Analyse des kanadischen Schulsystems im Hinblick auf die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und die Nutzbarmachung für das deutsche Schulsystem


Epreuve d'examen, 2009

91 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Anlass und Zielsetzung der Arbeit
1.2 Methodisches Vorgehen

2. Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund - Begriffsbestimmungen
2.1 Integration
2.2 Migrationshintergrund.

3. Kanada
3.1 Landeskundliche Hintergründe: geographische und (migrations-)politische Aspekte
3.2 Das kanadische Schulsystem
3.2.1 Die Geschichte des kanadischen Schulsystems
3.2.2 Das kanadische Schulsystem in der Gegenwart
3.2.2.1 Die Struktur des Schulsystems
3.2.2.2 Verfassungsrechtliche Grundlagen und Steuerung des Schulsystems
3.2.2.3 Bildungspolitische Reform- und Innovationsstrategien
3.2.2.4 Lehrerprofessionalisierung
3.3 Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im kanadischen Schulsystem – Multikulturelle Pädagogik
3.3.1 Entwicklung des Multikulturalismus im Kontext des Bilingualismus
3.3.2 Prinzipien und Ideen des Multikulturalismus und deren schulische Gestaltung
3.3.3 Sprachprogramme
3.3.3.1 Immersion language programs
3.3.3.2 Heritage language programs

4. Deutschland
4.1 Landeskundliche Hintergründe: geographische und (migrations-) politische Aspekte
4.2 Das deutsche Schulsystem
4.2.1 Die Geschichte des deutschen Schulsystems
4.2.2 Das deutsche Schulsystem in der Gegenwart
4.2.2.1 Die Struktur des Schulsystems
4.2.2.2 Verfassungsrechtliche Grundlagen und Steuerung des Schulsystems
4.2.2.3 Bildungspolitische Reform- und Innovationsstrategien
4.2.2.4 Lehrerprofessionalisierungll
4.3 Integration von Kindern und Jugendlichen im deutschen Schulsystem – Interkulturelle Pädagogik
4.3.1 Von Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Erziehung.
4.3.2 Prinzipien und Ideen der Interkulturellen Pädagogik und deren schulische Gestaltung
4.3.3 Sprachprogramme
4.3.3.1 Internationale Vorbereitungsklassen, DaZ-Kurse und DaZ-Förderkurse
4.3.3.2 Durchgängige Sprachförderung als Förmig-Ziel

5. Anregungs- und Innovationspotentiale des kanadischen Schulsystems
im Hinblick auf die Integration von Kindern und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund57
5.1 Multikulturalismus als offizielle und gelebte Staatsideologie: Einbettung der Schule in ein „ethnisches Mosaik“
5.2 Interessengeleitete Gestaltung aktiver Immigrationspolitik: Kumulation von sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital
5.3 Immersion language programs und heritage language programs: Schulische Sprachförderprogramme zur Entwicklung konzeptionell-schriftlicher Kompetenzen
5.4 Integrierter Kindergarten, gebundene Ganztagsschule und Gesamtschulstruktur: Strukturelle Aspekte zur Minderung der Selektion
5.5 Akademisierter Erzieherberuf, einheitliches Lehramtsstudium, Qualifizierung für bilinguale Sprachprogramme und finanzielle Anreize für Weiterbildung: Aspekte der Lehrerprofessionalisierung in Kanada mit einem hohen Veränderungspotenzial
5.6 Outputorientierte Innovationsstrategien in der Bildungspolitik: Chance zur Ausmerzung segregierender Strukturen

6. Anregungs- und Innovationspotentiale des kanadischen Schulsystems im Hinblick auf die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – Abschließende Betrachtung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1: Schematische Darstellung des kanadischen Bildungssystems

2: Schematische Darstellung des kanadischen Bildungssystems

Tabellenverzeichnis

1: Population and dwelling counts, for Canada, provinces and territories, 2006 and 2001 censuses

2: Bundesländer nach Fläche und Bevölkerung

3: Immigration nach Bildungsniveau (ab 15 Jahren), Kanada

4: Ausländische Erwerbstätige nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten, Deutschland 1999

1. Einleitung

1.1 Anlass und Zielsetzung der Arbeit

Die weltweite Veröffentlichung der PISA[1] -Ergebnisse im Dezember 2001 führte in Deutschland aufgrund der schlechten Resultate zu einem „PISA-Schock“. Der Reformbedarf des einst international anerkannten Bildungssystems ist nicht mehr abzustreiten. Mit PISA wurde eine neue brisante Bildungsdebatte in Gang gesetzt, die bis heute andauert. Auf der Suche nach innovativen Strategien hoffen die bildungspolitischen Entscheidungsträger und die breite interessierte Öffentlichkeit, von den Erfahrungen „erfolgreicher“ Staaten lernen zu können und analysieren deren Bildungssysteme, um neue Impulse zu finden. Vor diesem aktuellen Hintergrund ist auch diese Arbeit angelegt, die ein wichtiges Anliegen des bildungspolitischen Diskurses, die Integration von Kindern und Jugendlichen, im Fokus hat. Anhand der PISA-Daten lässt sich feststellen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund weltweit im Allgemeinen schlechtere schulische Leistungen erbringen als die gleichaltrigen Autochthonen. Dies ist auch hierzulande der Fall. 20 Prozent der Schüler mit ausländischem Pass erreichen keinen Bildungsabschluss – das entspricht einer 2,5 mal höheren Rate als bei den einheimischen Jugendlichen – und gerade einmal zehn Prozent der Nichtdeutschen erreichen die Hochschulreife. Die Schule in Deutschland ist nicht auf eine sprachlich und kulturell heterogene Schülerschaft vorbereitet, obwohl Migration seit den 60er Jahren stark präsent ist (vgl. HÖRNER 2007, 134). Bundespräsident Horst Köhler resümiert in seiner Berliner Rede vom 17. Juni 2008: „Deutschland muss endlich gute Bildungschancen für alle bieten. Es ist beschämend, wie oft in unserem Bildungssystem die Herkunft eines Menschen seine Zukunft belastet.“ (BUNDESPRÄSIDENT HORST KÖHLER 2008). Die Bundeskanzlerin Angela Merkel äußert in ihrer Rede vom 16. Oktober 2007 beim internationalen Symposium „Integration durch Bildung“: „[M]an kann sagen, dass Deutschland diese Aufgabenstellung nicht immer nur mutig, sondern manchmal auch etwas verzagt angegangen ist“ und fordert auf, diese Abhängigkeit zu durchbrechen: „Lasst uns die Chance, die wir haben, nutzen und lasst uns nicht die Augen vor den Problemen, die wir auch haben, verschließen.“ (DIE BUNDESKANZLERIN 2007).

Jedoch gibt es einige Länder, die die Abhängigkeit des Schulerfolges von der ethnischen Herkunft auflösen und es stellt sich die Frage: Wie gehen wirksame Integrationsbildungswesen mit der Herausforderung der weltweiten Migration um? Welche Rolle spielen die Familiensprachen im Bildungssystem? Wie zeichnet sich der Umgang mit besonderen Förder- und Entwicklungsbedürfnissen der Schüler mit Migrationshintergrund aus? Werden sie ausgesondert, um das Lerntempo der anderen nicht zu beeinträchtigen? Und die spannendste Frage lautet: Welche Merkmale dieser Länder können auf das deutsche Bildungssystem übertragen werden? In dieser Arbeit sollen Antworten auf die Fragen anhand einer Analyse des kanadischen und deutschen Schulsystems gegeben werden.

Kanada scheint als Referenzstaat aus zwei Gründen am geeignetsten zu sein: Erstens gehört Kanada nach dem obengenannten Bericht der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) neben den ebenfalls klassischen Einwanderungsländern Australien und Neuseeland sowie Macau (China) zu den Ländern, in denen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund messbar mit denen der Autochthonen sind (vgl. ORGANISATION FOR ECONOMIC CO-OPERATION AND DEVELOPMENT 2003, 1ff.). Zweitens handelt es sich bei Kanada ebenfalls um eine westliche Industrienation mit ähnlichem soziokulturellen Hintergrund und drittens verfügt es – genauso wie Deutschland – über eine föderative Staatsordnung. Aufgrund der vergleichbaren Kriterien lässt sich bei Kanada am besten das Prinzip des „Most-Similar-Konzepts“ von Przeworski und Teune (1970) anwenden (vgl. AVENARIUS 2007c, 16). Der Vergleich ist vor allem darauf ausgerichtet, Anregungs- und Innovationspotentiale des Schulwesens in Kanada zu erkennen, die im deutschen Schulsystem nicht oder zu wenig berücksichtigt worden sind, und beansprucht nicht, eine umfassende Einsicht in die Schulpolitik und die Schulpraxis Kanadas und Deutschlands zu geben. Er konzentriert sich vor allem auf Motive der Elementar- und Sekundarschulen.

1.2 Methodisches Vorgehen

In dieser Arbeit sollen – wie schon im vorigen Abschnitt dargestellt – Innovationspotenziale des kanadischen Schulsystems identifiziert werden, die im deutschen Schulsystem bisher nicht oder nicht ausreichend beachtet wurden. Um diese zu entdecken, müssen jedoch wesentliche Informationen über beide Systeme erarbeitet werden. Dies erfolgt in einer Analyse des jeweiligen Schulsystems. Dabei wird folgendermaßen vorgegangen:

Da der Schwerpunkt auf die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gelegt wird, ist es unverzichtbar, zu Beginn die Unschärfe der beiden Begriffe „Integration“ und „Migrationshintergrund“ aufzulösen. Im zweiten Kapitel wird deshalb der Terminus „Integration“ mit Hilfe von Wiater (2004) eingegrenzt und eine PISA- und Statistisches-Bundesamt-Definition zu „Migrationshintergrund“ gegeben.

Anschließend werden in Kapitel 3 und 4 jeweils die beiden Schulsysteme nach sorgfältig ausgesuchten Kriterien untersucht. Die Vorgehensweise ist bei jedem der beiden Abschnitte gleich und verbindet historisch-deskriptive mit empirischen Befunden. Jede Analyse orientiert sich an Mehr-Ebenen-Modellen und untersucht System-, Schul- und Unterrichtsmerkmale. Folgende Aspekte werden beleuchtet:

Da die Entfaltung der Schulsysteme stets im gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist, werden im Kapitel „Landeskundliche Hintergründe“ (Kapitel 3.1 bzw. 4.1) die Themen Geographie (Lage des Landes, Einwohnerzahl, Bevölkerungsdichte), Politik (Staatssystem, Staatsoberhaupt) und Migrationspolitik (Immigrationsbedingungen, Anteil der Migrationsbevölkerung, Herkunftsländer der Migrantinnen und Migranten) behandelt.

Kapitel 3.2 bzw. 4.2 gibt Auskunft über das jeweilige Schulsystem, wobei dieses aus zwei Perspektiven betrachtet wird: aus der historischen, weil die momentan herrschende Struktur eines Bildungssystems nicht nur von augenblicklichen Gegebenheiten geprägt wird, sondern in hohem Maße durch historische Ereignisse mitbestimmt, und aus der gegenwärtigen. Der jeweils letzte Teilabschnitt beschäftigt sich mit vier verschiedenen Aspekten: Struktur des Schulsystems (vorschulische Erziehung, Primar- und Sekundarausbildung, Übergänge zur nächst höheren Jahrgangsstufe) in Kap. 3.2.2.1 bzw. 4.2.2.1, verfassungsrechtliche Grundlagen und Steuerung des Schulsystems (rechtliche Zuständigkeit, Zusammenarbeit von Bund und Provinzen bzw. Ländern) in Kapitel 3.2.2.3 bzw. 4.2.2.3, bildungspolitische Reform- und Innovationsstrategien (Reformen und Innovationen der 1980er und 1990er Jahre, aktuelle Bestrebungen) in Kapitel 3.2.2.3 bzw. 4.2.2.3 und Lehrerprofessionalisierung (Verständnis und Ansehen des Lehrerberufes, inhaltliche und strukturelle Merkmale der Ausbildung von (Vorschul-) Erziehern, Fortbildung) in Kapitel 3.2.2.4 bzw. 4.2.2.4.

Kapitel 3.3 bzw. 4.3 setzt sich mit dem kulturellen und pädagogischen Konzept des jeweiligen Landes im Umgang mit ethnischer und kulturell sprachlicher Heterogenität auseinander. Zuerst wird in Kapitel 3.3.1 bzw. 4.3.1 die Entwicklung des Konzepts geschichtlich betrachtet, woraufhin die Prinzipien, Ideen und deren Verwirklichung in Kapitel 3.3.2 bzw. 4.3.2 deskriptiv betrachtet werden. Da der Beherrschung der (Landes-) Sprache eine besondere Rolle im Integrationsprozess zukommt, wird schließlich in Kapitel 3.3.3 und 4.3.2 speziell auf die schulischen Sprachprogramme im jeweiligen Land eingegangen.

Schließlich werden in Kapitel 5 argumentativ die Aspekte des kanadischen Schulsystems identifiziert, die im deutschen zu wenig oder gar nicht beachtet worden sind, und zur Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Wesentliches beitragen. Dabei treten vor allem Differenzen beider Schulsysteme hervor. Abschließend werden in Kapitel 6 die Ergebnisse der Diskussion zusammengefasst.

2. Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund - Begriffsbestimmungen

2.1 Integration

Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist zu einem wichtigen Anliegen der Pädagogik neuerer Zeit geworden. Diese ist als Reaktion auf das gesellschaftliche Ziel, ein menschenwürdiges Miteinanderleben von Personen verschiedener ethnischer Herkunft zu gestatten und die in der Pädagogik angestrebte „Entfaltung der Individualität und Sozialität des Einzelnen“ (WIATER 2004, 38) zu realisieren, zu sehen. Der Begriff „Integration“ wird aus dem Lateinischen vom Verb integrare („wiederherstellen“, „ergänzen“), dem Adjektiv integralis („ein Ganzes ausmachend“) und dem Nomen integratio („Wiederherstellung eines Ganzen“) abgeleitet – alle vom Adjektiv integer („unberührt“, „ganz“) stammend – und meint ursprünglich im 19./20. Jahrhundert die Wiederherstellung und Erneuerung eines einheitlichen Ganzen, das aufgrund verschiedener Faktoren beschädigt wurde. „Integration“ bedeutet also Durchführung von verschiedenen Handlungen mit dem Ziel, die nicht (mehr) bestehende Einheit zu (re-) konstruieren. In diesem Sinne wird „Integration“ hier als Prozess der (Wieder-) Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in das soziale System, aus dem sie ausgesondert wurden, verstanden. Der Begriff hat zwei Dimensionen und bezeichnet auf der einen Seite die eigene Initiative und Aktionen des Integrierenden (aktive Dimension) und auf der anderen Seite die Schaffung von gesellschaftlichen (hier speziell schulischen) Unterstützungssystemen, die die Integration gestatten und erleichtern (passive Dimension) (vgl. ebd.). In dieser Arbeit werden die gesellschaftlichen, insbesondere die schulischen Organisationsformen in den Blick genommen, die die Integration von Kindern und Jugendlichen in das kanadische und deutsche Schulsystem fördern – es wird also die passive Dimension betrachtet.

Aus der historischen Perspektive lassen sich fünf unterschiedliche Integrations-Modelle herausarbeiten:

1. Die monistische Integration der 1960er Jahre meint die Assimilation der ethnischen Minderheiten in die Majoritätsgesellschaft;
2. Die pluralistische Integration in der Ausländerpädagogik der 1970er Jahre beabsichtigt den Aufbau von Parallelgesellschaften durch Stadtteilghettoisierung und Isolation;
3. Die interaktionistische Integration, ein Ansatz der multikulturellen Gesellschaft der 1980er Jahre, möchte jede Ethnie subkulturell absondern, binnenintegrieren und in geordnete, spannungsarme Beziehungen setzen;
4. Die partnerschaftliche Integration, ein Modell der Interkulturellen Pädagogik der 1990er Jahre, bezweckt interkulturelles gegenseitiges Voneinanderlernen zur Bereicherung beider Parteien;
5. Das jüngste, noch nicht etablierte Modell der Integration sieht diese als Prozess gegenseitiger Anpassung und Ausbildung einer neuen Gemeinschaft basierend auf neu erarbeiteten bzw. im Alltag angewendeten Praktiken.

Das letztgenannte Modell impliziert einerseits, dass die Mehrheitsgesellschaft selbst kein homogenes Gebilde ist, und anderseits sich nicht nur die ethnischen Minderheiten verändern (müssen), um ein harmonisches Miteinander zu ermöglichen. Weiterhin „verknüpft [dieses Modell] das gesellschaftspolitische Ziel einer sozialen Integration mit dem pädagogischen eines Lernens aus gemeinsam gemachten Erfahrungen.“ (ebd., 38f.). Dieses Modell soll als Folie für diese Arbeit dienen.

Anzumerken ist noch, dass neue, qualitative Studien zeigen, dass der Begriff „Integration“ für einige in Deutschland lebende Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund negativ konnotiert ist und abgelehnt wird, weil diese „als eine einseitige, von der Mehrheitsgesellschaft an Eingewanderte formulierte (An-) Forderung “ und „(ausgrenzendes) Trennungsprodukt“ [Hervorhebung übernommen] (SCHRAMKOWSKI 2007, 152f.) gesehen wird. Ferner werden die „Instrumentalisierung von Integration für die Verschiebung von Verantwortung“, „die Übertonung der Relevanz der deutschen Sprache für Integration“ und die Setzung des „Fokus öffentlicher und alltäglicher Diskurse auf Defizite und Differenzen“ (ebd., 152) als Gründe für die Ablehnung des Integrationsbegriffes angegeben.

In der vorliegenden Arbeit soll Integration jedoch als Anzahl von Maßnahmen und Weg zur Entwicklung eines neuen Kollektivs betrachtet werden, basierend auf einer Symbiose ethnischer Vielfalt und unterschiedlicher Praktiken. Im Mittelpunkt stehen die Schritte, die im Schulsystem gemacht werden, um überhaupt diese Form von Integration gestatten zu können.

2.2 Migrationshintergrund

Die Begriff „Kinder mit Migrationshintergrund“ bezeichnet die Kinder von Arbeitsmigranten, Flüchtlingen (Asylbewerbern u.a.) und Aussiedlern. Ihr kollektives Charakteristikum ist die Migration und die Schulsituation, die sich trotz unterschiedlicher rechtlicher und sozialer Situation ähnelt (vgl. KECK 2004, 309). Der Begriff „Migrationshintergrund“ wurde in den 1990er Jahren von der Essener Pädagogikprofessorin Ursula Boos-Nünning geprägt mit der Absicht, ein Attribut zu finden, das alle Personen impliziert, die die Migrationsfolgen tragen und nicht nur diejenigen einschließt, die nicht im Besitz des deutschen Passes sind, sondern auch die eingebürgerten Ausländer.[2]

Diese Bezeichnung übernahm das Statistische Bundesamt in der letzten Änderung des Mikrozensusgesetzes 2003, die die synthetische Ermittlung von Daten zum Migrationshintergrund der Bevölkerung für den Zeitraum von 2005 bis 2012 vorsieht. Als Personen mit Migrationshintergrund werden „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ [Hervorhebung übernommen] definiert. Diese Definition besagt, dass auch hiergeborene Deutsche einen Migrationshintergrund haben, falls ihre Eltern Spätaussiedler sind, die deutsche Staatsbürgerschaft in Folge der ius soli -Regelung erhalten haben oder Deutsche mit einseitigem Migrationshintergrund sind. Diese Definition basiert insgesamt auf persönlichen Merkmalen zur Einwanderung, Einbürgerung und Staatsangehörigkeit und dem Migrationsstatus der Eltern (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 2009, 6).

PISA wiederum unterscheidet bei diesem Begriff zwischen „ Jugendliche[n] mit einem im Ausland geborenen Elternteil “, „ erster Generation “ [Hervorhebung übernommen] (RAMM 2004, 256), zu welcher diejenigen gehören, die im Testland geboren sind, deren Eltern aber im Ausland geboren sind, und „ zugewanderten Familien “ [Hervorhebung übernommen] (ebd.), bei denen sowohl beide Elternteile als auch die Kinder im Ausland geboren sind.

Diese Definitionen zeigen, dass es immer noch keinen Konsens gibt, wenn es um den Begriff des Migrationshintergrundes geht. Während PISA den Begriff vom Geburtsland der Getesteten und deren Eltern ableitet, steht für das Statistische Bundesamt der Besitz des deutschen Passes der Kinder und Jugendlichen und der Eltern im Mittelpunkt. Ein nicht-eingebürgertes Kind, dessen Eltern in Deutschland geboren sind, aber ebenfalls noch nicht eingebürgert sind, ist nach PISA ein Jugendlicher ohne Migrationshintergrund, nach dem Statistischen Bundesamt jedoch mit Migrationshintergrund. Der Gebrauch dieses Begriffes ist noch nicht vereinheitlicht, weshalb dieser hier immer im Kontext betrachtet werden muss. Grundsätzlich gilt, dass der Begriff auf jeden Fall verwendet werden darf, wenn sowohl die Person selbst als auch mindestens ein Elternteil zugewandert ist.

3. Kanada

3.1 Landeskundliche Hintergründe: geographische und (migrations-) politische Aspekte

Der Bundestaat Kanada liegt in Nordamerika und grenzt östlich am Atlantik, westlich am Pazifik, nördlich am Arktischen Ozean und südlich an den Vereinigten Staaten (USA) an (vgl. STEPHAN 1984, 3). Mit seiner Gesamtfläche von 9 017 698, 92 km² ist es nach Russland das zweitgrößte Land der Erde, etwa viermal so groß wie Deutschland. Die Mehrheit der 31,6 Millionen Einwohner (Stand 01.07.2006) wohnt aus Klimagründen im südlichen Teil des Landes innerhalb eines Streifens von circa 200 km entlang der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Die Bevölkerungsdichte liegt bei 3,5 Einwohnern pro Quadratkilometer, eine der geringsten der Welt. Die höchste Bevölkerungsdichte haben die südöstlichen Provinzen Ontario (12 160 282) und Québec (7 546 131), sowie die westliche Provinz British Columbia (4 113 487) (vgl. STATISTICS CANADA 2008a; Tabelle 1).

Kanada ist eine bundesstaatliche konstitutionelle Monarchie mit zehn Provinzen (Nova Scotia, New Brunswick, Québec, Ontario, Manitoba, British Columbia, Prince Edward Island, Saskatchewan, Alberta, Newfoundland) und drei nördliche Territorien (Yukon, Northwest Territories und Nunavut). Die Hauptstadt heißt Ottawa. Ähnlich wie bei dem britischen parlamentarischen System besteht die legislative Gewalt aus dem Parlament und dem Senat. Staatsoberhaupt ist formell Elisabeth II, die durch einen Generalgouverneur vertreten ist. Der Generalgouverneur wird auf Vorschlag des kanadischen Premierministers von der britischen Krone auf fünf Jahre ernannt. Die zehn Provinzen haben ihrerseits ihre eigenen Parlamente, die kaum mit der Bundesgesetzgebung verbunden sind. Kanada ist seit 1931 außenpolitisch unabhängig und seit 1982 völlig von der Mitbestimmung des britischen Monarchen frei (vgl. SCHNEIDER 2005, 27f.).

In Kanada leben mehr als 200 ethnisch-kulturelle Gruppen. Die häufigsten sind Engländer, Franzosen, Schotten, Iren, Deutsche, Italiener, Chinesen, Nord-Amerikaner, Inder und Ukrainer (vgl. STATISTICS CANADA 2008b). Die Einwanderung wird hier stark gesteuert und den Landesbedürfnissen angepasst. Kanada hat drei Formen der Einwanderung: Als qualifizierte Fachkraft beziehungsweise als Geschäftsmann[3] , als Familiengehöriger eines Zuwanderers oder als Flüchtling. Die Immigrationspolitik folgt seit 1967 einem Punktesystem, das Punkte für Bildungsstandard und Berufserfahrung, für die Sprachkenntnisse der beiden Amtssprachen Englisch und Französisch, für das Alter und für einen Arbeitsvertrag mit einem kanadischen Arbeitgeber vergibt. Die meisten Punkte kann man durch education (20 von 100) und Sprachkenntnisse (21 von 100) erhalten. Zusätzliche Unterstützung mit dem skilled worker program erlangen Einwanderer, die sich für beliebte Berufe in Kanada interessieren. Erreicht man die Mindestpunktanzahl, erhält man zunächst eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, nach drei Jahren ist eine Einbürgerung möglich. Kanada erlaubt den Besitz mehrerer Nationalitäten (vgl. HÖRNER 2007, 126f.).

Diese Einwanderungspolitik führt zu einer hohen Migrationsrate: In der Zeitperiode von 1991-2000 weist Kanada zwei Millionen neue Einwanderer auf, 2001 sind 18,4 Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren. Das entspricht der höchsten Rate der letzten 70 Jahre. In Kanada macht die Einwanderung circa 53% des Bevölkerungszuwachses aus. Toronto ist mit seinen 44 Prozent im Ausland geborenen Einwohnern weltweit eine der ethnisch heterogensten Städte. Weiterhin werden Montréal und Vancouver von Neuzuwanderern bevorzugt (vgl. ebd., 128; POLAT 2008, 186).

Kanada hat ein ausgeprägtes Unterstützungssystem, das nach einem dreistufigen nationalen Unterstützungsprogramm erfolgt: settlement, adaption, integration.

<<Der Bereich „settlement“ bezieht sich auf die unmittelbaren Lebensbedürfnisse der Neuankömmlinge. Im nächsten Schritt „adaption“, soll den Immigranten geholfen werden, Nutzen aus der settlement - Phase zu ziehen. Das übergeordnete Ziel ist die „integration“ der Immigranten in die kanadische Gesellschaft.>> [Hervorhebung übernommen] (HÖRNER 2007, 127).

Die Integration wird vor allem durch das Immigrant Settlement and Adaptation Program (ISAP) gefördert, das die Unterstützung durch Dienstleistungen privater Serviceanbieter „im Bereich Beratung, Übersetzung, Einführung in die Gesellschaft, Einführung in die Ressourcen der Gemeinschaft, sowie der Arbeitssuche“ (HÖRNER 2007, 127) übernimmt. In diesem System müssen die Neuankömmlinge an einem Sprachkurs in Englisch, dem Language Instruction for Newcomers to Canada teilnehmen, wonach sie die Möglichkeit zur Selbstständigkeit, Erwerbstätigkeit oder einer staatlich finanziell geförderten Weiterbildung haben (vgl. ebd.).

3.2 Das kanadische Schulsystem

3.2.1 Die Geschichte des kanadischen Schulsystems

Die Wurzeln der Schulentwicklung in Kanada liegen in der Kolonialzeit vor 1867. Erste Schulen wurden zuerst von Franzosen gegründet, die sich im Osten auf beide Seiten des Sankt-Lorenz-Stromes niederließen und diese Gebiete einschließlich des im Golf vorgelagerten Newfoundland (1610 errichtet) als Neufrankreich einnahmen. Das eingenommene Land wurde bis nach New Orleans (1718 gegründet) am Golf von Mexico erweitert. Der andere Teil des jetzigen Kanadas wurde von Großbritannien besetzt. Erste Schulgründungen erfolgten auf Initiative des 1625 eingetroffenen katholischen Jesuitenordens, später schufen auch andere Orden wie die Franziskaner Einrichtungen, um ihre Kleriker auszubilden. Im englischen Herrschaftsgebiet waren es die Britische Bibelgesellschaft (British Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts), Anglikaner, Methodisten und Presbyterianer, die nach englischem Muster Volks- und Höhere Schulen gründeten (vgl. STEPHAN 1984, 14).

Nachdem die französischen Truppen 1760 vor den englischen kapitulierten, übergab Frankreich 1763 alle nordamerikanischen Festlandbesitzungen an Großbritannien. Unter der britischen Herrschaft wurde die Québec-Akte von 1774, die erste „Verfassung“ Kanadas, verabschiedet, die der frankophonen Bevölkerung Religions- und Sprachwahlfreiheit in der Öffentlichkeit zugestand (vgl. GEIßLER 2007, 29).

Durch das Verfassungsgesetz von 1791 wurde die Kolonie in zwei Provinzen aufgeteilt, „in das fast ausschließlich englisch-protestantische Oberkanada und das weitüberwiegend französisch-katholische Unterkanada“ (ebd. 30), die ein Parlament aus zwei Häusern mit stark eingeschränkten Rechten und jeweils einen Gouverneur erhielten (vgl. ebd.). Diese Zweiteilung wurde mit der Verfassung von 1840 (Canada Union Act) aufgehoben. Mit Englisch als einziger offizieller Landesprache wurde eine Assimilierung der französischen Kanadier in die britische Kultur verfolgt. Nebenbei sollten auch Schulen, die dem katholisch-französischen Muster folgten, an das englische Vorbild angeglichen werden. Auch die restlichen Kolonien erhielten allmählich eigene Regierungen, so dass eine parlamentarische Selbstverwaltung seitens der Kolonien eingeleitet wurde. Egerton Ryerson, ein kanadischer Methodist, forderte 1841, dass das Bildungswesen, nicht nur britisch, sondern vor allem kanadisch sein sollte und legte mit dem Volksschulgesetz von 1846 den Grundstein für weitere Schulentwicklungen. 1865 wurde mit dem Gesetz für Sekundarschulen die Universalität der Schulen durchgesetzt, die Schulen standen ab jetzt allen Kindern und Jugendlichen offen. In Québec setzte Jean-Baptiste Meilleur ähnliche Reformen durch, hier entzogen sich die Schulen nicht den religiösen Einflüssen (vgl. STEPHAN 1984, 14f.).

Mit der Britisch-Nord-Amerika-Akte von 1867 fielen die vier Provinzen Québec, Ontario, Nova Scotia und New Brunswick zu einer kanadischen Föderation (Dominion of Canada) zusammen, die dann mit dem Landbesitz Hudson’s Bay Compagnie 1869, Monitoba 1870, British Columbia 1871, Prince Edward Island 1873, 1905 Alberta und Saskatchewan und Newfoundland 1949 erweitert wurde. Sie erhielten weitgehende Autonomie, auch im Schulwesen. Die Provinzen richteten Bildungsministerien ein (Ontario und Québec verfügen bereits über eines), die für alle öffentlichen Schulen verantwortlich waren und den Unterricht an öffentlichen Schulen für beitragsfrei erklärten. Für viele Maßnahmen im Schulbereich diente die Provinz Ontario als Vorbild, die in ihrer Schulgesetzgebung Impulse aus Europa und den USA umsetzte. Sie ersetzte die grammar school, die Sekundarstufe der Kolonialzeit, durch offenere Unterrichtsformen und zeitgemäße Inhalte. Die Aufmerksamkeit wurde vor allem auf den Unterricht für Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf gelenkt. Die Provinz Ontario war auch die, die als erste 1906 einen Bildungsrat (Advisory Council of Education) aufstellte. Charakteristisch für diese Zeit war die Förderung des Nationalgefühls und die offenkundige Assimilationspolitik, die zur Folge hatte, dass für eine Zeit lang einige Provinzen die Monolingualität in die Schule einführten, so zum Beispiel in Manitoba (1890), Saskatchewan und Alberta (1905): Englisch war die einzige Unterrichtssprache. 1916 wurde in Volksschulen die Anwendung anderer Sprachen untersagt. Nur in Québec wurde die Bilingualität geduldet, sodass neben öffentlichen, kostenlosen, besonders von anglophonen Kindern besuchten Schulen auch gebührenpflichtige, katholische Bekenntnisschulen bestanden (vgl. GEIßLER 2007, 32f.; ebd., 16).

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Bemühungen um eine zentrale Bildungsinstanz, diese wurden aber mit Beginn der Weltwirtschaftskrise zunichte gemacht. Vorhandene Strukturen des Bildungssystems verfestigten sich im Laufe des Jahrhunderts (vgl. GEIßLER 2007, 33).

Die Primarstufe war Anfang des Jahrhunderts überall noch auf sechs Jahre beschränkt, Mitte des Jahrhunderts wurde sie fast überall auf sieben oder acht Jahre ausgedehnt. Die dreijährige Sekundarstufe wurde in den 1960er Jahren vier, später auf fünf Jahre erweitert. Die high school bildete die Basis der Sekundarstufe. „In ihr […] [wurden] alle Fächer von der Berufsbildung bis zur Vorbereitung auf das Studium (Preparatory Classes for University Entrance) angeboten.“ (ebd.).

In der Ausbildung der Lehrkräfte für den Primarbereich gab es bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts keine einheitliche Linie, ab diesem Zeitpunkt trat eine Akademisierung des Berufs ein bis hin zu einer gewissen Vereinheitlichung für alle Schulformen Ende des Jahrhunderts (vgl. ebd.).

Der Sputnik-Schock Ende der 1950er Jahre führte zu Änderung des Lehrplanstoffes, zur Stärkung der naturwissenschaftlichen Aspekte in allen Schulformen und einer stark ansteigenden Anzahl der Bildungsanstalten im tertiären Bereich (vgl. STEPHAN 1984, 21).

Auf Anraten einer weiteren Kommission, der Royal Commission on Bilingualism und Biculturalism, erfolgte 1963 eine höhere Betonung des französischen Sprachunterrichts in der Elementar- und Sekundarsstufe, um die Beziehung zwischen den französischsprechenden und englischsprechenden Einwohnern zu verbessern, sowie die Einführung der multikulturellen Erziehung[4] , um auch die anderen ethnischen Minderheiten zu berücksichtigen (vgl. GEIßLER 2007, 34; ebd.).

3.2.2 Das kanadisches Schulsystem in der Gegenwart

Im vorangegangenen Kapitel über das geschichtliche Werden des kanadischen Bildungssystems wurde deutlich, dass sich dieses im Kontext von Migration entfaltet hat. Nun werden im Folgenden wesentliche, allgemeine Informationen des gegenwärtigen Schulwesens gegeben, wobei auf die Struktur (Kap. 3.2.21), die verfassungsrechtlichen Grundlagen und Steuerung des Schulsystems (Kap. 3.2.2.2), die bildungspolitischen Reform- und Innovationsstrategien (Kap. 3.2.2.3) und die Lehrerprofessionalisierung (Kap. 3.2.24) eingegangen wird.[5]

3.2.2.1 Die Struktur des Schulsystems

Kanadas Bildungssystem verfügt aufgrund der föderalistischen Struktur über unterschiedlich organisierte Schulsysteme, jedoch sind im kanadischen Schulsystem zwei Grundzüge erkennbar: der K-12-Strang vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse und die postsekundäre Bildung (postsecondary education) (vgl. AVENARIUS 2007a, 57).

In allen Provinzen beziehungsweise selbstständigen Territorien besteht Unterrichtspflicht für Kinder vom sechsten bis zum 16. (in New Brunswick bis zum 18.) Lebensjahr.[6] Allen Fünfjährigen stehen kostenlose Plätze in Vorschulklassen in sogenannten „Kindergärten“ zur Verfügung. Obwohl die Teilnahme an der vorschulischen Erziehung (bis auf Prince Edwards Island) nicht obligatorisch ist, nehmen 91% (1992/1993) aller Fünfjährigen dieses Angebot wahr. Auf Prince Edwards Island ist das obligatorische Vorschuljahr Teil der Grundschule, im restlichen Land werden die Kinder in getrennten Kindergärten unterrichtet, die allerdings im engen Kontakt zur Schule stehen. Diese unterstehen einem ganztätig konzipierten Bildungsprogramm, der Unterricht in diesem Programm folgt einem staatlich vorgegebenen Curriculum. In Québec, Ontario und Manitoba stehen zusätzlich ebenfalls gebührenfreie „Kindergartenplätze“ für Vierjährige zur Verfügung, in Saskatchewan und Alberta sogar für Dreijährige. Diese Plätze sind vor allem für förderbedürftige Kinder (special needs students) gedacht, die nach dem Prinzip des mainstreaming in die Regelschulen integriert werden (vgl. ebd., 60; WEIß 2007a, 37).

In Kanada werden alle Kinder mit sechs Jahren eingeschult. Die Primarstufe schließt die Schuljahre eins bis sechs ein, in Manitoba und Ontario auch die Jahrgangsstufen sieben und acht, die allerdings schon mit der high school verknüpft sind. In Saskatchewan werden schon die Schüler der sechsten Klassenstufe an der high school unterrichtet (vgl. WEIß 2007a, 38).

Die Sekundarstufe umfasst – je nach Dauer der Primarstufe – vier bis sieben Klassenstufen und endet mit der zwölften Jahrgangstufe, in Québec mit der elften. In Ontario gibt es noch die Möglichkeit ein 13. Schuljahr zu besuchen, das allerdings nur bis 1996 verpflichtend war und heutzutage nur von Jugendlichen wahrgenommen wird, um ihre Noten in den Ontario Academic Courses (OACs) zu verbessern. Die Ontario Academic Courses sind in Ontario ein wichtiges Auswahlkriterium für die Aufnahme an einer Universität, diese können aber auch im Rahmen der vierjährigen Sekundarschule absolviert werden. Die Sekundarschulbildung gestaltet sich in ungefähr der Hälfte der Provinzen als institutionelle Einheit, in den anderen Provinzen teilt sie sich in junior high school für die siebte bis neunte Klasse und senior high school für die zehnte bis zwölfte Klasse (vgl. ebd., 38f.).

Unter postsecundary education werden „Angebote der höheren beruflichen Bildung, der tertiären Bildung und vielfach auch der Weiterbildung zusammengefasst.“ (AVENARIUS 2007a, 58). Nach den zwölf Klassen (in Québec 13) dürfen Schüler in Abhängigkeit des erreichten Abschlusses ein College oder eine Universität besuchen, wobei nur die Universität den Erwerb eines akademischen Grades ermöglicht. Sowohl die College-Ausbildung als auch das Studium an der Universität (außer an den öffentlichen Collèges d’Enseignement Supérieur in Québec) sind kostenpflichtig (vgl. ebd.).

Das Schulsystem Kanadas hat eine Gesamtschulstruktur (comprehensive education), es erfolgt keine Differenzierung in verschiedene Schulformen. „Eine interne Differenzierung in unterschiedliche Bildungsgänge findet in den meisten Provinzen erst ab Klassenstufe zehn statt, indem Schüler auf hochschulvorbereitende oder berufsbildende Bildungsgänge verteilt werden.“ (ebd.). Weitere Ausdifferenzierungen des Schulsystems erfolgen vor allem in großen Städten nach öffentlich versus privat, anglophon versus frankophon und säkular versus konfessionell. Diese Mannigfaltigkeit wird durch verschiedene Programme wie die immersion language programs und heritage language programs erweitert, die meistens auch das Schulprofil mitbestimmen.[7] Eine spezielle Schulart stellen die für die indigene Bevölkerung eingerichtete, von der Bundesregierung einst verwaltete federal schools in den Reservaten dar. Diese Schulen werden mittlerweile von den einzelnen indigenen Bevölkerungsgruppen selbstverwaltet (band-operated schools) (ebd.).

In der Regel bieten die Schulen seit über 20 Jahren Ganztagsunterricht an von 8.30 bis 15.30 Uhr mit einer Rhythmisierung durch Arbeitsblöcke, Pausen und Bewegungsphasen. „Der Stundenplan wird gemeinsam im Team für die gesamte Woche im Minutenrhythmus geplant und lässt viel Raum für fächerübergreifendes Arbeiten und Projekte.“ (MILHOFFER 2003, 3). Das Lehrpersonal arbeitet von 8.00 bis 16.00 bzw. 17.00 Uhr, zuzüglich der anstehenden Projekte wie Konferenzen oder Elterngespräche. Das Modell der Ganztagsschule besteht bis zum Abschluss der Junior High School (vgl. ebd.).

3.2.2.2 Verfassungsrechtliche Grundlagen und Steuerung des

Schulsystems

Für das kanadische Bildungswesen sind nach der Verfassung (British North America Act (BNA) von 1867 und Constitution Act (CA) von 1982) ausschließlich die Provinzen zuständig. Ausnahmen bilden die protestantischen oder katholischen Konfessionsschulen. Diese haben das Recht zur Selbstverwaltung, was in der Verfassung und in der Charter of Rights and Freedoms festgelegt ist. Außerdem stehen nach dem Yukon Act und Northwest Territories Act das Bildungswesen der Nordwest-Territorien und von Yukon unter der direkten Verantwortung der kanadischen Bundesregierung. Die Schulen für die indigenen Bevölkerungsgruppen stehen unter der Aufsicht des Federal Department of Indian Affairs and Northern Development. „Die Bundesregierung hat einen gewissen Einfluss auf das Schulwesen auch durch den Transfer von Mitteln für besondere Zwecke und durch ein nationales Testprogramm.“ (WEIß 2007b, 112). Es gibt zwar überregionale Gremien wie der Rat der Erziehungsminister oder die Kanadische Erziehungsgesellschaft (Canadian Education Association), die auf eine Vereinheitlichung des Bildungswesens anzielen, das wiederrum wird von den Provinzen stark bekämpft (vgl. ebd.; AVENARIUS 2007b, 69ff.).

Auf regionaler Ebene übernimmt in jeder Provinz oder jedem Territorium ein vom Parlament gewählten und vom Premier ernannten Minister mit seinem Ministerium (Ministry oder Department for Education) die Aufsicht über das Bildungswesen, wobei sie einem zentralistischen Steuerungsmodell folgen. Diese Instanzen übernehmen die Bildungsverwaltungs-, Finanzverwaltungs- und Schulunterstützungsaufgaben. Sie geben auch die Standards (educational requirements) vor sowie die Arbeitsbedingungen des Lehrpersonals. Weiterhin sind sie für die Entwicklung der engdefinierten Curricula (mandated curriculum), Leistungsstandards und Bewertungsmechanismen für Schülerinnen und Schüler zuständig. Zusätzlich übernehmen sie die Sammlung, Verarbeitung und Verbreitung von Daten für bestimmte Planungsprozesse in der Bildungspolitik. „Teilweise werden die lokalen Schulbehörden in diesen Prozess einbezogen, im Allgemeinen durch von diesen ernannte Kommissionen, die sich aus verschiedenen stakeholders in education (mit Bildungsfragen befassten Interessengruppen) zusammensetzen.“ (WEIß 2007b, 112f.)

[...]


[1] Abgekürzt für Programme for International Student Assessment

[2] Der Begriff wird seit Neuestem durch „Zuwanderungsgeschichte“ ersetzt. Der letztere hat aijedoch kaum Eingang in die wissenschaftliche Literatur gefunden, so dass hier auf den aiverbreiteten Terminus „Migrationshintergrund“ zurückgegriffen wird.

[3] Das Immigrationsgesetz von 1993 erleichtert die Einreise der Fachkräfte (skilled workers) iiiiund Geschäftsleute (business-class immigrants).

[4] Die multikulturelle Erziehung wird in Kapitel 3.3 detailliert dargestellt.

[5] Eine schematische Darstellung findet sich im Anhang, S. 92.

[6] Die Schulpflicht kann aber auch durch Hausunterricht (home schooling) verwirklicht werden, aiwobei die einzelnen Provinzen verschiedene Regularitäten haben (vgl. AVENARIUS ai2007, ai58).

[7] Auf diese Sprachprogramme wird im Kapitel 3.3.3 näher eingegangen.

Fin de l'extrait de 91 pages

Résumé des informations

Titre
Analyse des kanadischen Schulsystems im Hinblick auf die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und die Nutzbarmachung für das deutsche Schulsystem
Université
University of Cologne  (Institut für Allgemeine Didaktik und Schulforschung)
Note
1,0
Auteur
Année
2009
Pages
91
N° de catalogue
V202518
ISBN (ebook)
9783656321354
ISBN (Livre)
9783656322351
Taille d'un fichier
1020 KB
Langue
allemand
Mots clés
Kanada, kanadisches Schulsystem, deutsches Schulsystem, Migrationshintergrund
Citation du texte
Lidia Crimu (Auteur), 2009, Analyse des kanadischen Schulsystems im Hinblick auf die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und die Nutzbarmachung für das deutsche Schulsystem, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202518

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