Die antike Mnemotechnik unter Berücksichtigung der Pythagoreer


Hausarbeit, 2009

17 Seiten

Agnes Thiel (Autor:in)


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die antike Mnemotechnik
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Der geschichtliche Hintergrund
2.3 Die drei lateinischen Quellen zur klassischen Gedächtniskunst
2.4 Die antike Mnemotechnik vor Aristoteles
2.5 Die Mnemotechnik des Aristoteles

3. Die Mnemotechnik der Pythagoreer
3.1 Das Bild des Pythagoras in den Quellen
3.2 Die Rolle des Gedächtnisses bei den Pythagoreern

Schlussbemerkungen

Literatur

Die Mnemotechnik in der Antike unter Berücksichtigung der Pythagoreer

1. Einleitung

Ganze Bücher haben den Untertitel „Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare[1] , so als hätte erst Aristoteles in seinem Lykeion mit Gedächtnisübungen systematisch angefangen. Dabei haben schon vor Aristoteles die Pythagoreer oder die Sophisten wie Simonides oder Hippias Mnemotechniken verwendet, wenn auch nicht in systematischer Form und mit dem dahinter stehenden systematischen Anspruch und dem dafür im 5. und 4. Jh. geschaffenen Instrumentarium. Heute sind Ausführungen von Cicero für ein systematisches Gedächtnistraining noch Vorbild für viele Gedächtnisübungen.[2] Oft versteht man darunter, die Bildung von Merkhilfen („Eselsbrücken“[3] ), wie Merksätze, Reime, Grafiken und Schemata. Der Grundgedanke dahinter ist in Regel folgender: schwierig merkbare, abstrakte Dinge, Redeinhalte etc. werden durch Bilder visualisiert und dadurch (leichter) im Gedächtnis behalten. Dies geht bis hin zu speziellen Mnemotechniken, mit denen man umfangreiche Listen, ja sogar ganze Bücher auswendig lernen kann.[4]

In dieser Arbeit soll nun gezeigt werden, wie schon vor Aristoteles Mnemotechniken erfolgreich verwendet wurden, wie sie aber zur damaligen Zeit z. T. noch einen eschatologischen Bezug hatten. Diese These soll anhand der „Sekte“ der Pythagoreer und ihres Urvaters Pythagoras näher beleuchtet werden. Nach der obligatorischen Begriffsbestimmung (Kap. 2.1) werden wir in einem ersten Schritt die historischen Hintergründe in einer Gesellschaft beleuchten, die dabei war, den Übergang von einer oral geprägten Gesellschaft hin zu einer Schriftkultur zu bewältigen. (Kap. 2.2) Im Anschluss daran werden wir uns mit den drei historischen Quellen beschäftigen, die uns aus der Antike über die Mnemotechnik berichten. Es handelt sich hierbei um drei kurze Abschnitte aus Werken von Cicero, de oratore II 350 - 60, Quintilian XI 2, 1 – 33, 40, 50 - 51 und einer anonymen Schrift Auctor ad Herennium III 28 – 40.[5] (Kap. 2.3) Im Anschluss daran wenden wir uns der Mnemotechnik vor Aristoteles zu (Kap. 2.4), um anschließend Aristoteles selbst zu referieren (Kap. 2.5). Im dritten Teil der Arbeit rücken wir Pythagoras und die Pythagoreer ganz in den Mittelpunkt. Zunächst wird anhand der Quellen auf Pythagoras selbst und seine Seelenwanderungslehre eingegangen (3.1). Anschließend wird die Rolle des Gedächtnisses im Zusammenhang mit dieser eschatologischen Perspektive betrachtet. Die Schlussbemerkungen fassen die Ergebnisse zusammen und ziehen ein kurzes Fazit.

2. Die antike Mnemotechnik

2.1. Begriffsbestimmung

Mnemotechnik leitet sich von zwei griechischen Wörtern ab, nämlich (i) griech. mnémê bedeutet soviel wie Gedächtnis; Erinnerung und (ii) griech. téchnê heißt „Kunst“, was im weiteren Sinn auch als „Technik“ übertragen werden kann. Der Begriff „mneme“ bezeichnet nach antiker philosophischer Vorstellung von Platon und Aristoteles das „Im-Gedächtnis-haben“ bzw. „In-Erinnerung-haben“.[6] Es handelt sich bei ‘Mnemotechnik’ darüber hinaus um ein Kunstwort, das die bis zum 19. Jh. geläufigen Begriffe ars memoriae und ars reminiscentiae (= Gedächtniskunst) verdrängt hat. In der Antike galt sie noch auf Grund der künstlichen Anordnung des Materials mittels Gedächtnishilfen während einer öffentlichen Rede als Teildisziplin der Rhetorik (vgl. Kap. 2). Ein solches Verfahren definiert H. Blum als „ein in sich geschlossenes, technisch durch gebildetes System der Einprägung und Wiedererinnerung, welches das zu merkende Material vollständig und durchgehend der künstlichen Gedächtnisform adaptiert.“[7] Kennzeichen der modernen Mnemotechnik ist hingegen ihre Loslösung von der Rhetorik bei gleichzeitiger Vertiefung, Systematisierung und Differsivizierung der mnemotechnischen Verfahren.

Mnemosyne ist in der griechischen Götterwelt und gehört zu den Titaninnen. Sie gilt als die Personifizierung des Gedächtnisses. Sie zeugt zusammen mit Zeus drei Töchter: Melete für den Übungsbereich, Mneme für das eigentliche Gedächtnis und Aoëde für das Lied.[8] Mnemotechnik ließe sich deshalb am besten zusammenfassend mit „Behaltenstechnik“ übertragen. Dass in der Antike Mnemotechniken weit verbreitet und notwendig waren, soll die nun folgende historische Skizze belegen.

2.2 Der geschichtliche Hintergrund

In der Antike wurden alle mythologischen Erzählungen mit Hilfe des Gedächtnisses tradiert, im 8. Jh. v. Chr. z. B. von den Äöden, den dichtenden Sängern. So konnte ein kollektives Gedächtnis aufgebaut werden, an dem wir noch heute teilhaben. Mit der Einführung der Schrift ab dem 8. Jh. übernahmen die Rhapsoden die Rolle, vorhandene Stoffe und Erzählungen singend vor- und weiter zu tragen. Die Rhapsoden arbeiteten also schon mit Schrift. Die Dichterwettkämpfe in Athen belegen, dass trotz Einführung der Schrift noch lange Zeit, der mündliche Vortrag im Vordergrund stand.

Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, also der Phase der Literalität, bei den alten Griechen ist ein komplexer Prozess, der viele Faktoren beinhaltet und sich über einen Zeitraum von ca. vierhundert Jahren erstreckte. Die Anfänge der heutigen Schriftkultur liegen im Griechenland des 8. Jahrhunderts.[9] Den entscheidenden Anstoß gaben die zweite Übernahme[10] des Alphabets von den Phönikern und die anschließende „Aufgliederung des Lautes bis zur letzten Einheit“.[11] Diese Lautschrift war vergleichsweise leicht erlernbar. Notwendig war nämlich nur noch das Einfügen der Vokale in die Konsonantenschrift. Homer verwendete bereits diese Alphabetschrift.[12] Die Homerischen Epen stehen einerseits in einer Jahrhunderte währenden Tradition der mündlichen Weitergabe der Geschehnisse um Troja („dark ages“);[13] andererseits stehen diese Werke an der Schwelle zur Schriftlichkeit, jenseits derer die hellenistischen Bibliotheken in Alexandria und Pergamon zu verorten sind. Der Verbreitungsprozess des neuen griechischen Alphabets wurde durch eine Revolutionierung der Schreibunterlagen von einfachen Tonscherben, Schreibtafeln und Lederrollen im 8. Jh. v. Chr. hin zu Papyrusrollen, die ab dem 5. Jh. aus Ägypten importiert, sehr schnell Verbreitung fanden, katalysiert.

Der Prozess des allmählichen Eindringens der Schrift in eine durch Mündlichkeit geprägte Kultur - der viele Zwischenstufen kennt[14] - brachte es mit sich, dass die im 8. und 7. Jh. nur einer kleinen Berufsgruppe vorbehaltenen Techniken des Schreibens und Lesens sich zunehmend ausbreiteten, so dass sie im ausgehenden 6. Jh. Bestandteile des Elementarunterrichts wurden. Im 5. Jh. konnten bereits die meisten Polisbürger lesen und schreiben.[15] Anders als in den orientalischen Kulturen (i) drang die Schrift auch in die profanen Lebensbereiche ein und (ii) blieb nicht einer Berufsgruppe vorbehalten.[16] Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Schriftkultur war außerdem die Entstehung eines Lesepublikums.[17] Herodot und Thukydides schrieben bereits für den zukünftigen Leser.[18] Außerdem wurde das laute Lesen durch das stille, ‘einsame’ Lesen verdrängt. Diesen sukzessiven Bedeutungsverlust des Mündlichen gegenüber dem Schriftlichen konnte auch Platon (427 – 347 v. Chr.) in seiner Schrift kritik im Phaidros (274 - 278) nicht mehr rückgängig machen. Er sieht hierin aber den Verlust der Vermittlungsmöglichkeit philosophischen Wissens. „Die orale Literatur“, so fasst H. Weinrich im Anschluss an C. Hagege zusammen „war insgesamt eine Gedächtniskultur.“[19] Gerade die Poesie diente dem Zweck des Memorierens, bis die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jh. sie verdrängte.[20]

Ab dem 5. Jh. entstand in Griechenland demnach eine Buchkultur mit Lesepublikum. Das Auswendigsprechen schränkte sich mehr und mehr auf die freien Reden ein. Die memoria wurde zur Kunst erhoben, sich mittels Erinnerungstechniken eine Rede so einzuprägen, dass man sie völlig frei vortragen könne. Diese Technik soll von Simonides (556 – 467 v. Chr.) entdeckt und weiter entwickelt worden sein.

[...]


[1] So der Untertitel von F. A. Yates, Gedächtnis und Erinnerung, Weinheim 1990.

[2] Stellvertretend seien genannt: T. Buzan, Nichts vergessen! Kopftraining für ein Supergedächtnis, München 112000 und L. M. Sommer, Gutes Gedächtnis leicht gemacht: die besten Merktipps von A – Z, Wien 2003.

[3] N. Pethos / J. Roschatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung, S. 154.

[4] Erinnert sei an dem Film „Fahrendheit 431“. Hier lernen Menschen Bücher auswendig, um das Wissen in einer verdummenden Gesellschaft der Zukunft doch noch zu bewahren. Sie leben am Rande der Gesellschaft.

[5] Müller stellt Kritikpunkte an der antiken Mnemotechnik vor und bringt am Schluss seines Werkes eine Übersetzung der drei Stellen.

[6] H. Blum, a.a.O., S. 56 und 70.

[7] H. Blum, Die antike Mnemotechnik, S. 1.

[8] Der Mythologie nach waren die Töchter sehr stolz auf ihre Fähigkeit. Sie sollen den Thamyria geblendet haben, weil dieser sich bei seinen Gesängen den Musen überlegen gefühlt hatte.

[9] H.-J. Griep, Geschichte des Lesens, S. 4 ff und ausführlich P. Stein, Schriftkultur, S. 61 ff.

[10] Vgl. ebd. Vorher gab es Linea A und B auf Kronos. Diese dienten allein Beamtenzwecken und gingen in den „dark ages“ gänzlich verloren. Erst im 19. Jh. wurden sie entziffert und als vor-griechisch erkannt.

[11] R. Harder, Bemerkungen zur griechischen Schriftlichkeit, S. 67.

[12] Diesbezüglich schaffte R. Gordesiani, Kriterien der Schriftlichkeit und Mündlichkeit im homerischen Epos, Frankfurt 1986 endgültig Klarheit: Aufgrund der Komposition der Ilias, der sprachlichen Organisation, der Verflechtung verschiedener Elemente, d.h. der „Multifunktionalität seiner Teile“ (120) und anderer sich teils gegenseitig stützender, teils unabhängig voneinander bestehender Aspekte, handle es sich bei der Ilias um ein streng organisiertes System, das nur in schriftlicher Form denkbar ist.

[13] Dafür machte sich mit einer Fülle überzeugender Argumente Latacz, Troia und Homer, München 2003 stark.

[14] Hierzu W. Rösler, Alte und neue Mündlichkeit, S. 4 – 26.

[15] Vgl. E. Pöhlmann, Zur Überlieferung griechischer Literatur, S. 11 ff. und ders., Mündlichkeit und Schriftlichkeit gestern und heute, S. 7 ff.

[16] Vgl. dazu J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 259 ff.

[17] Siehe Ø. Andersen, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im frühen Griechentum, S. 44.

[18] Vgl. dazu W. Rösler, a.a.O., S. 14.

[19] H. Weinrich, Gedächtniskultur – Kulturgedächtnis, S. 39.

[20] Vgl. eingehend P. Stein, Schriftkultur, S. 90 ff. (Ohne Buchdruck gäbe es keine Reformation!)

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die antike Mnemotechnik unter Berücksichtigung der Pythagoreer
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Autor
Jahr
2009
Seiten
17
Katalognummer
V202523
ISBN (eBook)
9783656288787
ISBN (Buch)
9783656290421
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pythagoras, Pythagoreer, Antike, Mnemotechnik
Arbeit zitieren
Agnes Thiel (Autor:in), 2009, Die antike Mnemotechnik unter Berücksichtigung der Pythagoreer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202523

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