Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Inhaltliche Zusammenfassung
3 Hintergrundinformationen
3.1 Mara Salvatrucha
3.2 Migrationsflucht in die USA
4 Genre Roadmovie
5 Filmanalyse
5.1 Handlungs- und Erzählanalyse
5.1.1 Szenen und Sequenzen
5.1.2 Handlungsstränge und Handlungsphasen
5.1.3 Perspektiven und Darbietungen des Erzählens
5.1.4 Zeitgestaltung
5.2 Figurenanalyse
5.2.1 Figurenkonstellationen
5.2.2 Sayra
5.2.3 El Caspar und Willy
5.2.4 Benito und El Smiley
5.3 Inhaltliche Elemente des Roadmovies
5.3.1 Aufbruch und Schwellensituation
5.3.2 The Road
5.3.3 Vehikel
5.3.4 Stationen, Passagen
5.3.5 Transgressionen - Grenzüberschreitungen
5.3.6 Begegnung mit dem Fremden
5.3.7 Art der Reise
5.4 Analyse der Bauformen
5.4.1 Bildinhalt und Inhalt in Bildern
5.4.2 Kamera, Einstellungen und Montage
5.4.3 Der Ton
5.4.4 Raum, Licht und Farbe
6 Sin Nombre als Roadmovie
7 Schlusswort
8 Filmographie
9 Bibliographie
10 Internetquellen
11 Anhang
11.1 Szenen- und Sequenzprotokoll
11.2 Einstellungsprotokoll „Schwellensituation“
11.3 Artikel über die Mara Salvatrucha
11.4 Artikel über Migrationsflucht
1 Einleitung
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Analyse des Filmes Sin Nombre von Gary Fukunaga aus dem Jahr 2009. Der Film wurde größtenteils in Mexiko mit unbekannten SchauspielerInnen und einer mexikanisch- amerikanischen Produktion gedreht.
Zu Beginn möchte ich mit einer Zusammenfassung des Inhaltes und mit Hintergrundinformationen zu den beiden Themen Mara Salvatrucha und Migrationsflucht in die USA einen Überblick geben. Darauf folgt eine Einführung in das Genre Roadmovie, um die wichtigsten Punkte des Genres vorzustellen, da die Analyse immer wieder auf die Elemente des Roadmovies zurückgreifen wird. Einen großen Teil der Arbeit stellt als nächstes die Filmanalyse dar. Sie soll Themen wie die Handlung, die Erzählung, die Figuren und die Bauformen aufgreifen und näher beschreiben. Die inhaltlichen Elemente eines Roadmovies werden in einem eigenen Kapitel verarbeitet. Nach der ausführlichen Filmanalyse sollen noch einmal die wichtigsten Bestandteile des Roadmovies zusammengefasst werden und es soll eruiert werden, ob der Film überhaupt geeignet ist dem Genre Roadmovie zugeschrieben zu werden.
Im Anhang finden sich einerseits zwei Protokolle, die für die Analyse des Filmes sehr hilfreich und fast unverzichtbar waren. Während das Szenen- und Sequenzprotokoll einen Überblick über den Ablauf des gesamten Filmes gibt, so bezieht sich das Einstellungsprotokoll „Schwellensituation“ lediglich auf eine Sequenz. Wie der Name schon verrät enthält das Protokoll eine genaue Analyse der Schwellensituation des Willy.
Anzumerken wäre noch, dass im Folgenden in der Regel von Willy und El Smiley gesprochen wird, obwohl sie beide zwei relevante Namen haben. Damit soll dafür gesorgt werden, dass keine unnötigen Unklarheiten entstehen. Willy wird in der Gang El Casper genannt und El Smiley hieß vor seinem Beitritt zu den Mara Salvatrucha Benito. Die Wahl fiel auf Willy und El Smiley in Hinblick auf die Richtung, in die sich beide Figuren im Laufe des Filmes entwickeln.
2 Inhaltliche Zusammenfassung
Der Film Sin Nombre spielt zum größten Teil in Mexiko und handelt von zwei jungen Menschen, die sich auf der Flucht kennenlernen. Sayra kommt aus Honduras und flüchtet mit ihrem Vater Horacio und ihrem Onkel Orlando über Mexiko in die USA. Sie sind Wirtschaftsflüchtlingen und hoffen im reichen Norden auf ein sorgenfreieres Leben. Einen kleinen Teil der Reise legen sie zu Fuß zurück, den größeren mit einem Güterzug, der sie vom südmexikanischen Chiapas bis zur Grenze im Norden bringen soll. Auf der anderen Seite handelt der Film von Willy, ein Mitglieder der brutalen lateinamerikanischen Gang Mara Salvatrucha. Er verliert seine Freundin, die bis dahin seine wichtigste Bezugsperson war. Als er zusammen mit 2 weiteren Mareros den Güterzug überfällt, den auch Sayra und ihre kleine Familie nehmen, tötet er seinen Gangführer Lil Mago und befindet sich von da an ebenfalls auf der Flucht. Sayra und Willy kommen sich während der Reise näher, was schließlich dazu führt, dass Sayra Willy folgt, als er heimlich vom Zug absteigt und somit ihren Vater und Onkel zurücklässt. Willy ist erst darüber verärgert, möchte aber dann Sayra helfen und kann einen Autotransporter organisieren, der beide bis zur Grenze bringt. An einem Ort an der Grenze angekommen erfährt Sayra, dass ihr Vater tot ist und ihr Onkel von der Polizei gefasst wurde. Trotzdem gibt sie nicht auf und kurz darauf erreichen Sayra und Willy einen Fluss, das letzte Hindernis, bevor sie die USA erreichen können. Aber die Mara Salvatrucha waren Willy und Sayra auf den Fersen und als Sayra bereits im Wasser auf dem Weg zum gegenüberliegenden Ufer ist, kommt es zum erwarteten Mord an Willy durch seinen früheren Schützling El Smiley. Sayra ist geschockt und verzweifelt, aber sie schafft es schlussendlich bis zu einem Einkaufszentrum in den USA, von wo aus sie die neue Familie ihres Vaters Horacio anruft.
3 Hintergrundinformationen
Zuallererst sollen die beiden zentralen Themen Migrationsflucht in die USA und Gangs in Zentralamerika vorgestellt werden. Parallelen zwischen Zeitungsartikeln und dem Film sollen herausgearbeitet und besprochen werden, um einen Einblick in die im Film behandelten Probleme zu bekommen. Zudem soll festgestellt werden inwiefern die Darstellung der Themen in Film und Presse übereinstimmen oder eben auch nicht.
3.1 Mara Salvatrucha
Die Mara Salvatrucha oder MS-13 wurde ursprünglich in den 1980er Jahren von Salvadorianern in Los Angeles gegründet, um sich vor anderen hispano-amerikanischen Gangs schützen zu können. Heute verfügen sie über ein großes Netzwerk von Kanada, über die USA bis nach Mexiko, El Salvador, Honduras, Guatemala und andere zentralamerikanische Staaten. Der Großteil der rund 700.000[1] aktiven Mitglieder lebt weiterhin in Zentralamerika. Die Gang ist als eine der brutalsten der ganzen Welt bekannt und ihre Mitglieder sind laufend in Verbrechen, wie Autodiebstähle, Hauseinbrüche, Entführungen, Vergewaltigungen, Erpressungen, Morde oder Drogen- sowie Waffenhandel involviert (vgl. Kinnear 2009: 193f).
Im Zeitungsartikel Mittelamerika: „Wir sind die Kinder des Teufels“ vom 20.08.2011[2] wird geschrieben, dass die Zahl 13 bei den Mara Salvatrucha eine besondere symbolische Bedeutung hat. Daher wird die Gang auch als MS 13 bezeichnet. Um Mitglieder der Mara Salvatrucha zu werden, muss man sich einem bestimmten Ritual unterziehen. Man wird 13 Sekunden lang von den anderen Mitgliedern verprügelt. Dieses Ritual wird auch im Film dargestellt, als El Smiley neu aufgenommen und erstmal verprügelt wird. Außerdem muss er anschließend einen Gegner der MS 13, einen Chavala töten. Neben den Tätowierungen welche die Zahl 13 und/ oder die Abkürzung MS aufweisen, tragen viele Mitglieder Tattoos von Tränen neben den Augen, jede Träne für einen geliebten, von den Gegnern getöteten Menschen. Oder sie tragen Sprüche am Hals wie „Mutter, vergib mir mein verrücktes Leben“. Auch Willy weist diese Tätowierungen auf, erstens die rollende Träne bei seinem rechten Auge, die er sich während der Flucht hinunter kratzt. Weiters trägt er den Spruch „Perdóname madre mía“ am Hals. Fast über den ganzen Rücken hat er das Kürzel MS tätowiert. Außerdem trägt er und auch die anderen Gangmitglieder immer einen Rosenkranz um den Hals und hat einen solchen ebenfalls auf dem linken Unterarm tätowiert, was wohl die selbsternannte starke religiöse Zugehörigkeit der Mara Salvatrucha ausdrücken soll. Der letzte Hinweis aus dem Zeitungsartikel betrifft die Aussage der Hexe, wie Sayra erzählt, dass Sayra es in die Vereinigten Staaten schaffen wird, aber nicht mit Hilfe Gottes, sondern an der Seite des Teufels. Ein Marero [3] sagt nämlich aus, die Mara sei der Teufel und ihre Mitglieder seien die Kinder des Teufels.
3.2 Migrationsflucht in die USA
„Estados Unidos, el sueño de cualquier migrante centroamericano. México, su peor pesadilla“ (Trailer La Bestia, 2010). Diese Aussage wird im Trailer des Dokumentarfilmes La Bestia eingesetzt. Das Thema der Dokumentation ist ebendiese Flucht aus Zentralamerika durch Mexiko bis zur nordamerikanischen Grenze. La Bestia bezieht sich, wie im Kapitel über das Transportmittel[4] näher beleuchtet, auf den Güterzug.
Jedes Jahr nehmen unzählige MigrantInnen die beschwerliche Reise durch Mexiko auf sich, um sich in den Vereinigten Staaten den „amerikanischen Traum“ zu erfüllen und um Chancenungleichheit und Armut zu entkommen. Für rund 1000 der Flüchtlinge endet die Reise jedoch jedes Jahr tödlich[5]. Für die meisten davon ist die Reise auf dem Güterzug verantwortlich. Auch in Sin Nombre bringt der Zug für Sayras Vater Horacio den Tod. Aufgrund der Armut der Flüchtenden ist der Güterzug oft die einzige Möglichkeit vorwärtszukommen, denn auf den Landstraßen wird regelmäßig kontrolliert und die Bestechung von Beamten kann sich die Mehrheit nicht leisten. Als Willy und Sayra mit dem Autotransporter in Richtung Grenze unterwegs sind, findet eine solche Kontrolle statt. Da die beiden aber nicht entdeckt werden, hat es im Film keine weitere Bedeutung. Außerdem wird erwähnt, dass viele der MigrantInnen auch anderen großen Gefahren ausgesetzt sind, wie beispielsweise Überfällen durch Gangs wie der Mara, Entführungen und Erpressungen. Dadurch, dass der Großteil der Reisenden auch in Mexiko illegal unterwegs ist, haben sie kaum Chancen sich zur Wehr zu setzen und zum Beispiel die Polizei einzuschalten (die abgesehen davon oft korrupt handelt). Ein Überfall der Mara Salvatrucha bringt auch die Hauptfiguren Sayra und Willy zusammen und gilt als Schnittpunkt der beiden Handlungsstränge. Entführung und Erpressung werden im Film aber nicht behandelt.
4 Genre Roadmovie
Die Reise und das Reisen sind Themen, die nicht erst im Film behandelt wurden, sondern schon einige Jahrhunderte vor der Entstehung des Filmes in der Literatur zu finden sind. Auch damals waren Reiseerzählungen kritische Literatur in Bezug auf die Kultur und die Gesellschaften. Den Beginn dieser Literatur kennzeichnet Laderman (2002) mit Homers Odyssee aus dem späten 8. Jahrhundert. Auch Don Quixote (1615) von Cervantes aus der Zeit der spanischen Renaissance ist der Reiseliteratur zuzuordnen (vgl. Laderman 2002: 6f).
Hollywood machte sich die Art und Weise, wie die Reiseliteratur arbeitete, selbst zu Nutzen, schrieb aber seine Filme in Bezug auf seinen eigenen amerikanischen und industrialisierten Kontext. Und dieser industrialisierte Kontext hieß damals Automobil: „Car travel in road movies becomes not merely a means of transportation to a destination; rather, the travelling itself becomes the narrative´sprimary focus. The notion of travel as cultural critique becomes both modernized and modernist, as reinvented by the roadmovie.“ (Laderman 2002: 13). Daher ist es auch nachvollziehbar, dass das Auto in einem erheblichen Teil der Roadmovies die „Hauptrolle“ spielt, nicht zuletzt, da es für Individualität und Selbstentscheidung steht. Aber auch andere Fahrzeuge, wie der Güterzug in Sin Nombre, haben bestimmte Konnotationen, die im Kapitel über das Vehikel näher besprochen werden.
Als eigenständiges Genre etablierte sich das Roadmovie in den 1960ern in Hollywood, aber schon davor wurden verschiedenste Roadmovie-Elemente entwickelt. Aufgrund seiner Entstehung in Hollywood hing (und hängt) es stark mit der US-amerikanischen Gesellschaft zusammen: „ [...] the genre of the road movie explores the »borders« [...] of American Society. Often from a culturally critical perspective, the road movie asks, What does it mean to exceed the boundaries, to transgress the limits, of American society?“ (Laderman 2002: 2). Wie Laderman (2002) sagt, ist das Roadmovie ein Genre, welches die Grenzen der Gesellschaften aufbricht und sich kultur- und sozialkritisch gibt. Nicht zuletzt auch, weil zu jener Zeit der Entstehung nicht nur die Industrialisierung eine wichtige Rolle spielte, sondern auch die Krisen, die die amerikanische Gesellschaft Ende der 1960er erlitt. Diese Krise hieß Vietnamkrieg und führte in den USA zu vielen Demonstrationen und einer kritischen Einstellung der amerikanischen Gesellschaft. (vgl. Grob, Klein 2006: 10).
Aber was sind die Merkmale eines Roadmovies? Wie ist er zu definieren?
Roadmovies sind „Straßenfilme/ Wegfilme/ Reisefilme. Filme übers Unterwegs-Sein – über Gehen, Fahren, Flanieren, Rasen, Rennen, Schlendern, moving on the road. Kaum ein Genre scheint so einfach zu definieren zu sein. Aber dann, schon nach den ersten Worten, gerät man ins Stocken. Das Selbstverständliche wird problematisch. Zumal die Höhepunkte, jeder weiß es, dünn gesät sind, die aber stets voller Kraft und Fantasie, voller Wucht und Wildheit. (Grob, Klein 2006: 9)
Er ist ein Genre des Aufbruchs, ein Genre der Rebellionen, ein Genre, deren Figuren drastische Erfahrungen machen, die körperlichen, spirituellen oder emotionalen Ursprungs sein können. Nicht nur die Grenzen der Gesellschaft werden durchbrochen, sondern auch persönliche Grenzen werden immer wieder aufs Neue herausgefordert, niedergerissen und neu formuliert, nur um sie daraufhin wieder auszutesten (vgl. Laderman 2002: 2f). Die Protagonisten sind aber keinesfalls Helden in den Geschichten, sondern eher „Suchende, die ihr Leben nicht in den Griff kriegen“ (Grob, Klein 2006: 9). Aufgrund des Kontextes des Vietnamkrieges ist es nicht verwunderlich, dass die Roadmovies die Idee vom amerikanischen Traum, der Vorstellung, dass jeder die Chance vom Tellerwäscher zum Millionär hat, dekonstruiert. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Idee der Freiheit, im Denken, Fühlen und Handeln. Dem Einzelnen entgegensteht die Gesellschaft, die Zivilisation mit ihrem festen Regelsystem und führt daher zu Flucht vor diesem. „In den Road Movies um Alltagsrebellen wird das Unterwegs-Sein häufig zur letzten Hoffnung, die innere Zerrissenheit zwischen frühen Träumen und verpassten Chancen doch noch zu überwinden“ (Grob, Klein 2006: 11). Da es allerdings kaum gelingen kann, sämtliche Sorgen und Probleme zu Hause zu lassen, holen sie die ProtagonistInnen unterwegs wieder ein und führen meist zum Scheitern, zur Resignation oder zum Tod (vgl. Grob, Klein 2006: 10f).
Ein weiterer wichtiger Punkt des Roadmovies sind „die endlosen Reisen ins Innere, immer auf der Suche nach sich selbst, immer voller Rebellion gegen den Alltag“ (Grob, Klein 2006: 15). Durch die Verdrängung des Alltags durch das Unterwegs-Sein wird es den Figuren erst möglich sich näher mit sich selbst zu beschäftigen. Diese innere Veränderung wird wiederum von neu wahrgenommenen Äußeren herbeigeführt.
Das „Road Movie [birgt] Situationstypen in sich (wie: Passage, Fahrt, Begegnung mit dem Fremden), die weniger von der Aktion, als vom Kontrast leben“ (Mauer 2006: 101). Dieser Kontrast entsteht durch die Konfrontation abstrakter Gegensätze, die eine inhärente Spannung aufbauen. Diese Gegensätze ergeben sich im Roadmovie fast von ganz allein und Mauer (2006) benennt diese folgendermaßen: Öffentlichkeit und Intimität, Vertrautheit und Fremdheit, Statik und Bewegung, Enge und Weite, Bild und Musik (vgl. Mauer 2006: 101). Auch in Sin Nombre kommen diese Kontraste stark zur Geltung und bestimmen das Bild des Filmes[6].
Weiters ist das Roadmovie in mehrere Subgenres zu unterteilen, ist aber gleichzeitig „ein Patchwork-Genre, das Einflüsse aus den unterschiedlichsten Formen, Gattungen, Mustern und Stilen aufsaugt und in den einzelnen Filmen neu formt“ (Grob, Klein 2006: 9). Als Beispiele nennen Grob und Klein (2006) den Bikerfilm, der vieles aus dem klassischen Western übernimmt, die Filme um Mörderpärchen, die sich an den Gangsterfilm anlehnen, die Filme um Musiker, die sich Formen des Bio-Pics und des Star-Vehikels bedienen oder die Rennfilme über Abenteuer und Freiheit, wie in Abenteuerfilmen (vgl. Grob, Klein 2006: 9).
5 Filmanalyse
Die Filmanalyse stellt einen wichtigen und den wohl umfangreichsten Teil der Arbeit dar und soll einen Überblick darüber geben, wie der Film Sin Nombre als Ganzes und im Detail funktioniert. Die Filmanalyse orientiert sich methodisch im Wesentlichen an den Vorgehensweisen und den Kategorien von Werner Faulstich (2008) und Alice Bienk (2008). Zusätzlich sollen jene Merkmale, welche den Film zu einem Roadmovie machen in einem eigenen Kapitel[7] analysiert, herausgehoben und unterstrichen werden. Im darauffolgenden Kapitel 6 Sin Nombre als Roadmovie werden sämtliche analysierten Elemente noch einmal in Zusammenhang mit dem Genre aufgearbeitet.
5.1 Handlungs- und Erzählanalyse
Die Handlungs- und Erzählanalyse soll klären, wie der Film als Ganzes funktioniert. Sie zeigt den Rahmen des Filmes und wie Sin Nombre allgemein aufgebaut ist.
5.1.1 Szenen und Sequenzen
„Pflichtaufgabe und unverzichtbarer Ausgangspunkt einer jeden Filmanalyse ist [...] das Sequenzprotokoll. Dabei wird die Filmhandlung in Szenen oder Sequenzen segmentiert.“ (Faulstich 2008: 76). Als mögliche Kriterien zur Unterteilung nennt er Einheit oder Wechsel des Ortes, der Zeit, der beteiligten Figuren oder Figurenkonstellationen, eines (inhaltlichen) Handlungsstranges, sowie in Stil oder Ton (vgl. Faulstich 2008: 76). Da es sich beim Roadmovie um einen Film mit vielfachen Ortswechseln handelt, ist dies sicher das häufigste Kriterium zur Segmentierung.
Die Bezeichnungen Szenen und Sequenzen aber sind Begriffe, die in der Literatur nicht eindeutig definiert sind, daher erscheint es mir wichtig zu Beginn dieses Kapitels die Definition festzulegen, nach welcher ich arbeiten und segmentieren werden. Bienk unterteilt die Handlungen in Akt, Sequenz, Szene und Einstellung (vgl. Bienk 2008: 105f), wobei hingegen Faulstich (2008) in der Regel in seinen Analysen von Sequenz und Subsequenz, anstatt von Szene spricht (vgl. Faulstich 2008: 76ff). In meinem Sequenzprotokoll schließe ich mich der Terminologie Bienks an, die Sequenz und Szene wie folgt definiert: „Die nächst kleinere Einheit nach dem Akt ist die Sequenz [...] [wobei] oftmals eine eindeutige Abgrenzung von Sequenzen innerhalb eines Filmes nicht leicht zu vollziehen [ist]. Eine Sequenz setzt sich aus mehreren Szenen zusammen, die inhaltlich in Verbindung stehen und durch eine Idee zusammengehalten werden“ (Bienk 2008: 105).
Für Sin Nombre habe ich mich für ein Szenen- und Sequenzprotokoll[8] entschieden, weil sich im Laufe der Filmsichtungen herausgestellt hat, dass besonders zu Beginn mehrere Szenen zu einer Sequenz zusammenzufassen sind. Die Sequenzen habe ich in erster Linie anhand der ineinandergreifenden Handlungsstränge segmentiert. Innerhalb einer Sequenz kommt es zu mehreren Szenen, wenn der Handlungsstrang weiterläuft, aber z.B. ein Ortswechsel stattfindet (siehe Sequenz 1 und 3 im Protokoll). Nachdem Sayra und Willy aufeinandergetroffen sind, kommt es fast abwechselnd zu einem Fortlauf von zwei Handlungssträngen. Eine Sequenz löst hierbei die nächste ab und es sind nur in Ausnahmefällen darunterliegende Szenen zu ermitteln. Diese Sequenzen werden als verschachtelte Sequenzen bezeichnet (vgl. Faulstich 2008: 79).
Weiters sind aufgrund der oben genannten Verschachtelung der Sequenzen oftmals mehrere Sequenzen, aufgrund ihres Handlungsstranges[9], zusammenzufassen. So, z.B. ergibt Verbindung der Sequenzen 10, 12, 14, 16, 18 und 19 eine übergeordnete Sequenz oder Großsequenz, welche die Reise, bzw. die Flucht, von Sayra und Willy, von ihrer ersten Begegnung an, bis zum Verlassen des Zuges, und damit zum Verlassen der bisherigen Reisebegleiter Horacio und Orlando, beinhaltet. Hierzu gibt es eine entgegengesetzte übergeordnete Sequenz, welche die Sequenzen 9, 11, 13, 15, 17 und 18 beinhaltet, und die sich, wie oben bereits erwähnt, im Verschachtelungsprinzip einordnen. Diese Sequenzen erzählen die Geschichte von El Smiley, der Willy folgt, um ihn zu töten. Die Sequenz Nr. 18 ist besonders und beiden übergeordneten Sequenzen zuzuordnen, weil es in dieser einen Sequenz zu einer Begegnung zwischen den beiden Handlungsparteien kommt, und somit inhaltlich beiden Handlungssträngen zuzuordnen ist.
„Jeder Film besteht in der Regel aus einer Vielzahl von Sequenzen, meistens zwischen dreißig und achtzig. In neueren Filmen liegt die Zahl niedriger, aber die entsprechenden Großsequenzen lassen sich dann jeweils weiter untergliedern in zahlreiche Subsequenzen.“ (Faulstich 2008: 77). In Sin Nombre konnten 29 Sequenzen und insgesamt 41 Szenen festgestellt werden, was sehr gut in die Beobachtungen Faulstichs passt.
6.1.2 Handlungsstränge und Handlungsphasen
6.1.2.1 Handlungsstränge
Wie im Folgenden Grafik 1 zeigt, beginnt der Film mit zwei Handlungssträngen. Auf der einen Seite wird die Situation des in Chiapa lebenden Mexikaners Willy (oder El Casper) beleuchtet, der Mitglied der in ganz Mittelamerika und in den USA lebenden Mara Salvatrucha (oder MS13) ist. Sein Leben ist geprägt von Gewalt und er versucht bei seiner Freundin Martha Marlene etwas Abstand zu gewinnen. Auf der anderen Seite wird der Ausgangspunkt der jungen Sayra gezeigt, die in Honduras lebt, aber mit ihrem Vater Horacio und ihrem Onkel Orlando, der anfangs ihre stärkste Bezugsperson ist, in die USA fliehen möchte. Hierzu muss die kleine Reisegruppe den ersten Teil des Weges zu Fuß durch Honduras, El Salvador und Guatemala zurücklegen. Ab der südmexikanischen Stadt Chiapas möchten sie auf dem Dach eines Güterzuges quer durch Mexiko bis zur mexikanisch-amerikanischen Grenze reisen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik 1
Als Willy zusammen mit seinem Schützling El Smiley und dem Anführer seiner Gang, Lil Mago, auf einem Güterzug Reisende überfällt, trifft er auf Sayra, die mit ihrem Vater und Onkel denselben Zug genommen hat. Er rettet Sayra, als diese von Lil Mago massiv bedroht wird, indem er seinen Anführer mit einer Machete die Kehle aufschneidet und ihn vom fahrenden Zug wirft. El Smiley drängt er, vom Zug zu steigen und zurück zu laufen, da Willy weiß, dass er von nun an von der Mara Salvatrucha gejagt werden wird. Von hier an (Sequenz Nr. 8) geht die Reise für Sayra und Willy gemeinsam weiter. Gleichzeitig mit dem Verschmelzen der beiden Handlungsstränge entsteht aber wiederum ein neuer Handlungsstrang, jener von El Smiley und der Mara Salvatrucha. Sequenz Nr. 8 ist daher die wichtigste Schlüsselsequenz, die besonders den weiteren Werdegang des Willy bestimmt.
Als in Sequenz Nr. 18 Willy auf seiner Flucht erstmals wieder auf die Mara Salvatrucha trifft, kommt es zu einer Verschmelzung der beiden neu entstandenen Handlungsstränge, die aber nur kurz andauert, da es Willy noch einmal gelingt den Mara Salavatrucha und damit seinem Todesurteil zu entkommen. Danach trennen sich ihre Wege wieder und kreuzen sich erst zum Ende des Filmes ein letztes Mal, als Willy von El Smiley erschossen wird. Der Handlungsstrang der nach dem Tod Willys fortgesetzt wird, betrifft nur noch Sayra, die es schlussendlich schafft in die USA zu kommen.
6.1.2.2 Handlungsphasen
Zu den Handlungssträngen, kommen im nächsten Schritt die Handlungsphasen. Faulstich (2008) greift hierbei u.a. auf die 5-Akt-Struktur zurück, die schon Aristoteles für Theaterstücke angewandt hatte. Die 5 Handlungsphasen unterteilt er (nach Aristoteles) in die Problementfaltung (1), die Steigerung der Handlung (2), die Krise oder der Umschwung (3), die Verzögerung der Handlung (4) und das Happy End oder die Katastrophe am Ende (5) (vgl. Faulstich 2008: 84).
Bei Sin Nombre habe ich neben den klassischen 5 Phasen eine Wiederholung der Phasen 2 und 4 (siehe Grafik 2) im letzten Drittel des Filmes festgestellt.
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Grafik 2
(1) Sequenz 1-3[10]: Die erste Phase der Handlung(en) kann nach Faulstich (2008) die Einführung einer Figur, eines Handlungsortes, eines Milieus, einer Zeit und/oder eines Motivs beinhalten (vgl. Faulstich 2008: 84). Die Problem-entfaltung beginnt mit dem Start des Filmes und läuft bis zur Ankunft Sayras und ihrer beiden Reisebegleiter am Güterbahnhof La Bombilla in Südmexiko. In dieser Phase werden die beiden Hauptfiguren Willy (El Casper) und Sayra vorgestellt und in ihrer Umgebung präsentiert. Man erfährt, inwiefern Willy in die Mara Salvatrucha eingebunden ist und warum, wie und mit wem Sayra in die USA reisen möchte. Besonders wichtig in dieser ersten Phase ist der Handlungsort, der Bahnhof La Bombilla, da dieser die beiden Figuren erstmals zusammen in Verbindung bringt und als Ausgangspunkt der Reise mit dem Güterzug gilt.
(2) Sequenz 4-7: Auf die erste folgt die zweite Phase, die Steigerung der Handlung, die bis kurz vor das Zusammentreffen von Sayra und Willy andauert. Diese Phase ist gekennzeichnet durch die Verschärfung eines Konfliktes, das Auftauchen neuer Probleme und/ oder die Zunahme an Komplexität (vgl. Faulstich 2008: 84). Für Sin Nombre heißt das konkret, dass der Zuschauer auf die erstmalige Begegnung vorbereitet wird. Ein wichtige Sequenz der Phase ist jene, in der Martha Marlene, die Freundin Willy´s, vom Anführer Lil Mago versehentlich getötet wird, als dieser versucht sie zu vergewaltigen (Sequenz Nr. 6). Der Konflikt innerhalb der Mara Salvatrucha zwischen Willy und Lil Mago wird dadurch gesteigert und droht allmählich zu eskalieren. Ihren Höhepunkt erreicht die Problematik aber erst in der darauffolgenden Phase.
[...]
[1] Hierzu wurden unterschiedliche Angaben gefunden. Laut der Internetseite http://www.askmen.com/top_10/entertainment/top-10-notorious-gangs_1.html sind es rund 70.000 Mitglieder. Die Internetseite http://de.wikipedia.org/wiki/Mara_Salvatrucha beziffert die Anzahl der Mitglieder auf 50.000 bis 100.000.
[2] Der ganze Zeitungsartikel kann in dieser Arbeit im Anhang nachgelesen werden.
[3] Marero ist die Bezeichnung eines Mitgliedes der Mara
[4] Siehe Kapitel 5.3.3 Vehikel
[5] Der ganze Zeitungsartikel „Ich spürte nur einen dumpfen Schmerz“ kann in dieser Arbeit im Anhang nachgelesen werden.
[6] Vgl. hierzu Kapitel 6 Sin Nombre als Roadmovie
[7] Vgl. hierzu Kapitel 5.3: Inhaltliche Elemente des Roadmovies
[8] Das vollständige Szenen- und Sequenzprotokoll kann im Anhang nachgelesen werden.
[9] Vgl. hierzu Kapitel 5.1.2.1 Handlungsstränge
[10] Die Bezeichnungen der Sequenzen sind dem Szenen- und Sequenzprotokoll im Anhang entnommen.