Die Arbeit setzt sich mit den Effekten des direkten Parteienwahlkampfs und des medial vermittelten Wahlkampfs auf das individuelle Wahlverhalten auseinander. Auf Grundlage des Nachwahl-Querschnittsdatensatzes der German Longitudinal Election Study (GLES) zur Bundestagswahl 2009 findet eine empirische Überprüfung von Hypothesen zum Einfluss des Wahlkampfs auf ausgewählte Kenngrößen statt, die aus gesamtgesellschaftlicher oder Parteienperspektive als erstrebenswert angesehen werden. Darunter finden sich die Wahlbeteiligung, Wählermobilisierung, Wahlentscheidung sowie Einstellungen zu Kandidaten, Sachfragen und die Leistungsbewertung der Bundesregierung. Die Generierung von Hypothesen erfolgt durch theoretische Einbettung des Wahlkampfs in das sozialpsychologische sowie das Rational-Choice-Erklärungsmodell des Wahlverhaltens.
Die empirischen Ergebnisse offenbaren den wichtigen Beitrag, welchen der Wahlkampf als Aggregat für die politische Information der Bürger leistet. Mediale Berichterstattung vereinfacht die Entwicklung von Präferenzen für einen Kanzlerkandidaten. Das Ausmaß des erfahrenen Wahlkampfs erhöht die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung sowie die Fähigkeit, die Lösungskompetenz für politische Probleme einer Partei zuzuschreiben.
Auf Ebene der Parteien finden sich Hinweise einer mobilisierenden Wirkung von Wahlkampfkontakten auf die Anhängerschaften von Parteien. Viele Anhänger der Linken hätten ohne Parteikontakte im Wahlkampf nicht an der Bundestagswahl teilgenommen, für die SPD hätte die Bundestagswahl ohne Wahlkampf in einem wahrscheinlich noch schlimmeren Ergebnis geendet. Von deren schlechter Ausgangssituation profitierten insbesondere die kleineren Parteien, denen es gelang, durch den Wahlkampf Anhänger der SPD für die eigene Sache zu gewinnen. Es deutet sich an, dass Wanderungsbewegungen im linken Lager durch den Wahlkampf forciert wurden.
Das starke Abschneiden der FDP bei der Bundestagswahl 2009 wurde durch die Wahlkampfbemühungen der Partei unterstützt. Diese begünstigten die Wahlentscheidung von Anhängern der Unionsparteien zugunsten der Liberalen und ließen Spitzenkandidat Westerwelles Ansehen bei den keiner Partei verhafteten Wählern steigen.
Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von der im Prüfungsverfahren vorgelegten durch wenige an Orthographie, Interpunktion und Layout vorgenommene Korrekturen.
Inhalt
1 Einleitung
2 Literaturübersicht
3 Wahlkampf
3.1 Zieldimensionen des Wahlkampfs
3.2 Wahlkampf aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive
4 Bundestagswahlkampf 2009
4.1 Ausgangslage und Wahlergebnis
4.2 Wahlkampf
5 Vorüberlegungen zur Wirkungsweise des Wahlkampfs
5.1 Selektive Wahrnehmung
5.2 Poltisches Interesse und Politisches Wissen
5.3 Direkte Parteikontakte im Wahlkampf
6 Medien im Wahlkampf
7 Theoretische Modelle zum Wahlverhalten
7.1 Mikrosoziologisches Erklärungsmodell
7.2 Sozialpsychologisches Erklärungsmodell
7.2.1 Der Wahlkampf im sozialpsychologischen Ansatz
7.3 Rational-Choice-Ansätze
7.3.1 Wahlkampf im Rational-Choice-Ansatz
8 Hypothesen zur Wirkung des Wahlkampfs auf ausgewählte Größen
8.1 Selektive Wahrnehmung
8.2 Kandidatenorientierung
8.3 Sachorientierung
8.4 Bewertung der Regierungsleistung
8.5 Wahlbeteiligung
8.6 Mobilisierung
8.7 Wahlentscheidung
9 Operationalisierung
9.1 Direkte Parteikontakte (Wahlkampfexposition)
9.1.1 Direkte Parteikontakte
9.1.2 Gesamte direkte Parteikontakte
9.2 Medienrezeption im Wahlkampf
9.3 Parteiidentifikation (PI)
9.4 Kandidatenorientierung
9.5 Sachorientierung
9.5.1 Retrospektive Leistungsbewertung
9.5.2 Prospektive Leistungsbewertung als Problemlösungskompetenz
9.6 Wahlbeteiligung
9.7 Realisierte Parteiidentifikation
9.8 Wahlentscheidung
9.9 Politische Aufmerksamkeit
9.10 Weitere Kontrollvariablen
9.10.1 Unterschied in der Regierung
9.10.2 Unterschied in der Politik
9.10.3 Demokratiezufriedenheit
9.10.4 Wahlnorm
9.10.5 Bewertung einer Partei
10 Überprüfung der Hypothesen in Modellen
10.1 Selektive Wahrnehmung von Wahlkampfeinflüssen
10.1.1 Selektive Wahrnehmung direkter Parteikontakte
10.1.2 Selektive Wahrnehmung medialer Berichterstattung
10.2 Kandidatenorientierung
10.3 Sachorientierung
10.4 Retrospektive Leistungsbewertung
10.5 Wahlbeteiligung
10.6 Mobilisierung
10.7 Wahlentscheidung
11 Fazit
12 Literaturverzeichnis
13 Tabellenanhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ergebnis der Bundestagswahl 2009 sowie Gewinne und Verluste
Abbildung 2: Das Wahlkampfdreieck
Abbildung 3: Ein Modell der Wahlkampfkommunikation
Abbildung 4: Positionierungen der Zeitungen im Links-Rechts-Spektrum
Abbildung 5: Das sozialpsychologische Erklärungsmodell (Michigan-Modell)
Abbildung 6: Das Rational-Choice-Modell nach Downs mit Einbeziehung des Wahlkampfs
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Klassifikation von Effekten auf das Wahlverhalten
Tabelle 2: Phasenmodell politischer Kommunikation
Tabelle 3: Typisierung von Wahlkampfinstrumenten nach Phase der Wahlkampfkommunikation und Vermittlungsmedium
Tabelle 4: Wichtigste politische Informationsquelle nach politischem Interesse
Tabelle 5: Positiver und negativer Tenor in den Fernsehnachrichten zu politischem Personal
Tabelle 6: Positiver und negativer Tenor in den Fernsehnachrichten zu den Parteien und der Bundesregierung
Tabelle 7: Zeitungsleser der Qualitätszeitungen
Tabelle 8: Mittelwerte direkte Parteikontakte nach PI
Tabelle 9: Mittelwerte politischen Interesses, Wissens und Aufmerksamkeit nach Parteiidentifikation
Tabelle 10: Mittelwerte des wöchentlichen Medienkonsums nach PI
Tabelle 11: Log. Regression des Vorliegens einer Kanzlerpräferenz
Tabelle 12: Log. Regression der Kanzlerpräferenz für Merkel bzw. Steinmeier
Tabelle 13: Log. Regression Kanzlerpräferenz für Merkel bzw. Steinmeier - Wähler ohne PI
Tabelle 14: Lineare Regressionsmodelle der Bewertung von Spitzenpolitikern
Tabelle 15: Log. Regression des Vorliegens einer Sachorientierung
Tabelle 16: Parteiidentifikation und Problemlösungskompetenz im Datensatz
Tabelle 17: Log. Regression des Vorliegens einer Sachorientierung in Richtung einer bestehenden Parteiidentifikation
Tabelle 18: Lineare Regression der Leistungsbewertungen für Union, SPD und Bundesregierung
Tabelle 19: Log. Regressionsmodell zur Erklärung der Wahlbeteiligung
Tabelle 20: Umsetzung der Parteiidentifikation in eine Stimmabgabe
Tabelle 21: Parteiidentifikation , Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung
Tabelle 22: Multinomiales log. Regressionsmodell des Wahlverhaltens der SPD-Identifikateure
Lohnt sich der Wahlkampf?
Eine empirische Untersuchung des Einflusses direkten und medial vermittelten Wahlkampfes auf ausgewählte Kenngrößen zum individuellen Wahlverhalten
1 Einleitung
Wahlen sind das konstituierende Element einer Demokratie. Für viele Bürger bilden sie den einzigen regelmäßig praktizierten Eingriff in die politische Ausgestaltung der Gesellschaft. Vor allem in den westlichen Demokratien lässt sich über die vergangenen Jahrzehnte jedoch ein Rückgang der Wahlbeteiligung beobachten, welcher mitunter durch den Begriff der Politikverdrossenheit zu erklären versucht wird. Dieser impliziert eine Abkehr der Wahlberechtigten von der Politik. Hierfür wird im Allgemeinen eine zunehmende Entfremdung von potenzieller Wählerschaft und politischen Eliten als ursächliche Erklärung angeführt, für welche wiederum unterschiedliche Erklärungsfaktoren einen Beitrag leisten. Hierzu zählen die von vielen Wählern empfundene Konturlosigkeit und mangelnde Abgrenzbarkeit der politischen Parteien hinsichtlich ihrer Inhalte.
Zu den Kritikpunkten gehört unter anderem auch oftmals die besondere Aufmerksamkeit, welche die Parteien dem Volk nur während des Wahlkampfs entgegenzubringen scheinen. Mitunter wird die Institution des Wahlkampfes als Ganzes in ihrer Sinnhaftigkeit hinterfragt. Dies geschieht nicht zuletzt vor dem Hintergrund der finanziellen Aufwendungen, die von den Parteien im Vorfeld einer Wahl getätigt werden. Es wird die Frage gestellt, inwiefern dieser Aufwand gerechtfertigt ist. Heben sich die Wahlkampfanstrengungen der im politischen Wettbewerb stehenden Parteien nicht gegenseitig auf? In Anbetracht der theoretischen Überlegung, dass um eine begrenzte Anzahl von Wählerstimmen konkurriert wird, also faktisch nur um die Verteilung von Anteilen an der Gesamtzahl der zu vergebenen Wählerstimmen, ist diese Frage durchaus berechtigt. Diese Argumentation ist jedoch nur gültig, wenn man die politischen Parteien als ein Kollektiv betrachtet, dessen Mitglieder keiner individuellen Rationalität folgen. Aus kollektivistischer Sicht würde es sich als möglicherweise sinnvoll erweisen, die Wahlkampfkosten auf einem überschaubaren Niveau für alle zu halten, im Endeffekt aber das gleiche Verteilungsergebnis hinsichtlich der Verteilung der Wählerstimmen zu erzielen. Aus der Perspektive nur einer Partei heraus, erscheint aber die möglichst breite und umfangreiche Anlage des Wahlkampfs stets als die geeignetere Strategie. Die Situation ähnelt dem allseits bekannten spieltheoretischen Modell des Gefangenendilemmas. Der theoretisch größte Nutzen (gleicher Wahlausgang bei minimalem finanziellem Aufwand) würde erreicht werden, wenn alle Parteien kooperieren und eine Begrenzung der Wahlkampfaufwendungen vereinbaren würden, jedoch ist es für die einzelne Partei unabhängig vom Handeln der anderen stets die geeignetere Strategie abzuweichen, d.h. sich nicht an eine derartige Begrenzung zu halten.
Die Realität zeigt, dass sich die Parteien durchaus Wirkungen des Wahlkampfes in Aussicht stellen, nicht umsonst werden Unsummen dazu investiert. Es lässt sich also die Frage stellen, welche Effekte durch den Wahlkampf eigentlich erzielt werden. Die Beantwortung dieser Frage soll in dieser Arbeit mit einer empirischen Analyse einiger, im Rahmen der German Longitudinal Election Study (GLES) zur Bundestagswahl 2009 erhobener Daten versucht werden.[1] Ziel ist es, die Auswirkungen des Wahlkampfs auf ausgewählte Kenngrößen zu untersuchen und daraus Erkenntnisse über potenzielle Einflüsse des Wahlkampfs auf Einstellungen und Wahlverhalten auf der Individualebene zu generieren. Unter dem Oberbegriff Wahlkampf werden zwei unterschiedliche Dimensionen betrachtet: Die mediale Berichterstattung und die direkten, nicht über die Medien vermittelten Kontakte zwischen Parteien und Bürgern.
Als Ergebnis soll eine Einschätzung dazu entstehen, welchen Wert der Bundestagswahlkampf 2009 für die Parteien hatte und welchen Wert man ihm auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene zuerkennen kann. Eine normative Betrachtungsperspektive stellt insbesondere eine hohe Wahlbeteiligung als wichtige Legitimationsgrundlage eines demokratischen Regierungssystems dar, für welches Regierung durch Zustimmung elementare Bedingung ist. Unabhängig vom Ausgang der Wahl ist eine möglichst hohe Wahlbeteiligung folglich ein erstrebenswertes Gut. Die Titelfrage „Lohnt sich der Wahlkampf?“ kann daher aus zwei unterschiedlichen Perspektiven gestellt werden.
Der Bundestagswahlkampf 2009 als Erkenntnisobjekt eignet sich insofern besonders für die Untersuchung im Rahmen der Fragestellungen, als dass er sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung als „Nichtwahlkampf“ gehandelt wurde, bedingt insbesondere durch die regierende Große Koalition, aber auch durch die geringe Beeinflussung durch bedeutende externe politische Ereignisse wie den Irakkrieg 2002, welche zur kurzfristigen Verschiebung der Wählerpräferenzen hätten beitragen können. Beherrschendes politisches Thema war die Wirtschaftskrise, welche allerdings durch die gemeinsame Regierungsverantwortung von Union und SPD von keiner Seite als besonderes Wahlkampfthema instrumentalisiert werden konnte.
Der theoretische Rahmen zur Erklärung des Wahlverhaltens unter Einbeziehung des Wahlkampfs ergibt sich aus den drei klassischen Theorieschulen, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung. Den hauptsächlichen Bezugsrahmen bildet der sozialpsychologische Ansatz, welcher seine Argumentation, im Gegensatz zu den nur peripher berührten sozialstrukturellen Ansätzen, insbesondere auf die Ausprägungen von Einstellungen zurückführt und damit besonders geeignet scheint, Effekte des Wahlkampfes abzubilden. Für die Untersuchung einiger hypothetischer Effekte werden auch Entlehnungen aus der Rational-Choice-Schule in die Argumentation integriert. Zugunsten einer möglichst guten und mit der Empirie harmonierenden Erklärung der interessierenden Sachverhalte wird also auf die Argumentation innerhalb einer „reinen Lehre“ verzichtet.
Die vorliegende Arbeit ist wie folgt gegliedert: Kapitel 2 beinhaltet eine knappe Übersicht der wesentlichen Erkenntnisse über den Zusammenhang von Wahlkampf und Wahlverhalten. Anschließend liefert Kapitel 3 eine Definition des Wahlkampfbegriffs und seiner Ziele sowie grundsätzliche Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft, welche als Hintergrundwissen von Bedeutung für die Arbeit sind. In Kapitel 4 wird der Bundeswahlkampf 2009 in seinen elementaren Zügen und Ergebnissen zusammengefasst, um einen Deutungshintergrund für die Analyseergebnisse zu gewinnen. Im 5. Kapitel wird die Argumentation um einige als wichtig erachtete Vorüberlegungen ergänzt. Kapitel 6 thematisiert in aller Kürze die Möglichkeiten der Einbeziehung der Medien in die Analyse. Kapitel 7 führt in die drei klassischen Erklärungsmodelle zum Wahlverhalten sowie bereits bestehende Überlegungen zur Integration des Wahlkampfes in diese ein. Auf diesem theoretischen Fundament soll Kapitel 8 endlich die Hypothesen zu Wirkungsweisen des Wahlkampfs bereithalten, welche in Kapitel 10, nach Operationalisierung aller dafür nötigen Modellbestandteile aus dem vorliegenden Datenmaterial in Kapitel 9, überprüft werden sollen. Das abschließende 11. Kapitel beendet die Arbeit mit einem Fazit.
2 Literaturübersicht
Die wissenschaftliche Forschung zum Thema Wahlkampf lässt sich recht einfach in zwei Richtungen unterscheiden. Kriterium ist, ob der Wahlkampf und seine Beschaffenheit selbst die zu erklärende Variable darstellt, oder ob er als erklärende Variable einbezogen wird. Erstere Ausrichtung steht vornehmlich im Erkenntnisinteresse der Kommunikationswissenschaft.[2] In dieser werden in jüngster Zeit unter den Stichworten Amerikanisierung, Globalisierung und Professionalisierung Thesen diskutiert, mit denen sich wahrgenommene Veränderungen in der Art und Weise der Wahlkampfführung nachzeichnen und erklären lassen.[3]
Die andere Richtung versucht nicht den Wahlkampf zu erklären, sondern es wird nach den Wirkungen von Wahlkämpfen als unabhängiger Variable gefragt. An dieser Stelle treffen also Wahlkampfforschung und empirische Wahlforschung zusammen. In ihrem Erkenntnisinteresse steht die Frage, ob und auf welche Weise der Wahlkampf Einfluss auf das Wahlverhalten ausübt.[4] Lange Zeit bestanden Schwierigkeiten, vermutete Zusammenhänge zwischen Wahlkampagnen und Wahlverhalten auf der Individualdatenebene empirisch zu belegen. Ursächlich dafür war insbesondere das Fehlen von Datensätzen, welche beide Seiten der Fragestellung adäquat abbilden. Fragestellungen zu Mediennutzung und Wahlkampfkommunikation wurden in den Umfragen der Wahlforschung kaum berücksichtigt und im Gegenzug wurden in kommunikationswissenschaftlichen Erhebungen auf eine detaillierte Erfassung wahlsoziologisch relevanter Merkmale verzichtet.[5] Mittlerweile öffnen die verfügbaren Datenangebote wie die GLES zur Bundestagswahl 2009 aufgrund ihres umfangreichen und umsichtig angelegten Designs vielerlei Auswertungsmöglichkeiten, die durch vorherige Wahlstudien in dieser Form nicht gegeben waren.
Die hybride Anlange der Wahlkampfforschung zwischen Kommunikations- und Politikwissenschaft macht diese zu einem Forschungsfeld von beachtlicher Größe. Für den Zweck einer Literaturübersicht zu einer Arbeit mit spezifischer Fragestellung ist ein Rundumschlag aber unangebracht, so dass hier nur Erkenntnisse zur Wirkung des Wahlkampfes Erwähnung finden. Notwendige kommunikationswissenschaftliche Grundlagen werden im nachfolgenden Kapitel umrissen.
Die Untersuchung der Wirksamkeit von Wahlkämpfen kann sich auf vielfältige Wirkungszusammenhänge zwischen den am Wahlkampf beteiligten Akteuren konzentrieren und bietet daher Raum für mehr oder minder spezifische Fragestellungen. Daraus folgert Schoen, dass es sich für die Forschung anbietet, konkreten Fragestellungen nach den Effekten einzelner Wahlkampfereignisse nachzugehen und nicht nur nach den Wirkungen des Wahlkampfs als Ganzes zu Fragen.[6] Diese Ausrichtung der Forschung bietet sich insbesondere für herausragende Kampagnenelemente, wie etwa TV-Duelle oder inszenierte Pseudoereignisse an. Eine derartige Fokussierung bietet sich aber nicht dazu an, den Wahlkampf in seiner Gesamtheit, der sich von Plakaten bis zu hochgradig komplexen Medienereignissen vielerlei Instrumente bedient, in seiner Effektivität zu untersuchen.
Als abhängige Variablen in der Wahlkampfwirkungsforschung können sowohl das durch den Wahlkampf bzw. einzelne Wahlkampfereignisse gezielt zu beeinflussen versuchte Wahlverhalten, wie etwa die Wahlbeteiligung, die Mobilisierung oder die Wahlentscheidung erklärt werden, als auch Effekte auf Einstellungen, die eine Vorstufe der von den Parteien verfolgten Ziele darstellen. „Da diesesich bislang zu einem erheblichen Teil an den Zielen von Kandidaten und Parteien orientiert hat, erscheint es [aber] durchaus angemessen, die Wirkungsforschung – etwas vergröbert – als auf die Wahlkampfbemühungen der politischen Elite bezogene Evaluationsforschung zu betrachten.“[7]
Nachfolgend soll die bereits zur Wirkung von Wahlkämpfen bestehende umfangreiche Forschung auf wenige wesentliche und generalisierbare Erkenntnisse reduziert zusammengefasst werden. Eine umfassendere Darstellung würde hingegen ein vertieftes Eintauchen in jeweils verwendete Erklärungsmodelle und Forschungsdesigns sowie auch den mit Wahljahr und politischem System variierenden Rahmenbedingungen erfordern. Ein Abgleich der Literatur nach diesen Kriterien würde bei einer sehr spezifischen Forschungsfrage unabdingbar sein, die hingegen sehr allgemein formulierte Fragestellung, ob für die Bundestagswahl 2009 Wahlkampfeffekte auf verschiedene Kenngrößen nachgewiesen werden können, macht eine vollumfängliche Sondierung der Literatur in begrenztem Zeitrahmen aber nahezu unmöglich.
Eine erste Voraussetzung für das Auftreten von Wirkungen des Wahlkampfs auf das Wahlverhalten ist zunächst, dass die Wähler überhaupt in Kontakt mit dem Wahlkampf kommen. In der Forschung zum Thema besteht allgemeine Übereinstimmung, dass sich mit unterschiedlichen, insbesondere sozial und kulturell bedingten, Vorprägungen und politischem Interesse der Wahlberechtigten differierende Wahrscheinlichkeiten ergeben, mit Wahlkampfkommunikation spezifischer Parteien in Kontakt zu kommen.[8]
Einen in der Forschung wiederholt nachgewiesenen Effekt von Wahlkampfkommunikation stellt die politische Informiertheit von Bürgern dar. Empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass Wahlkampagnen zu einem höheren politischen Interesse sowie zu einem besseren Informationsstand als Grundlage für die Wahlentscheidung beitragen können. Insbesondere für das Medium Fernsehen konnten Informationseffekte immer wieder nachgewiesen werden.[9]
Für die Wirksamkeit des Wahlkampfs in Bezug auf die Einstellungen zu Kandidaten und Sachfragen findet sich ebenfalls breite empirische Evidenz. Entscheidend für ihre Wirksamkeit auf das Wahlergebnis ist aber darüber hinaus, dass sich auch auf der Aggregatebene Verschiebungen der Wählerpräferenzen abzeichnen. Für Deutschland konnte die Wahlforschung Kandidaten- und Sachfrageneffekte für die Bundestagswahlen der 1990er Jahre nachweisen. Darüber hinaus gelang mitunter auch der Beleg des Einflusses einzelner Kampagnenereignisse wie Werbespots oder TV-Debatten. Schoen rät aber dazu, diese Einflusschancen auf politische Einstellungen nicht zu überschätzen.[10]
Einstellungen und ihre Veränderungen bilden allerdings nur eine Vorstufe tatsächlichen Wahlverhaltens. Letztendlich entscheidend ist ihre Transformation in Bezug auf die Beteiligung an Wahlen sowie die Stimmabgabe zugunsten einer Wahlalternative. Wirkungen des Wahlkampfs in Hinsicht auf diese beiden Größen klassifiziert Schoen in Anlehnung an Lazarsfeld et al. in einer 9-Felder-Matrix, welche jeweils den Prozess zwischen der zu Beginn des Wahlkampfs bestehenden Wahlabsicht und der am Wahltag realisierten beschreibt.
Tabelle 1 : Klassifikation von Effekten auf das Wahlverhalten[11]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zu Beginn der Wirkungsforschung in den USA konnten insbesondere Stabilisierungs- und Aktivierungseffekte des Wahlkampfs nachgewiesen werden, wohingegen Konversions- und Demobilisierungseffekte kaum gefunden wurden. Die daraus abgeleitete Praxisempfehlung im Rahmen des Denkens in starken sozialstrukturellen Milieus bestand daher in der Fokussierung des Wahlkampfs auf die ohnehin zugeneigten Wähler. Ähnliche Muster wurden auch in Untersuchungen neueren Datums, z.B. für die Bundestagswahl 1990 belegt. Insbesondere die Bedeutsamkeit von Aktivierungseffekten kann Auswirkungen auf der aggregierten Ebene des Wahlergebnisses nach sich ziehen, da mit ihnen eine Verschiebung der Verteilung der Präferenzanteile für Parteien in der Gesamtbevölkerung einher geht. Auch auf der Ebene einzelner Ereignisse konnten für Deutschland Effekte begrenzter Dauer nachgewiesen werden, etwa für Fernsehdebatten. Insgesamt, so konstatiert Schoen, komme es aber auf eine klug zusammengesetzte Kampagne an, um möglichst beständige Wirkungen zu erzielen.[12] Der Einfluss des Wahlkampfs auf die Wahlbeteiligung konnte in vielen Fällen als positiv bestätigt werden, ohne dass sich allzu dramatische Effekte belegen ließen. Hypothesen, die einen negativen Zusammenhang formulierten, konnten aber entkräftet werden. Ein Beitrag zur Mobilisierung konnte für persönliche Kontakte, insbesondere zwischen Wahlhelfern und Bürgern, belegt werden.[13]
3 Wahlkampf
Manfred G. Schmidt definiert den Wahlkampf als „die programmatischen, organisatorischen und publizistisch-kommunikativen Bestrebungen von Einzelkandidaten oder kandidierenden Organisationen, z. B. politischen Parteien, die auf die Informierung und Mobilisierung der Wahlberechtigten und Gewinnung von Wahlberechtigten, insbesondere die Beeinflussung ihrer Stimmabgabe zugunsten des Kandidaten in einer Phase konzentrierter Werbung kurz vor einer Wahl oder Abstimmung gerichtet sind.“[14]
Diese Definition unterscheidet damit zwischen drei Gestaltungsdimensionen von Wahlkampf sowie drei Zieldimensionen. Hinsichtlich der Gestaltung kann zwischen
- der inhaltlichen und programmatischen Dimension,
- der organisatorischen Dimension und
- der (publizistisch-) kommunikativen Dimension
differenziert werden.[15] Die Untersuchung der Gestaltungsdimensionen des Wahlkampfs, insbesondere die organisatorische und kommunikative, ist ein vor allem in der Kommunikationswissenschaft behandeltes Thema. Aus Perspektive der Politikwissenschaft interessieren hingegen vor allem die Auswirkungen des Wahlkampfs auf das Wahlverhalten. In dieser Hinsicht ist es also hilfreich, sich in Bezug auf die möglichen Wirkungen an den Zieldimensionen zu orientieren.
Die Ergänzung der Definition von Wahlkampf um eine zeitliche Dimension fällt schwer, da diese in hohem Maße abhängig vom jeweiligen politischen System ist. Schmidt schreibt dazu: „Im engeren Sinne meint Wahlkampf eine zeitlich begrenzte Periode von wenigen Wochen oder Monaten vor dem eigentlichen Wahltermin. In Ländern mit einer sehr großen Zahl von Wahlen zwischen den nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen beginnt die Wahlkampfperiode mitunter bereits am Tag nach der nationalen Wahl.“[16] Für den in dieser Arbeit zu untersuchenden Bundestagswahlkampf 2009 ist als Spezifikum zu berücksichtigen, dass sich dieser unmittelbar an die am 07. Juni stattgefundenen Wahlen zum Europäischen Parlament anschloss und das Thema Wahlkampf auf nationaler Ebene somit außergewöhnlich lange im Fokus der Öffentlichkeit stand, weil ein Wahlkampf praktisch fließend in den nächsten überleitete. Für das weitere Vorgehen bedarf es einer sinnvollen Abgrenzung des Bundestagswahlkampfs 2009. Generell ist die zeitliche Eingrenzung von Wahlkampfperioden problematisch, da zwar ihr Ende mit dem Wahltag selbst eindeutig zu bestimmen ist, ein offizieller Starttermin jedoch nicht existiert.[17] Aus pragmatischen Überlegungen heraus wird in dieser Arbeit der Wahlkampfauftakt nicht zeitlich exakt festgelegt. Da die Fragen, mit denen die Bürger im Rahmen der für diese Arbeit als Datengrundlage bestimmten Datensätzen der GLES konfrontiert wurden, einen ausdrücklichen Bezug zum Bundestagswahlkampf 2009 herstellen, wird angenommen, dass sich die Antworten auch auf diesen beziehen und die Befragten bewusst zwischen Europa- und Bundestagswahlkampf differenzierten. Zwar ist anzunehmen, dass nicht jeder Befragte in Rückerinnerung explizit unterscheiden konnte, ob er beispielsweise das Wahlplakat einer Partei im Rahmen der Europa- oder der Bundestagswahl wahrgenommen hat, jedoch ist es unmöglich die getätigten Angaben im Nachhinein zu hinterfragen.
3.1 Zieldimensionen des Wahlkampfs
Im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit soll das Augenmerk zunächst auf die Manfred G. Schmidts Definition von Wahlkampf entnommenen Zieldimensionen gerichtet werden. Demnach können Wahlkampfbestrebungen auf die
- Information und
- Mobilisierung von Wahlberechtigten sowie
- auf die Beeinflussung ihrer Stimmabgabe gerichtet sein.[18]
Es lohnt sich, die Zieldimensionen hinsichtlich ihrer Implikationen einmal genauer zu betrachten. Die Information der Wahlberechtigten bedeutet offensichtlich die Vermittlung von politischen Inhalten und Standpunkten und dient der Bereitung einer Informationsgrundlage für die Wahlentscheidung. Als finales Ziel kann in der Regel aber nur die Stimmabgabe des Wählers zugunsten der wahlkämpfenden Partei betrachtet werden. Die Information der Wählerschaft muss also als die Schaffung einer, für die eigene Partei möglichst günstigen, Entscheidungsgrundlage verstanden werden, auf welcher aufbauend sich die Stimmabgabe des Wählers vollzieht.
Unter Mobilisierung wird im Kontext konventioneller Formen der politischen Partizipation die Beteiligung an Wahlen, also in Abgrenzung zur Wahlenthaltung oder Nichtwahl, verstanden.[19] Ist die Mobilisierung von Wahlberechtigten ein Ziel des Wahlkampfes, so ist damit gemeint, dass diese zum Vollzug des Wahlakts bewegt werden, sich also an der Wahl beteiligen sollen. Prinzipiell kann sich das Ziel der Mobilisierung auf die Gesamtheit der Wahlberechtigten beziehen. Wird jedoch eine spezifische Parteiperspektive eingenommen, so ist einleuchtend, dass sich die Mobilisierung auf diejenigen beziehen muss, welche ohnehin zur Wahl der jeweiligen Partei neigen. Es gilt in diesem Fall das Wählerpotenzial, also insbesondere diejenigen, die in einem engen Identifikationsverhältnis zu einer Partei stehen, in zählbare Stimmen zu transformieren.
Das Primärziel des Wahlkampfes ist die Beeinflussung der Stimmabgabe der Wahlberechtigten. Während es bei den eigenen potenziellen Wählern gilt, diese zur Wahlbeteiligung zu animieren, bedeutet dies bezüglich der Wähler ohne Bindung an eine Partei und der potenziellen Wählerschaft konkurrierender Parteien, deren Stimmabgabe im eigenen Interesse zu beeinflussen. Da das Wahlziel für eine Partei in aller Regel der Erhalt einer möglichst hohen Stimmenzahl sein muss, ergibt sich, dass eine Beeinflussung im Idealfall in Richtung einer Stimmabgabe für die eigene Partei erfolgen sollte. Die Beschaffenheit des Wahlkampfs als strategische Situation macht die Zielerreichung jedoch nicht alleinig von den eigenen Maßnahmen abhängig, sondern bedeutet, dass der letztendliche Output auch ein Resultat des Wahlkampfs und der Ziele der übrigen Akteure darstellt.[20]
Für diese Arbeit soll die Beeinflussung der Stimmabgabe zu aus Parteiensicht eigenen Gunsten als das Primärziel von Wahlkampfkommunikation angenommen werden, auch wenn es Argumente gibt, dass dieses nicht in jedem Fall die alleinige Realität abbildet.[21] Darüber hinaus ist zu unterstreichen, dass mit dieser Annahme die Sichtweise einer Partei als quasi monolithische Organisation eingenommen wird, die selbstverständlich eine unterkomplexe Darstellung der Realität bedeutet. Die unter der Organisationsbezeichnung Partei zusammengefassten Individuen können durchaus von der Parteilinie abweichende Motivationskonstellationen während des Wahlkampfs verfolgen, bis hin zur Möglichkeit, die Niederlage des eigenen, ungeliebten Spitzenkandidaten herbeiführen zu wollen.[22] In dieser Arbeit empfiehlt es sich jedoch mit der Argumentation auf der Organisationsebene der Partei als eine ihre eigenen Interessen verfolgende Institution zu bleiben.
3.2 Wahlkampf aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive
Bevor im nachfolgenden Kapitel eine Beschreibung der Bundestagswahl 2009 und ihres Wahlkampfs den Einstieg in das Erkenntnisobjekt dieser Arbeit markiert, werden zunächst noch einige generelle Erkenntnisse zum Wahlkampf aus der Kommunikationswissenschaft präsentiert, die eine Idee von dessen aktuellem Entwicklungsstand vermitteln sollen.
Weitgehende Einigkeit in der Kommunikationswissenschaft besteht über den idealtypischen Entwicklungspfad, welchen die Gestaltung der Wahlkämpfe begleitend zum Prozess der Modernisierung beschritten hat. Bestimmendes Element für die Einteilung in drei Phasen, abgebildet in Tabelle 2, ist der technische Fortschritt, der zu den Übergangszeitpunkten jeweils neue Wege der politischen Kommunikation eröffnete. Für den Übergang zwischen vormoderner und moderner politischer Kommunikation prägend ist demnach der Aufstieg des Fernsehens, der eine Ausrichtung anhand der spezifischen Anforderungen dieses Mediums erforderte. Der Zeitpunkt der Etablierung von fernsehgerechten Wahlkampfstrategien wird zu Beginn der 1960er verortet. Der US-Präsidentschaftswahlkampf 1960 zwischen Kennedy und Nixon wird in der Regel als erster Wahlkampf moderner Art betrachtet. Die Wahlkämpfe vormoderner Art stützten sich im Gegensatz dazu auf die zu dieser Zeit verfügbaren Printmedien sowie vor allem auf persönliche Kontakte von Parteimitgliedern und potenziellen Wählern. Ein zweiter Einschnitt in der Entwicklung der Wahlkampfkommunikation wird mit dem Beginn der 1990er Jahre gesehen, als Resultat einer Diversifizierung der Angebote im Bereich der Telekommunikation (Computer, Internet, Ausdifferenzierung des Senderangebots im TV). Die qualitative Neuerung an dieser immer noch andauernden postmodernen Phase der politischen Kommunikation besteht in der Möglichkeit der zielgerichteten und zielgruppenspezifischen Adressierung potenzieller Wähler. Der Präsidentschaftswahlkampf Bill Clintons 1992 kann als erster Exponent dieses neuen Wahlkampftyps verstanden werden.[23] Die alternative Bezeichnung „professionell“ anstelle von „postmodern“ entspringt der Beobachtung, dass eine erfolgreiche multimediale Kampagnenführung mit dem Engagement von jeweils spezialisierten externen Beratern und Dienstleistern einhergeht.[24]
Neben der Erweiterung der technischen Möglichkeiten haben auch Veränderungen in der Sozialstruktur zur Modifikation der Wahlkampfkommunikation beigetragen. Die tendenzielle Auflösung traditioneller sozialer Milieus und die damit verbundene Schwächung von Parteibindungen machen zunehmend erforderlich, Wähler nicht nur in den angestammten Wählerschaften der Parteien zu mobilisieren, sondern auch neue Wählergruppen zu umwerben und zu diesem Zweck auf marketingähnliche Strategien zurückzugreifen.[25]
Keinesfalls sollte die Phasenabfolge jedoch im Sinne einer vollständigen Ablösung eines Wahlkampftyps durch seinen Nachfolger verstanden werden. Vielmehr bedeutet die Entwicklung infolge technologischer Veränderung die Ergänzung des bisherigen Repertoires der Wahlkampfführung.[26] So bedeutet ein postmoderner oder professioneller Wahlkampf ja keineswegs, dass auf vormoderne (z.B. Informationsstände, Kundgebungen) oder moderne (TV-Spots, Fernsehdebatten) Wahlkampfinstrumente verzichtet wird. Es hat sich lediglich die Bandbreite der verfügbaren und möglicherweise der Schwerpunkt der eingesetzten Instrumente verändert. In diesem Sinne veranschaulicht die nachfolgende Tabelle die allgemein anerkannte Differenzierung in drei Phasen, indem sie deren jeweils spezifische Charakteristika zu benennen versucht.[27]
Tabelle 2 : Phasenmodell politischer Kommunikation[28]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Für den weiteren Verlauf der Arbeit wird die Darstellung der Entwicklungsphasen noch von Nutzen sein, da sie als Orientierungsraster für eine Klassifizierung unterschiedlicher Wege der Wahlkampfkommunikation dienen kann. Die Bundestagswahl 2009 ist eindeutig dem Typus des postmodernen/professionellen Wahlkampfs zuzuordnen, ohne das bestritten werden kann, dass der wesentliche Baustein der Wahlkampfstrategien der Parteien die mediale Aufmerksamkeit über das Fernsehen darstellt.
4 Bundestagswahlkampf 2009
4.1 Ausgangslage und Wahlergebnis
Die Ausgangslage für die Bundestagswahl 2009 stand besonders günstig für die Unionsparteien und Angela Merkel, die in der Bevölkerung großen Zuspruch erhielt. Hingegen sah das Ausgangsszenario für die SPD, welche aus den Europawahlen im Sommer mit nur 20,8% der Stimmen hervorging, eher düster aus. Die Hoffnung für den Bundestagswahlkampf lag daher darauf, dass es gelingen würde, einen Stimmungswechsel herbeizuführen.
Allerdings ließen die im Vorfeld der Wahl durchgeführten Sonntagsfragen bereits recht klare Vorstellungen über die letztendlich im Wahlergebnis zu erwartenden Kräfteverhältnisse der Parteien sowie die Zusammensetzung des Parlaments zu.[29] Das bereits nach dem Wahlergebnis auf Augenhöhe bei der Bundestagswahl 2005 beobachtete Auseinanderdriften der Umfragewerte von Union und SPD setzte sich mit einem recht beständigen Vorsprung der Unionsparteien von im Mittel 10 bis 15 Prozentpunkten auch während des Wahljahres 2009 fort. Von der Politik der Großen Koalition schienen auch die kleineren Parteien zu profitieren, von denen im Verlauf des Wahljahres keiner wesentlich weniger als 10% der abgegebenen Stimmen prognostiziert wurden. Dementsprechend bestand bereits im Vorfeld der Wahl eine hohe Gewissheit darüber, dass im neu zusammentretenden Bundestag erneut fünf Fraktionen vertreten sein würden. Fraglich schien allein noch die Zusammensetzung der Regierungskoalition.
Eine auf der Medienanalyse von Fernsehnachrichtensendungen der GLES aufbauende Auswertung der im Wahlkampf vermittelten Koalitionsoptionen fasst die möglichen Szenarien zusammen:
„Zunächst fällt auf, dass im Wahlkampf 2009 recht wenig über Koalitionssignale in den Fernsehnachrichten berichtet wurde – sei es aufgrund von Selektionsprozessen in den Medien oder weil die Parteien mit solchen Signalen geizig umgehen. Lediglich für die schwarz-gelbe Koalition kam es immer wieder zu der klaren wechselseitigen Zusicherung, die gemeinsame Koalition nach der Wahl realisieren zu wollen. Eine Fortführung der Großen Koalition wurde von der CDU eher abgelehnt, während die SPD sie eher befürwortete. Die Sozialdemokraten sprachen sich zudem hin und wieder auch für eine Ampel-Koalition aus, die dagegen von der FDP vehement abgelehnt wurde. Die Grünen stellten sich deutlich gegen eine Jamaika-Koalition. Überraschend ist, wie wenige Koalitionssignale in Hinblick auf Rot-grün und Rot-rot-grün berichtet wurden.“[30]
Angesichts der Konfiguration der Einstellungen der Parteien gegenüber den unterschiedlichen Koalitionsvarianten, erschien also die entscheidende Frage des Wahlabends lediglich zu sein, ob es für eine schwarz-gelbe Koalition reichen würde. Andere Koalitionsoptionen spielten nur für den Fall anderslautender Wahlergebnisse eine Rolle. Unter diesen wäre möglicherweise die Bildung einer erneuten Großen Koalition die nächstliegende gewesen
Abbildung 1 : Ergebnis der Bundestagswahl 2009 sowie Gewinne und Verluste[31]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Wahlergebnis bestätigte im Wesentlichen die Umfrageergebnisse. Im Gegensatz zu den vorherigen zwei Bundestagswahlen blieben durch die Umfragen nicht vorhergesehene, kurzfristige Stimmenzugewinne bei der SPD aus, so dass diese lediglich 23% der Stimmen für sich gewinnen konnte und mit einem Verlust von 11,2 Prozentpunkten gegenüber 2005 zum größten Wahlverlierer wurde. Die Unionsparteien als Partner in der Großen Koalition erlitten hingegen nur Stimmenverluste äußerst geringen Ausmaßes. Die Sozialdemokratie hatte den Schaden aus der Großen Koalition also weitgehend allein zu tragen.[32]
Die kleineren Parteien FDP, die Grünen und auch die Linke konnten im Gegenzug jeweils um einige Prozentpunkte zulegen. Der größte Gewinner unter diesen war die FDP, die mit 14,6% ein außergewöhnlich gutes Wahlergebnis einfuhr und somit einen großen Beitrag zur Realisierung eines schwarz-gelben Bündnisses leistete.
4.2 Wahlkampf
Die weitgehende Abwesenheit eines für den Wahlkampf dominierenden Themas rückte die Spitzenkandidaten in das Zentrum des Wahlkampfs. Die CDU konzentrierte ihren Wahlkampf stark auf die Person der Kanzlerin, die sich, nicht zuletzt durch ihren präsidialen Regierungsstil und ihr Auftreten auf der Bühne der internationalen Politik, in der Bevölkerung einer hohen Zustimmung erfreute.[33]
Die Sozialdemokraten setzten auf Angriffe auf die Kanzlerin, die Profilierung Frank-Walter Steinmeiers als eigenen Kandidaten sowie dessen Deutschland-Plan, welcher für die Schaffung von vier Millionen Arbeitsplätzen sorgen sollte. Daneben wurde durch die Positionierung in spezifischen Themenfeldern, wie der Atompolitik, versucht, Unterschiede zur Union aufzuzeigen.[34] Der stark an den Spitzenkandidaten ausgerichtete Personenwahlkampf trug jedoch nicht dazu bei, die Erfolgsaussichten der SPD für die Bundestagswahl zu erhöhen. Das persönliche Ansehen Merkels konnte von Steinmeier nicht erreicht werden, so dass die Wahl über die Kandidatenfrage kaum gewonnen werden konnte.[35]
Eines der dominierenden Themen der Wahlkampfphase war sicherlich die Wirtschafts- und Finanzkrise, die zu diesem Zeitpunkt zwar schon in vollem Gange war, deren Auswirkungen die Menschen aber zu großen Teilen noch nicht erreicht hatten. Da die Krise in einer Hypothekenkrise auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt ihren Ursprung nahm und erst vermittelt über das internationale Finanzsystem die deutsche Realwirtschaft bedrohte, bestand für die Regierungsparteien kaum die Gefahr, für die ökonomischen Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht zu werden, sondern lediglich die Aufgabe des Krisenmanagements. Eine eindeutige Zuordnung der Verantwortlichkeit konnte sich aufgrund der annähernden Gleichberechtigung der Regierungsparteien sowie der Aufteilung der krisenrelevanten Ressorts jedoch kaum ergeben.[36] Das gemeinsame Krisenmanagement der Regierungsparteien sowie deren Unschuld am Ausbruch der Krise bedeuteten die Nichteignung des Themas für eine Polarisierung im Wahlkampf durch die Parteien. Erwartungen über die zukünftige ökonomische Entwicklung waren bei der Wahlentscheidung vieler Bürger jedoch auch ohne deren Thematisierung im Wahlkampf von Bedeutung. Insbesondere die Führungsrolle Merkels ließ für viele die Aussicht bestehen, dass die Union in der Lage sein würde, die aus der Krise resultierenden Probleme zu lösen.
Während die großen einen kaum inhaltlich geführten Wahlkampf praktizierten, konzentrierten sich die kleineren Parteien auf spezifische Themen, mit denen sie einerseits ihr Parteiprofil betonten, andererseits auch auf Stimmungen in der Bevölkerung zu reagieren versuchten. Die starke Konzentration der CDU auf Angela Merkel wurde durch eine eigene Themensetzung der CSU ergänzt. Der Wunschkoalitionspartner der Unionsparteien, die FDP, forcierte den Wahlkampf unter den Schlagworten „Wohlstand für alle“ und „Steuersenkungen“. Der Atomausstieg war ein zentrales Thema im Wahlkampf der Grünen, die Linke versuchte insbesondere durch die Forderung nach einer Beendigung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr Wähler zu gewinnen.[37]
5 Vorüberlegungen zur Wirkungsweise des Wahlkampfs
Nachdem in den vorherigen Kapiteln der Wahlkampf definiert und seine Entwicklungsphasen im Groben skizziert wurden, wird es im Kapitel 7 um die Integration des Wahlkampfes in die klassischen Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens gehen. Zuvor müssen allerdings noch einige Vorüberlegungen und Erkenntnisse als Vorbereitung für diesen nächsten Schritt dargelegt werden, deren Gültigkeit unabhängig von der Wahl des theoretischen Rahmens gegeben ist.
Aus dem Entwicklungsphasenmodell der politischen Kommunikation ist bereits deutlich geworden, dass Massenmedien und multimediale Kommunikationswege den interpersonellen Kontakt als bedeutendstes Instrument der Wahlkampfkommunikation abgelöst haben. Neben den politischen Akteuren (Parteien und Kandidaten), als Initiatoren von Wahlkampfkommunikation, sowie der (wahlberechtigten) Bevölkerung, als vor allem passiven Rezipienten, treten die Massenmedien als vermittelnde Instanz zwischen Empfänger und Adressaten politischer Kommunikation in Erscheinung.[38] Die Zusammenhänge verdeutlicht das von Brettschneider entwickelte „Wahlkampf-Dreieck“, welches in vereinfachter Form die Vermittlungswege von Wahlkampfkommunikation wiedergibt.[39] Wahlkampfkommunikation kann die Wähler als Empfänger von Botschaften entweder durch den direkten Kontakt zu Parteien und Politkern erreichen oder aber vermittelt über journalistische Bearbeitung, welche durch die Selektion berichtenswerter Sachverhalte sowie Interpretationen einen eigenständigen Einfluss auf die auf diesem Wege vom Bürger empfangenen Informationen ausüben können.
Abbildung 2 : Das Wahlkampfdreieck[40]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eine komplexere Darstellung der Zusammenhänge ergibt sich, wenn man die Parteien als Akteure sowie die Wirkungsweisen der Medien ein wenig weiter ausdifferenziert, wie dies in Abbildung 3 der Fall ist. In diesem Falle zeigt sich, dass die Organisation und Strategiefestlegung vor allem Angelegenheit der Parteiführung sowie der Kandidaten ist, wohingegen der organisationale Unterbau der Parteien als Instrument der Umsetzung der Kommunikationsstrategie fungiert. Wahlkampfkommunikation kann auf dem Wege des direkten Kontakts an das Wahlvolk herangetragen werden oder über die Medien. Bei diesen kann zwischen Free Media und Paid Media unterschieden werden. Während Free Media bedeutet, dass die von den Parteien ausgesandten politischen Informationen nach den Spielregeln des Journalismus verarbeitet und damit in mehr oder minder starkem Umfang seinen Deutungsmustern unterworfen sind, bezeichnet Paid Media Formen über die Medien transportierter, jedoch nicht deren Deutung unterworfene Kommunikation. Darunter fallen u.a. Werbespots und Anzeigenkampagnen in Zeitschriften, prinzipiell aber alle Wahlkampfinstrumente, für welche Parteien bezahlen und deren Inhalt sie selbst bestimmen können. In dieser Hinsicht können auch Postwurfsendungen, Plakate, E-Mails und Internetauftritte der Parteien hinzugezählt werden.[41]
Der größte Vorteil von journalistischer Berichterstattung gegenüber bezahlten Inhalten besteht in der durch die Adressaten als ausgeprägter empfundenen Objektivität, die sich auf der Idee von unabhängigen Medien aufbaut. Nachteilig ist dementsprechend die fehlende Kontrolle der politischen Akteure über Art und Umfang der Berichterstattung. Zur teilweisen Kompensation dieses Defizits bedienen sich die Parteien zunehmend professioneller Formen des Wahlkampfmanagements, mit denen versucht wird, durch Anpassung des eigenen Wahlkampfs an die Logik des Mediensystems, etwa durch spezielle Inszenierungen von Events, in eingeschränktem Maße einen Deutungsvorschlag für die Berichterstattung anzubieten.[42]
Abbildung 3 : Ein Modell der Wahlkampfkommunikation[43]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Folgende Tabelle versucht die Unterscheidung von Kommunikationswegen und die historische Phaseneinteilung der politischen Kommunikation zu integrieren, um damit eine Typisierung der verschiedenen Kommunikationsmittel herzustellen, die für nachfolgende Analysen als gedanklicher Hintergrund dienen kann.
In die Tabelle einbezogen wurden, über die bereits benannten Vermittlungswege hinaus, auch der über private soziale Kontakte vermittelte Fluss politischer Informationen. Es sprechen aber gleich mehrere Argumente dafür, diesen Kommunikationsweg in dieser Arbeit aus der Betrachtung auszuschließen. Es kann hinterfragt werden, wie hoch denn der Anteil eigenen Beitrags der die Information vermittelnden Person ist. Es liegt nahe zu vermuten, dass diese sich hauptsächlich aus persönlich wahrgenommenem Kontakt zu politischen Akteuren oder der eigenen Medienrezeption speist, aus welcher sich dann mit subjektiven Verzerrungen und Meinungen angereicherte Aussagen ergeben. Ein anderes Argument gegen die Einbeziehung der persönlichen Kontakte in die Analyse im Rahmen dieser Arbeit ergibt sich aus praktischen Zwängen: Das vorhandene Datenmaterial liefert keinerlei Möglichkeit den politischen Informationsfluss über Privatpersonen nachzuvollziehen, geschweige denn, ihren Inhalt zu erfassen.
Tabelle 3 : Typisierung von Wahlkampfinstrumenten nach Phase der Wahlkampfkommunikation und Vermittlungsmedium
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zum Abschluss der Überlegungen zu den Kommunikationswegen verbleibt eine Entscheidung darüber zu fällen, wie mit der Unterscheidung von Paid und Free Media im Verlauf der Arbeit umzugehen ist. Eine analytische Trennung kann auf zwei verschiedenen Unterscheidungskriterien basieren: Technischer Übertragungsweg oder Kontrolle über den Inhalt. So werden Paid Media als Instrumente des Wahlkampfs zwar technisch über die von den Medien bereitgestellten Kommunikationskanäle an den Empfänger adressiert, für ihren Inhalt sind aber ausschließlich die Parteien verantwortlich. Wenn gemäß Brettschneiders Wahlkampfdreieck die redaktionelle Bearbeitung das entscheidende Kriterium des medial vermittelten Wahlkampfs ist, so sind Paid Media ihrem Charakter gemäß als direkter Kontakt zwischen politischem Akteur und Bürger zu klassifizieren. Diese Einteilung wird auch für diese Arbeit gewählt. Wenn in der Folge also mit direkten Parteikontakten argumentiert wird, so sind darin ausdrücklich auch Fernsehspots und Zeitschriftenanzeigen eingeschlossen. Sind aber explizit Parteikontakte gemeint, welche einen persönlichen Kontakt zwischen einem Parteivertreter und einem Bürger bezeichnen, so wird dies ausdrücklich so formuliert. Eine derartige Einteilung ist auch sinnvoll, da die als Paid Media bezeichneten und der vormodernen Phase zuzuordnenden Wahlkampfinstrumente oft mit dem persönlichen Kontakt zwischen Parteivertretern und Bürgern verbunden werden. Beispielhaft sei der Besuch eines Wahlkampfstandes, auf welchem dem Interessierten Flyer und anderes Informationsmaterial überreicht werden, genannt.
5.1 Selektive Wahrnehmung
Bevor es an die Integration des Wahlkampfs in die klassischen Modelle geht, seien noch einige generelle Erkenntnisse zur Wahrnehmung, Verarbeitung und Wirkung von Wahlkampfkommunikation geschildert. Der Rezipient dieser ist nämlich nicht als unbeschriebenes Blatt zu verstehen, sondern besitzt bereits zuvor Werthaltungen und Einstellungsmuster, die für den Umgang mit den im Wahlkampf vermittelten Informationen bedeutsam sind, indem sie selektiv wirken.[44]
Ohne einen allzu großen Vorgriff auf die Erklärungsmodelle zu machen, kann erwähnt werden, dass derartige Vorprägungen in allen Ansätzen eine Rolle spielen und sich gar nicht allzu sehr in ihrer Begründung unterscheiden. Immer bedingen persönliche Faktoren, wie etwa das soziale Milieu, die Einstellungen der Eltern oder eigene Erfahrungen eine Vorprägung, welche mit spezifischen politischen Präferenzen und Vorstellungen eines politischen Idealzustands einhergehen und dafür verantwortlich sind, dass gleiche Informationen mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit wahrgenommen und verschieden bewertet werden.
Diese Selektion findet auf zwei Ebenen statt. In erster Instanz werden „ so weit wie möglich – nur solche Inhalte ausgewählt […], die mit bereits vorhandenen politischen Orientierungen übereinstimmen.“[45] Rezipienten besitzen also einen Wahrnehmungsfilter, der zur Folge hat, dass nicht alle Informationen die gleiche Chance besitzen, einen bestimmten Empfänger zu erreichen. Angewendet auf den medial vermittelten Wahlkampf bedeutet dies, dass der Transport von Inhalten auch von der Kompatibilität von Rezipient und Medium abhängig ist. Dabei ermöglichen nicht alle Medienformate die Praxis der selektiven Zuwendung in gleichem Maße. Für das Fernsehen sind die Chancen, sich mit den eigenen Einstellungsmustern widersprechenden Informationen zu entziehen, eher gering. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass sich auch die Formate eines Mediums in dieser Hinsicht unterscheiden. Beispielsweise eröffnen Fernsehdebatten kaum die Chance, die Redebeiträge des Gegenkandidaten systematisch zu ignorieren.[46] Beiträge, die sich hingegen einer spezifischeren Thematik oder auch einer Partei im Besonderen widmen, können zielsicherer ausgewählt oder umgangen werden. Die Argumentation für die Medien ist selbstverständlich in gleicher Weise auch für direkte Kontakte zwischen Parteien und Bürgern gültig. Jeder der bereits an einem Wahlkampfstand versucht hat, Infomaterial zu verteilen, wird diese Erkenntnis bestätigen können. In diesen Fällen kann schon das Logo einer Partei eine Ablehnungshaltung hervorrufen, welche die Übermittlung des eigentlichen Inhalts nahezu unmöglich macht.
Auf einer zweiten Ebene geht es um die Frage, in welchem Effekt die Vorprägung des Empfängers in Bezug auf die Verarbeitung einer Information resultiert. Selektivität kann hier zur Umdeutung von Informationen führen, die auf diesem Wege in das bestehende Überzeugungssystem eingegliedert oder als Bestätigung bestehender Auffassungen, etwa einer Abneigung gegenüber einer Partei, verstanden werden.[47]
Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen können also nach einhelliger Auffassung in der Wissenschaft abhängig von den Einstellungsmustern des Wahlberechtigten sein. Daher ist es naheliegend, dass sich aus selbigen auch unterschiedliche Chancen für Wahlkampfwirkungen ergeben. Aufgrund selektiver Zuwendung und potenzieller Uminterpretation von Informationen erreichen die Informationen diejenigen Wahlberechtigten am klarsten und unverfälschtesten, deren Vorprägung dieses begünstigt, die aber auch bereits ein eher festgefügte Einstellungsmuster besitzen. Dort kann der Wahlkampf allerdings nicht viel mehr als mobilisierend oder verstärkend wirken. Für die Bearbeitung der in dieser Arbeit erstellten und zu überprüfenden Hypothesen ist es also wichtig, die Folgen selektiver Informationswahrnehmung und verzerrter Interpretation aufgrund von Vorprägungen nicht außer Acht zu lassen.
5.2 Poltisches Interesse und Politisches Wissen
Die Überlegungen zu Vorprägungen sind in Zusammenhang mit den Erkenntnissen von Converse und vor allem Zaller zu sehen.[48] Letzterer führt die „political awareness“, also die Aufmerksamkeit die dem politischen Geschehen entgegengebracht wird, als bedeutsamen Faktor in die Meinungsforschung ein. Er stellt fest, dass die durchschnittliche politische Aufmerksamkeit sich auf niedrigem Niveau bewegt, es jedoch bedeutsame Unterschiede zwischen den Menschen gibt, die bei der Abfrage von Meinungen berücksichtigt werden müssen, da sie eine großen Einfluss auf die Fähigkeit zur Bildung fundierter Meinungen haben. Unterschiede in der „political awareness“ haben eine Schlüsselfunktion in Bezug auf die Wirkungschance politischer Informationen, die einem umgekehrt U-förmigen Verlauf folgt. Wähler mit hoher politischer Aufmerksamkeit haben eine hohe Expositionswahrscheinlichkeit gegenüber Wahlkampfkommunikation, aber sie sind auch dazu in der Lage, die neuen Informationen kritisch zu bewerten und dadurch tendenziell weniger leicht beeinflussbar. Personen am anderen Ende des Spektrums kommen kaum mit politischen Informationen in Kontakt und können mangels Erreichbarkeit ebenso wenig beeinflusst werden. Am ehesten durch Wahlkampfkommunikation beeinflussbar sind Menschen in der Mitte der Verteilung, die ausreichend politische Aufmerksamkeit zur Informationsaufnahme und gleichsam nicht das umfassende Wissen besitzen, das zur Bildung einer fundierten Meinung benötigt wird.[49]
Bei Zaller entfaltet politische Aufmerksamkeit ihre Wirkung im Zusammenspiel mit den Vorprägungen – Werte und Ideologien – von Personen. Dabei entscheidet die politische Aufmerksamkeit in erheblichem Maße darüber, ob letztere in Bezug auf ein politisches Thema aktiviert werden können.[50] „The impact of people’s value predispositions always depends on whether citizens possess the contextual information needed to translate their values into support for particular policies or candidates, and the possession of such information can […] never be taken for granted.”[51] Eine Operationalisierung der „political awareness” sollte nach Zaller in Form der Abfrage objektivierbaren Faktenwissens erfolgen.[52] Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit auch von politischem Wissen gesprochen. Dieses ergibt sich jedoch nicht aus dem luftleeren Raum, sondern ist von einigen anderen Größen abhängig. Dazu gehört zum einen die formale Schulbildung, aber auch das politische Interesse, welches sich vermittelt über die Rezeption politischer Themen, etwa in Qualitätszeitungen, auf das politische Wissen positiv auswirkt.[53] „Wer sich für Politik interessiert, informiert sich und weiß etwas darüber, und wer etwas weiß und versteht, interessiert sich in der Folge erneut für Politik; wer dagegen nichts weiß und nichts versteht, wird sich bald von der Thematik abwenden.“[54]
Die plausible Annahme einer derartigen Wechselwirkungsbeziehung macht es jedoch schwierig zu entscheiden, ob politisches Wissen oder politisches Interesse als erklärende Variable in Modellzusammenhänge aufgenommen werden sollen. Zwar besteht eine beträchtliche Abhängigkeit untereinander, jedoch beinhalten beide jeweils wiederum Erklärungsanteile anderer Größen. Nur so ist zu erklären, warum eine nicht so vernachlässigende Anzahl Wahlberechtigter sehr starkes politisches Interesse bekundet, faktisch jedoch keinerlei oder kaum objektive Kenntnisse über politische Strukturen verfügt, während andere umfassende Kenntnisse besitzen, aber keinerlei Interesse angeben. Bei ersteren mag die soziale Erwünschtheit eine Rolle spielen, bei letzteren möglicherweise der formale Bildungshintergrund.
Zur möglichst guten Abbildung politischer Aufmerksamkeit im Sinne Zallers erscheint daher eine Kombination beider Variablen durch Faktoranalyse ein Lösungsweg zu sein, der in dieser Arbeit gewählt wird. Diese hat den Vorteil, insbesondere die Gemeinsamkeiten beider Variablen gut durch den Faktor abbilden zu können, also in den Fällen bei denen hohes politisches Interesse mit großem politischen Wissen oder geringes Wissen mit geringen Kenntnissen einhergeht. Die unerwünschten Kombinationen aus hohem bekundeten Interesse und niedrigem Wissen sowie hohem Wissensstand und niedrigem Interesse erzielen hingegen deutlich schwächere, gemäßigtere Ausprägungen auf dem Faktor. So wird die politische Aufmerksamkeit, wie dieser Faktor als Variable ab nun genannt werden wird, in den Fällen gemäßigt ausfallen, in denen zwar die Wissensvoraussetzungen aber nicht das Interesse für Politik besteht oder aber prinzipiell großes Interesse bekundet wird, die Wissensvoraussetzungen für ein Verständnis aber nur in unbefriedigendem Ausmaß gegeben sind. Die Variable politische Aufmerksamkeit korreliert stark mit dem politischen Wissen (Pearsons r = 0,812) sowie mit dem politischen Interesse (r = 0,813). Sie wird nachfolgend als Faktor in Erklärungsmodellen verwendet und soll die gleichzeitige, meist redundante Verwendung ihrer Ursprungsvariablen unnötig machen, welche bei Bedarf selbstverständlich immer noch zur Verfügung stehen.
[...]
[1] Vgl. http://www.gles.eu/index.htm (13.02.2012)
[2] Vgl. Schoen 2005: S. 504
[3] Vgl. Kellermann von Schele 2009: S. 35-46
[4] Vgl. Schoen 2005: S. 504
[5] Vgl. Maier 2007: S. 389
[6] Vgl. Schoen 2005a: S. 522
[7] Schoen 2005a: S. 522
[8] Vgl. Schoen 2005a: S. 528-529; vgl. ausführlicher zu diesem Zusammenhang Kapitel 5.1
[9] Vgl. Schoen 2005a: S. 530-531
[10] Vgl. Schoen 2005a: S. 533-534
[11] Vgl. Schoen 2005a: S. 535; in Anlehnung an Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1944: S. 102;
Die Einbeziehung von Prädispositionen geht auf Lazarsfeld et. al. zurück und beschreibt die sozialen und kulturellen Vorprägungen bzw. im Sinne einer Parteiidentifikation auch Einstellungen, welche einen Bürger in ein positives Verhältnis zu einer Partei setzen und welcher er besonders nahe steht.
[12] Vgl. Schoen 2005a: S. 539
[13] Vgl. Schoen 2005a: S. 537
[14] Schmidt 2010: S. 878
[15] Vgl. Kellermann von Schele 2009: S. 17
[16] Schmidt 2010: S. 878
[17] Vgl. Schoen 2005a: S. 512-513
[18] Vgl. Schmidt 2010: S. 878
[19] Vgl. Hoffmann & Zinterer 2010: S. 391
[20] Vgl. Schoen 2005: S. 506; Eine Ausrichtung des Wahlkampfs an den Interessen der Partei muss daher nicht in jedem Fall ausschließlich die explizite Stimmenabgabe zugunsten der Partei verfolgen, sondern es ergeben sich Variationen, welche sich aus der strategischen Situation heraus begründen lassen. Ein Beispiel stellen sogenannte Leihstimmen dar, die sich infolge der 5-%-Hürde als Spezifikum des deutschen Wahlrechts ergeben. Konstellationen dieser Art sind denkbar, wenn eine Partei befürchtet, dass der Wunschpartner zur Bildung einer Regierungskoalition Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Parlamentseinzugs aus eigener Kraft haben könnte. In diesem Fall würde versucht werden, das Wahlverhalten der eigenen Anhängerschaft in Richtung der Stimmabgabe für den gewünschten Koalitionspartner zu beeinflussen. Eine explizite Aufforderung zu diesem Wahlverhalten stellt allerdings den absoluten Ausnahmefall dar. Es ist aber denkbar, dass sich derartige Leihstimmenabwägungen im Kalkül der Wähler implizit ergeben, indem sie Umfragewerte und Koalitionsaussagen zu einer Deutung der Situation zusammenfassen.
[21] Theoretisch ist eine abgeschwächte Form dieser Zielvorgabe denkbar. Zwar ist der Erhalt möglichst vieler Stimmen das logische Ziel einer Wahlkampagne, was aber mit diesem Ergebnis anzufangen ist, ergibt sich erst aus der Übersetzung der Wählerstimmen in die Zusammensetzung des zu wählenden Parlaments. Letztendlich gilt es also, den Anteil der eigenen Partei an der Gesamtzahl der Parlamentssitze zu maximieren. Die Maximierung der eigenen Stimmenzahl wirkt damit in die gleiche Richtung wie eine Minimierung der Stimmenzahl der konkurrierenden Parteien. Hinsichtlich der Beeinflussung des Wahlverhaltens von Wahlberechtigten ist es aus Sicht einer Partei theoretisch von Vorteil, sollte eine Beeinflussung in Richtung der Stimmabgabe für die eigene Partei nicht gelingen, zu erreichen, dass die Stimme eines Wählers zumindest nicht für irgendeine oder eine spezifische Konkurrenzpartei abgegeben wird. Aufgrund der aus demokratietheoretischer Sicht normativen Erwünschtheit hoher Wahlbeteiligung ist dies allerdings eine rein theoretische Überlegung, da ein expliziter Aufruf zur Nichtwahl wohl kaum auf ein positives Echo in der Öffentlichkeit stoßen würde. Zudem ist auch aus pragmatischer Hinsicht die Beeinflussung der Stimmabgabe zugunsten der eigenen Partei wohl am einfachsten realisierbar.
[22] Vgl. Schoen 2005a: S. 505
[23] Vgl. Kellermann von Schele 2009: S. 33-35
[24] Vgl. Gibson & Römmele 2001: S. 34-35
[25] Vgl. Schoen 2005a: S. 517
[26] Vgl. Gibson & Römmele 2001: S. 33
[27] Vgl. Kellermann von Schele 2009 S. 33-35
[28] Modifiziert nach Gibson & Römmele 2001: S. 34, Plasser 2003: S. 24 und Kellermann von Schele 2009: S. 35
[29] Vgl. http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm (2009)
[30] Byztek, Gschwend, Huber, Linhart & Meffert 2011: S. 16
[31] http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_09/ergebnisse/bundesergebnisse/grafik_stimmenanteile_99-2.html (2009)
[32] Jung, Schroth & Wolf 2010: S. 5
[33] Vgl. Jung, Schroth & Wolf 2010: S. 37
[34] Vgl. Thiel 2010: S. 171-173
[35] Vgl. Jung, Schroth & Wolf 2010: S. 37
[36] Vgl. Beckmann, Trein & Walter 2011: S. 232-234
[37] Vgl. Thiel 2010: S. 175-176
[38] Vgl. Schoen 2005a: S. 505
[39] Vgl. Brettschneider 2005a: S. 20
[40] Brettschneider 2005a: S. 20
[41] Vgl. Schoen 2005a: S. 509-510
[42] Vgl. Schoen 2005a: S. 510-511
[43] Schoen 2005a: S. 507
[44] Vgl. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1944; Festinger 1957 zit. nach Maier & Faas 2005: S. 79
[45] Maier & Faas 2005: S. 79-80
[46] Vgl. Noelle-Neumann 1971 zit. nach Maier & Faas 2005: S. 80
[47] Vgl. Maier & Faas 2005: S. 80
[48] Vgl. Converse 1962;Zaller 1992 zit. nach Maier & Faas 2005: S. 81
[49] Vgl. Zaller 1992: S. 16-21
[50] Vgl. Zaller 1992: S. 22-25
[51] Zaller 1992: S. 25
[52] Vgl. Operationalisierung in Kapitel 9.9
[53] Vgl. Westle 2005: S. 494
[54] Westle 2005: S. 509
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- Tobias Wolfanger (Autor:in), 2012, Lohnt sich der Wahlkampf?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202982