeptionen verankert.“[38]

Zwar suggeriert auch dieses Zitat mit der Vorstellung einer „Eliminierung des Formtypus“ eine radikale Abkehr von der traditionellen Sonatenhauptsatzform, die so nicht der historischen Realität entspricht. Wichtig an Fladts Aussage erscheint allerdings ein anderer Aspekt: die Sonatensatzform wird hier nicht als harmonisch-thematische Konstruktion in einen grundsätzlichen Widerspruch zur Ästhetik der atonalen Musik gesetzt; vielmehr wird sie auf das Charakteristikum „dialektisch-prozessualen Denkens“ zurückgeführt, welches den Vorgaben atonalen Komponierens gerade nicht widerspricht.

Anders gesagt lässt sich die Sonatensatzform auf eine streng dem Formschema verpflichtete Art einerseits, sowie auf eine eher auf das zu Grunde liegende Formdenken Bezug nehmende Art andererseits begreifen; entweder als Formverlauf des auskomponierten Kontrasts zweier Themen und der mit ihnen verbundenen harmonischen Sphären, oder allgemeiner als dialektischer Prozess kontrastierender Zonen „mit einleitender Exponierung eines Kontrasts, seiner konflikthaften Zuspitzung in der Durchführung und der schließlichen Lösung durch (teilweise) Aufhebung des Kontrasts.“[39] Die angesprochenen Zonen dieses Kontrasts müssen ihre Ausprägung eben nicht unbedingt ausschließlich in Themen und Harmonien finden. Diese beiden unterschiedlichen Perspektiven auf die Sonatensatzform führen zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen bei der Analyse atonaler Kompositionen, und in der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Sonatensatzform und Atonalität. Verbindet man den Begriff der Sonatensatzform zwingend mit der Erwartungshaltung thematisch und harmonisch sich darstellender Satzzonen, so wird man schwerlich Sonatensatzformen in atonaler Musik finden können. Dem atonalen Idiom eher verträglich ist hingegen das Verständnis der Sonatensatzform als dialektischer Prozess kontrastierender Satzzonen.

Historisch gesehen ist diese Perspektive auf die Sonatensatzform - neben der rein thematisch zentrierten Anschauung - die zu Zeiten Schönbergs und seiner Schüler vermutlich die bei weitem vorherrschende. Ihre prototypische Verwirklichung findet sie in den Klaviersonaten Beethovens, der „die geordnete Architektur der Sonatenform von innen heraus dynamisierte, indem er ihre Bestimmungsmomente einer Dialektik unterwarf, die jedem Abschnitt der Form eine unauflösbare Mehrdeutigkeit vermittelt, eine Mehrdeutigkeit, die für die Konzeption einer musikalischen Form als eines in stetem Fluß befindlichen Prozesses charakteristisch ist.“[40] Die Vorbildfunktion des Beethovenschen Sonatenschaffens bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein, unterstreicht Danuser explizit: Beethovens Sonaten seien „klassische Exempel für die musikalische Logik eines Formbegriffs, der im Sinne eines Sonatendenkens, Sonatenstils oder Sonatenprinzips - weit über die sogenannte ,Sonatenform‘ im engen Sinne hinaus - die Geschichte der musikalischen Komposition bis (wenigstens) zur Wiener Schule Arnold Schönbergs begründet hat.“[41] Schönberg selbst legte in seinem Kompositionsunterricht, wie von seinen amerikanischen Studenten bezeugt ist, größten Wert auf die Analyse und Kenntnis der „unvermeidlichen Beethovensonaten.“[42]

Dem entspricht auch die Darstellung des Schönberg-Schülers Erwin Ratz, der in seiner „Einführung in die musikalische Formenlehre“ aus dem Jahr 1951, ausdrücklich „im engsten Anschluß an die von Arnold Schönberg im Kompositionsunterricht gegebene Darstellung“[43] die Klaviersonaten Beethovens primär als eine kontrastierende Abfolge fest und locker gefügter Texturen beschreibt[44] - eine Sichtweise, die den Sonatensatzformbegriff für atonale Musik fruchtbar macht, und die zudem den Versuch eines Brückenschlags von Beethovens Klavierwerken hin zu Stücken wie etwa den Drei Klavierstücken op. 11 von Arnold Schönberg unternimmt.

Die Vorstellung der Sonatensatzform als Form eines dialektischen Prozesses, der sich eher durch Satzstruktur und -textur äußert als durch funktionsharmonische Abläufe, scheint also zu Beginn der atonalen Musik die allgemein verbreitete gewesen zu sein. Zu dieser Erkenntnis trägt auch die Tatsache bei, dass das Verständnis der Sonatensatzform als Konfliktform harmonischer Stationen historisch gesehen erst wesentlich später als die atonale Musik entstand, nämlich in Amerika ab etwa 1940, in Europa erst in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.[45] Dagegen bildete die Vorstellung eines „Geschlechterdualismus“[46] zwischen Haupt- und Seitensatz, der eher charakterlichen und vielleicht thematischen, weniger jedoch harmonischen Eigenschaften geschuldet sein sollte, noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein einen wesentlichen Bestandteil des Sonatenformdenkens.[47]

Hinzu kommt, dass in Schönbergs Verständnis von Formenlehre die Vorstellung eines der Form zu Grunde liegenden Konflikts, dessen Austragung die Form erzeuge, noch wesentlich allgemeiner von Bedeutung ist, als nur im Zusammenhang mit der Sonatensatzform: „Form ist jener Ruhezustand der durch Ausbalancierung wiederstrebender [sic] Kräfte hervorgebracht wird. Form ist das Ende der Unruhe entgegenstrebender Kräfte, welche eintritt, wenn diese einander das Gleichgewicht halten.“[48] Eine solche Auffassung des Formbegriffs im Allgemeinen gibt Anlass zu der Vermutung, dass auch die Perspektive Schönbergs auf die Sonatensatzform primär deren dialektisch-prozessuale Ausrichtung im Blick hatte, und weniger ihre funktionsharmonische Manifestation.

Dennoch steht außer Frage, dass mit dem Wegfall funktionsharmonischer Gestaltungsmittel auch die Manifestation von Sonatensatzformen bestimmten grundlegenden technischen Schwierigkeiten unterworfen wird. So wird beispielsweise in der gängigen, tonalen Konzeption einer Sonatensatzform der Beginn der Reprise nicht nur thematisch durch den erneuten Einsatz des ersten Themas gekennzeichnet, sondern auch harmonisch durch die Rückkehr zur Tonika des Satzes. „Neither a simple restatement of the main theme alone, nor a simple return to the tonic alone, has the intense impact of this simultaneous return.“[49] Dieser von Webster beschriebene doppelte Effekt der Reprise muss deren Wirkung im Rahmen einer atonalen Komposition zwangsweise abschwächen, da die Rückkehr zu einem tonalen Zentrum hier der Sache nach entfallen muss. Interessanterweise zeigt sich aber sowohl bei Schönberg als auch bei Berg in den noch zu behandelnden Beispielen eine Tendenz, die Themen, die ja an sich nicht mehr an bestimmte Tonhöhen gebunden sind, bei ihrer Wiederkehr in der Reprise auf der Ausgangstonhöhe der Exposition erscheinen zu lassen; möglicherweise ein Versuch, den verloren gegangen Effekt der Rückkehr zur Tonika wenigstens in Ansätzen durch die Rückkehr zu einem bestimmten Ausgangspunkt der Tonhöhenorganisation bewahren zu können.

2.2.3. Wiederholungsverbot und Reprisenform

Doch auch in einer noch viel grundsätzlicheren Art kann die Gestaltung der Reprise zum Problem innerhalb atonaler Sonatensatzformen werden; nämlich insofern, als das Konzept wörtlicher Wiederholung generell dem „Projekt Traditionsbruch“ und den ästhetischen Ausdrucksidealen des Expressionismus zuwider läuft.

Schönberg bringt das Problem wörtlicher Wiederholung in seinem Aufsatz „Komposition mit zwölf Tönen“ auf den Punkt: „Verdoppeln heißt betonen, und ein betonter Ton hätte als Grundton oder gar als Tonika interpretiert werden können; die Folgen einer solchen Interpretierung mußten vermieden werden.“[50]

Anders gesagt barg wörtliche Wiederholung schon einzelner Töne, vielmehr also noch die Wiederholung ganzer Phrasen, Themen oder gar Abschnitte die Gefahr tonaler Befestigung, und damit der ungewollten Rückkehr zu technischen und expressiven Mitteln, deren Überwindung das erklärte Ziel der Komponisten atonaler Musik war.

Wiederholung als Sinn stiftendes und generierendes Mittel war zentrales Element herkömmlicher, traditioneller Kompositionsweise, und widersprach damit nicht nur der bereits besprochenen Abkehr von überkommenen Traditionen, sondern auch dem im Expressionismus zentralen Ideal des aufs Äußerste verdichteten Ausdrucks. Die direkte, unverstellte Expression steht in ihrer Einmaligkeit in diametralem Widerspruch zum Konzept wörtlicher Wiederholung.

Auflösen lässt sich dieser Widerspruch nur auf dem Weg über das Konzept musikalischer Form. Wo der verdichtete Ausdruck, die reine musikalische Expression sich dem Zuhörer hermetisch verschloss, konnte nur die Klarheit und Verständlichkeit der Form das Verständnis des Hörers sichern - auf diese Verschränkung von Form und Inhalt wird im späteren Verlauf der Arbeit noch näher einzugehen sein. Die Klarheit und Verständlichkeit musikalischer Form jedoch bedingt beinah automatisch einen gewissen Grad an Wiederholung.

Arnold Schönberg war sich der Zwiespältigkeit des eigenen Verhältnisses zur Frage der Wiederholung sichtlich bewusst. An verschiedenen Stellen seiner musiktheoretischen Schriften betont Schönberg explizit die Wichtigkeit von Wiederholung für das Erreichen des ästhetischen Ziels musikalischer Fasslichkeit: „ Je leichtfasslicher ein Tonstück sein soll, desto öfter werden alle Teile, kleine oder große, wiederholt werden müssen. Je weniger Teile aber wiederholt werden und je seltener, desto schwerer verständlich ist das Tonstück.“[51]

Dieses Zitat lässt jedoch auch die andere, kritischere Sichtweise Schönbergs auf das Konzept der Wiederholung anklingen: ein Übermaß an Wiederholung führt zwangsweise zu Banalität. Als Königsweg stellt sich Schönberg daher die Technik der entwickelnden Variation dar: „In der Musik aber zeigt die Wiederholung (insbesondere in Verbindung mit Variation), daß aus Einem Verschiedenes entstehen kann, indem es sich entwickelt, indem es musikalische Schicksale erlebt, indem es aus sich neue Gestalten erzeugt, wie dies allerdings erst in den höheren Kunstformen in überzeugender Weise der Fall ist.“[52]

Dennoch zeigt sich in den noch zu behandelnden Beispielen im Rahmen dieser Arbeit ein durchaus vorsichtiger oder zumindest umsichtiger Umgang der Komponisten mit der Gestaltung der Reprise. Offensichtlich stellte das Finden eines Mittelwegs zwischen Verständlichkeit der Form einerseits und der Vermeidung banaler Wiederholung andererseits eine der Hauptschwierigkeiten bei der Erzeugung atonaler Sonatensatzformen dar.

Die zu erwartende Strategie der Komponisten atonaler Musik wäre angesichts der Schwierigkeiten, welche die Reprise aufwirft, eine größere Fokussierung auf die Durchführung. Wie bereits dargelegt, stehen Durchführung und Reprise in einem dialektischen Verhältnis zueinander: der konfliktlösende Effekt der Reprise wird durch eine längere und dramaturgisch spannendere Durchführung verstärkt - insofern könnte ein größerer kompositorischer Fokus auf die Durchführung wiederum das formale Defizit einer bewusst unterrepräsentierten Reprise ausgleichen.

Dieses Vorgehen entspräche insofern den stilistischen Gegebenheiten atonaler Musik, als die Komponisten der Wiener Schule, vor allem Schönberg, die Bedeutung motivisch-thematischen Arbeitens beziehungsweise der von Schönberg so bezeichneten Technik der entwickelnden Variation als primäres Mittel zur Darstellung von Logik und Zusammenhang betrachteten, mithin also nach dem Wegfall harmonischer Mittel zur Strukturbildung genuine Durchführungstechniken zum zentralen Werkzeug des Komponierens machten.[53]

Der Befund der hier untersuchten Beispiele zeigt jedoch vielmehr ein Übergreifen durchführender Techniken auf die Reprise selbst. „Die von Lobe eingesetzte, klassische Definition der thematischen Arbeit (einen ,Gedanken‘ zu wiederholen und gleichzeitig zu verändern, so dass er sowohl als identisch als auch als verschieden wahrgenommen wird [...] )“[54] findet im Bereich atonalen Komponierens Anwendung im Bereich der Reprise. Sowohl in Schönbergs Streichquartett op. 10 (4. Satz) als auch in Bergs Streichquartett op. 3 (1. Satz) lässt sich zeigen, dass beide Komponisten Möglichkeiten finden, die Reprise eben genau so zu gestalten, dass sie einerseits als identisch wahrgenommen werden kann, also ihren eigentlich Zweck, die Reprisenwirkung, erfüllt, andererseits aber als verschieden genug von der Exposition gelten kann, um der Forderung nach Wiederholungsvermeidung zu genügen.

2.2.4. Expressionistische Kürze und groß angelegte Form

„Von allem Anfang an war ich mir klar darüber, daß für den Entfall der tonalen Gliederungsbehelfe ein Ersatz gefunden werden muß, der ermöglicht, wieder größere Formen zu bauen. Denn da die Länge ein relativer Begriff, aber eine Dimension der Musik ist, da Musikstücke somit lang oder kurz sein können, kann der Ausweg der kurzen Stücke nur ein gelegentlicher sein.“[55] Diese Aussage, die Arnold Schönberg im Jahre 1926 traf, steht symptomatisch für eine apologetisch ausgerichtete Argumentationslinie der eigenen Geschichtsschreibung der Wiener Schule: nach der Entwicklung der Zwölftonmethode degradierten Schönberg und sein Umfeld im Rahmen eines teleologisch ausgerichteten Geschichtsbildes ihre expressionistischen Stücke, für die teils extreme Kürze ein herausragendes Merkmal gewesen war, zu bloßen Übergangserscheinungen, deren Kürze nicht kompositorisch intendiertes Ziel sondern Notlösung gewesen sei; und zwar Notlösung für das Formproblem der atonalen Musik, welches aus dem Wegfall der von sich aus Zeitstrukturen ausbildenden Funktionsharmonik entstand. Ziel dieser Behauptung war die Darstellung der Zwölftonmethode als Königsweg zur Lösung besagten Formproblems. Im Rahmen dieser Apologetik übergingen die späteren Zwölftonkomponisten häufig schlicht die Existenz längerer atonaler Formen unter ihren früheren Werken, um den Eindruck zu erwecken, Kürze sei von vornherein nicht nur Charakteristikum sondern auch Defizit atonaler Kompositionsweise gewesen. So schrieb Schönberg in seinem Aufsatz „Komposition mit zwölf Tönen“: „Gleich von Anfang an unterschieden sich diese [d. h. die frühen atonalen, Anm. d. Verf.] Kompositionen nicht nur melodisch, thematisch und motivisch von jeder früheren Musik. Doch ihre entscheidensten Merkmale in statu nascendi waren die große Ausdruckskraft und die ungewöhnliche Kürze.“[56] Schönberg übersieht dabei, vermutlich bewusst, dass eben gerade „in statu nascendi“ durchaus sich noch längere Formen in den atonalen Kompositionen der Wiener Schule finden lassen, und dass die „ungewöhnliche Kürze“ erst im Laufe der Zeit zum Alleinstellungsmerkmal des neuen Stils wurde.

[...]


[1] Arnold Schönberg, zit. nach: Obert: Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2008. S. 269

[2] vgl. ebd. S. 269

[3] vgl. Böggemann: Gesichte und Geschichte. Arnold Schönbergs musikalischer Expressionismus zwischen avantgardistischer Kunstprogrammatik und Historismusproblem. Wien 2007. S. 92ff

[4] vgl. Schweizer: Die Sonatensatzform im Schaffen Alban Bergs. Stuttgart 1970.

[5] vgl. Bandur: Art. Sonatenform, in: Finscher, Ludwig (Hg): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil. Bd. 8. Kassel [u. a.] 1998. Sp. 1608

[6] ebd. Sp. 1608

[7] Dahlhaus: Zur Theorie der Sonatenexposition, in: Musica 40 (1986). S. 511

[8] Bandur: Art. Sonatenform, in: MGG. Sp. 1609

[9] vgl. ebd. Sp. 1609f

[10] ebd. Sp. 1609

[11] Danuser: Beethoven als Klassiker der Klaviersonate, in: Ders. (Hg): Gattungen der Musik und ihre Klassiker. Laaber 1988. S. 205

[12] Webster: Art. Sonata Form, in: Sadie, Stanley (Hg): The new Grove dictionary of music and musicians. London [u.a.] 2001. S. 688

[13] vgl. Bandur: Art. Sonatenform, in: MGG. Sp. 1610

[14] Riemann: Hugo Riemanns Musik-Lexikon. Leipzig 1909. S. 1164

[15] Bandur: Art. Sonatenform, in: MGG. Sp. 1610

[16] ebd. Sp. 1610

[17] Webster: Art. Sonata Form, in: NG. S. 693

[18] ebd. S. 688

[19] Bandur: Art. Sonatenform, in: MGG. Sp. 1611

[20] Webster: Art. Sonata Form, in: NG. S. 688

[21] vgl. Budde: Art. Atonlität, in: Finscher, Ludwig (Hg): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil. Bd. 1. Kassel [u. a.] 1998. Sp. 945f

[22] Bela Bartók, zit. nach: ebd. Sp. 947

[23] ebd. Sp. 947

[24] Schönberg: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Gesammelte Schriften. Bd. 1. Nördlingen 1976. S. 26

[25] Schönberg: Briefe. Mainz 1958. S. 104

[26] vgl. Jacob: Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs. Bd. 1. Hildesheim 2005. S. 107ff

[27] ebd. S. 110f

[28] Böggemann: Gesichte und Geschichte. S. 181

[29] Obert: Musikalische Kürze. S. 270

[30] Krummacher: Handbuch der musikalischen Gattungen. Bd. 6.2. Das Streichquartett. Laaber 2005. S. 255

[31] de la Motte-Haber: Neue Musik und Tradition, in: Kuckertz, Josef: Neue Musik und Tradition. Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag. Laaber 1990. S. 432

[32] Budde: Art. Atonalität, in: MGG. Sp. 947

[33] Mielke-Gerdes: Art. Sonate, in: Finscher, Ludwig (Hg): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil. Bd. 8. Kassel [u. a.] 1998. Sp. 1597

[34] Dahlhaus: Zur Theorie der Sonatenexposition. S. 511

[35] vgl. Webster: Art. Sonata Form, in: NG. S. 696

[36] ebd. S. 696

[37] Eggebrecht: Art. Sonatensatzform, in: Gurlitt, Willibald (Hg): Riemann Musiklexikon. Bd. 3. Sachteil. Mainz 1967. S. 885

[38] H. Fladt, zit. nach: Mielke-Gerdes: Art. Sonate, in: MGG. Sp. 1598

[39] Böggemann: Gesichte und Geschichte. S. 169

[40] Danuser: Beethoven als Klassiker der Klaviersonate. S. 207

[41] ebd. S. 210

[42] vgl. Dünki: Schönbergs Zeichen. Wege zur Interpretation seiner Klaviermusik. Wien 2006. S. 19

[43] Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre. Wien 1951. S. 33

[44] vgl. ebd. S. 17ff

[45] vgl. Bandur: Art. Sonatenform, in: MGG. Sp. 1611

[46] ebd. Sp. 1611

[47] vgl. ebd. Sp. 1611

[48] Arnold Schönberg, zit. nach: Jacob: Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs. Bd. 1. S. 122

[49] Webster: Art. Sonata Form, in: NG. S. 688

[50] Arnold Schönberg, zit. nach: Morgenstern: Komponisten über Musik. München 1959. S. 320

[51] Arnold Schönberg, zit. nach: Jacob: Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs. Bd. 1. S. 279

[52] Arnold Schönberg, zit. nach: ebd. S. 291

[53] vgl. ebd. S. 311f

[54] ebd. S. 306

[55] Arnold Schönberg, 1926, zit. nach: Stephan: Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung. Göttingen 1958. S. 56

[56] Arnold Schönberg, zit. nach: Morgenstern: Komponisten über Musik. S. 317

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Sonatensatzformen in frühen atonalen Kompositionen der Wiener Schule
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Musikwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
92
Katalognummer
V202439
ISBN (eBook)
9783668138568
ISBN (Buch)
9783668138575
Dateigröße
1384 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wiener Schule, Atonalität, Schönberg, Webern, Berg, Sonatensatzform
Arbeit zitieren
Wolfgang Völkl (Autor:in), 2012, Sonatensatzformen in frühen atonalen Kompositionen der Wiener Schule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202439

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